Saturday 24 December 2022

SCHEIBENGERICHT 11: Excavated Shellac – An Alternate History of the World's Music

Eine Welt- und Zeitreise in Schellack auf den Spuren traditioneller Musikstile 




 

cw. Die Erfindung der Schellackplatte und des Grammophons Ende des 19. Jahrhunderts bildete den Startschuss für einen Wettlauf um die Märkte der Welt. Da die jungen Unternehmen der neuen Phonobranche sowohl Schallplatten als auch Abspielgeräte herstellten und verkaufen wollten, entstand innerhalb kürzester Zeit ein enormer Bedarf an Musik aus allen Teilen der Welt, die in Schellack gepresst als Kaufanreiz für Grammophone dienten. Die Hersteller hatten die Erfahrung gemacht, dass die Plattenspieler mit Schallhorn nur dann gekauft würden, wenn ein attraktives Schallplattenangebot bestand mit Musikstilen, die vor Ort populär waren. 

 

Diese Einsicht setzte eine Schar von Aufnahmeteams in Bewegung, die nun rund um den Globus reisten, um mit lokalen Musikern Einspielungen zu machen. Die Wachsplatten, auf denen die Musik „eingeritzt“ wurde, ließen nur Stücke mit einer Länge von ein bisschen mehr als drei Minuten zu, was vielen Musikstilen Beschränkungen auferlegte.

 

Die “recording trips”, ob in Afrika, Asien, der Karibik oder Lateinamerika, gingen selten reibungslos vonstatten. Fremde Sprachen und Gebräuche, andere Mentalitäten und Gepflogenheiten, extremes Klima, politische Wirren sowie Transportprobleme konnten die Aufnahmeexkursionen zu einem Alptraum werden lassen. Starke Nerven waren gefragt. 


Bildmaterial: Sammlung C. Wagner





Neben der englischen Grammophone Company, aus der später His Master Voice (HMV) wurde, den amerikanischen Labels Victor und Columbia war die deutsche Firma Odeon aus Berlin einer der Hauptakteure auf dem neuen internationalen Phonomarkt. 1906 enthielt allein der Odeon-Katalog bereits 11000 Titel mit außereuropäischer Musik, was eine Ahnung von der explodierenden neuen Branche gibt.

 

Das amerikanische Schallplattenlabel Dust to Digital, hat sich seit seiner Gründung 1999 mit mustergültigen Wiederveröffentlichung historischer „Weltmusik“ einen exzellenten Ruf erworben, woran die aktuelle Veröffentlichung nahtlos anknüpft.

 

Die aus vier CDs bestehende Box ist unter dem Titel „Excavated Shellac“ erschienen, was ausgegrabenes oder geborgenes Schellack bedeutet. Sie enthält – bunt gemischt – hundert Titel aus aller Welt, aufgenommen zwischen 1907 und 1967, dem Zeitpunkt, als Schellackplatten nur noch in ein paar periphären Regionen in Gebrauch waren. 



Jonathan Ward heisst der Sammler, aus dessen Kollektion die raren Schellacks stammen und der für die exzellente Zusammenstellung und die detaillierten Kommentare verantwortlich zeichnet. Eine bewundernswerte Fleißarbeit von höchster Qualität! Unter den einhundert Aufnahmen finden sich etliche Perlen, während man sich für ein paar Länder, etwa die Schweiz und Deutschland, musikalisch aufregendere Titel gewünscht hätte.


Die 4-CD-Box wird ergänzt von einem 185 Seiten dicken Booklet, das mit Plattenhüllen, Fotos und Plakaten wunderbare illustriert ist und gleichzeitig zu jedem Titel so viel Information liefert, wie man sich nur wünschen kann. Das verwandelt die Produktionen in eine musikalische Welt- und Zeitreise, eine spannende Abenteuerfahrt in abseits gelegene musikalische Gegenden und Regionen längst vergangener Epochen.  


Excavated Shellac – An Alternate History of the World's Music (Dust To Digital)

Thursday 22 December 2022

Simon Steiner: Die transkulturelle Reise einer jüdischen Melodie

 Gastautor Simon Steiner

"Ich will eine Prinzessin"

 Die transkulturelle Reise einer jüdischen Melodie 

Musik ist immer grenzüberschreitend und verbindet. Das Rembetiko "Ich will eine Prinzessin" ist ein Beispiel für die Koexistenz unterschiedlicher Interpretationen in verschiedenen Ländern, in die sich der Song einbürgerte. 

 Schellack des Rembetiko Hits (Kounadis-Archive, alle Rechte)


Die wunderschöne Melodie des Rembetiko - Hits "Ich will eine Prinzessin", von Panagiotis Tountas, Piräus, 1936, wurde bereits 1910 von der jüdischen Klezmer-Band Stupels Vilna Orchestra in Vilna, Litauen, als Schlussteil des "Karaite Medley" aufgenommen, später auf dem Balkan und dem östlichen Mittelmeerraum, den USA und wieder in Griechenland. Der Musikwissenschaftler und Pianist Nikos Ordoulidis vom Eastern Piano Project verfolgte die Reise dieser wandernden Melodie anhand einer historischen Diskographie und konnte gemeinsame Einflüsse und originelle Veränderungen nachweisen.

Panagiots Tountas (Kounadis-Archiv, alle Rechte)


 Die Reise ist unendlich, denn Melodien sind grenzenlos. Es ist selbstverständlich, dass in Zukunft noch weitere Aufnahmen zu unserem Thema auftauchen werden. Wer sich in die Arrangements hinein fühlt, hört die Besonderheiten und Gemeinsamkeiten der Melodie und versteht, warum sie Musiker aus Litauen, Serbien, der Ukraine, der Slowakei, Griechenland, Ungarn und Rumänien ermutigen, die Melodie in ihr lokales Repertoire aufzunehmen und zu verwerten. Auch der Gast-Autor dieser Zeilen hat sich mit Alain Domagala aus Marseille und dem Stuttgarter Stromraum-Tandem "eo" an die Prinzessin gewagt.

Mehr zum Thema: 

link zu diablog, in deutscher und griechischer Sprache:

https://diablog.eu/kuenste/musik/ich-will-eine-prinzessin-die-reise/

link zur Griechenland Zeitung:

https://www.griechenland.net/nachrichten/kultur/32257-%E2%80%9Eich-will-eine-prinzessin%E2%80%9C-eine-spurensuche

Sunday 11 December 2022

SCHEIBENGERICHT 10: Bernd Konrad & Ilja Ruf unterwegs nach 'Utopia'

Perfekte musikalische Partnerschaft

 

Ein neues Album von Jazzaltmeister Bernd Konrad gibt Einblicke ein sein ungebremstes kreatives Schaffen

 

Ilja Ruf und Bernd Konrad (Foto: Milena Winter)

 

cw. Bernd Konrad ist der bekanneste Jazzmusiker, den Konstanz hervorgebracht hat. Dass der pensionierte Jazzprofessor noch lange nicht zum alten Eisen gehört, beweist er gerade mit einem neuen Album namens „Utopia“ (Label: GP Arts), das er mit einem jungen „shooting star“ der aktuellen Szene aufgenommen hat: dem 21-jährigen Pianisten Ilja Ruf. Die Einspielung bietet aufregenden Jazz der modernen Art und spannt den Bogen zwischen lyrisch-verträumt bis aufbrausend-wild.

 

1947 in Schleswig-Holstein geboren, kommt Bernd Konrad mit fünf Jahren nach Südwestdeutschland, wo sich die Familie 1952 in Konstanz niederläßt. Von seinem Onkel erhält er ersten Klarinetten- und Saxofonunterricht. Als Teenager tritt sein musikalisches Talent deutlich hervor. Im Konstanzer Jazzclub „Seekuh“ hört er internationale Solisten und eifert ihnen nach. 

 

Mit 21 Jahren erhält Konrad den Jugend-Solistenpreis des Bodensee-Symphonie-Orchesters. Er beginnt ein Klarinettenstudium an der Musikhochschule in Stuttgart, dem ein Kompositionsstudium folgt. Ab 1970 gewinnt er mit eigenen Bandprojekten etwa der „Jazzcrew Stuttgart“ mehr und mehr Profil. Eine fruchtbare Zusammenarbeit entwickelt sich Ende der 1970er Jahre mit dem Saxofonisten Hans Koller. 

 

Später ist Konrad in das Bandprojekt „Südpool“ involviert, wobei er auch maßgeblich zur Gründung des Jugendjazzorchesters Baden-Württemberg beiträgt. Von 1986 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2012 war der Saxofonist Leiter der Jazzabteilung der Stuttgarter Musikhochschule. 2001 wird er für sein Lebenswerk  mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit seiner Pensionierung lebt Bernd Konrad wieder in Konstanz.

 

Die Einspielung mit Ilja Ruf ist das Ergebnis einer spontanen Session, bei der die spontane Improvisation im Mittelpunkt steht. Dabei greifen die beiden weit aus und ziehen alle Register ihres Könnens. Da wird im Innenraum des Klaviers mit Verfremdungseffekten gearbeitet, während Bernd Konrad sein Saxofon überbläst und den Atem augenblicklich in Musik verwandelt. Manchmal geht bei Konrads Saxofonspiel Jazzgott John Coltrane durch den Raum, während Ruf Bach’sche Barockkontrapunktik anklingen läßt oder sich in romantischem Tastenspiel ergeht. In diesem aufregenden Duo gehen Jugend und Alter eine perfekte musikalische Partnerschaft ein, wobei sich der Jazz in eine Brücke zwischen den Generationen verwandelt. 


Ilja Ruf und Bernd Konrad (Youtube)


 

Monday 5 December 2022

Charlie Watts Biographie

 Freie Sicht auf den Drummer

 

Eine Biographie zeichnet den Rolling Stones-Schlagzeuger Charlie Watts (1941 - 2021) als eigenwilligen Musiker, der durch Zufall zum Superstar wurde

 


 

cw. Ob Ringo Starr der beste Drummer der Welt sei, wurde John Lennon einst gefragt. „Er ist nicht einmal der beste Drummer der Beatles“, gab er schnoddrig zur Antwort. Charlie Watts, dem Schlagzeuger der Rolling Stones, wäre ein solcher Affront nicht widerfahren, genossen seine Trommelkünste doch bei seinen Bandkollegen höchsten Respekt. Watts galt als Idealbesetzung für die Stones. Selbstverständlich war er nicht der beste Schlagzeuger der Welt, so wenig wie Mick Jagger der beste Sänger oder Keith Richards der beste Gitarrist war. Doch darauf kam es nicht an. Von größerer Relevanz war, dass Charlie Watts‘ Schlagzeugspiel Charakter besaß. Es strahlte Persönlichkeit und Individualität aus, ebenso wie Mick Jaggers Gesang und Keith Richards‘ Gitarrenspiel. Und genau diese Mischung aus Eigenheiten machte den unverwechselbaren Stil der Rolling Stones aus. Dazu trug Charlie Watts einen beträchtlichen Anteil bei. 

 

Watts war ein Jazzdrummer, der sich in eine Rockband verirrt hatte. Schon in jungen Jahren, als er auf einer kleinen Marschtrommel, die er aus einem alten Banjo gebastelt hatte, zur Musik aus dem Radio trommelte, hießen seine Idole nicht Elvis Presley oder Bill Haley, sondern Charlie Parker und Gerry Mulligan. Watts eiferten deren Drummern nach, ob Max Roach oder Chico Hamilton. Mit vierzehn schenkten ihm seine Eltern ein Schlagzeug zu Weihnachten. Wenn der Teenager nun samstagabends zum Auftritt einer Jazzband ging, plazierte er sich direkt am Bühnenrand mit freier Sicht auf den Drummer, um ihm genau auf die Finger zu schauen. Auf diese Art brachte sich „Charlie Boy“ das Trommelspiel bei.


Charlie Watts mit der Bluesband von Alexis Korner



 

Nach ersten öffentlichen Auftritten mit traditionellen Jazzformationen trat Watts der Gruppe von Alexis Korner bei, die als Karrieresprungbrett für viele junge Blues-Musiker fungierte. Durch Korner lernte er Brian Jones, Mick Jagger und Keith Richards kennen, die 1962 versuchten, ihn in ihre Band zu holen. Doch Watts, der nach einem Designstudium als Grafiker arbeitete, zögerte. Er wollte den Rolling Stones nur beitreten, wenn sie ihm mindestens zwei regelmäßige Auftritte pro Woche (und damit ein einigermaßen gesichertes Einkommen) garantieren konnten. Erst als es besser lief, gab Watts seinen Brotberuf auf und ließ sich auf das Abenteuer einer Profimusikerkarriere ein.

 

Obwohl Watts lieber Jazz gespielt hätte, entwickelte er rasch ein tieferes Verständnis für die Rhythmen von Rock ‘n‘ Roll und Rhythm & Blues. Er ersetzte den Swing des Jazz durch einen schnörkellosen Backbeat, der den Songs Rückgrat und Klarheit verlieh. Sein „Timing“ kam dem eines Uhrwerks gleich. In relaxter Manier spielte Watts immer leicht hinter dem Beat, wobei er sich an den Drummern der schwarzen Soulmusik orientierte, denen ein prägnanter Groove immer wichtiger war als technische Raffinesse. Watts brachten den schwarzen „Funk“ in die weiße Rockmusik. Er entwickelte eine Spieltechnik, die den Beat auf der Snare-Drum nicht wie üblich mit einem Schlag auf der Hi-hat verdoppelte, wodurch der Akzent deutlicher hervortrat. 




 

Das Rockstar-Leben war seine Sache nicht. Watts hasste Tourneen und nahm auch nur selten an den berüchtigten After-Show-Exzessen der Stones teil. Immer elegant gekleidet mit makellosen Manieren war er ein Gentleman alter Schule. Ganz „Family Man“ war er zeitlebens mit derselben Frau verheiratet, die er bereits vor seiner Zeit mit den Stones kennengelernt hatte. Bis auf eine düstere Periode in den 1980ern ließ der Vegetarier seine Finger von Drogen.

 

Um Auszeiten der Stones mit musikalischen Aktivitäten zu füllen, hob er Ende der 1980er Jahre ein Jazzquintett und eine Bigband aus der Taufe. Mit ihnen wollte er noch einmal in die Atmosphäre der Jazzclubs seiner Jugend eintauchen. Als er mit seiner Combo im „Blue Note“ in New York auftrat, ging ein lebenslanger Wunschtraum in Erfüllung. 


Charlie Watts mit Alexis Korner, Jack Bruce und Ian Stewart auf dem North Sea Jazz Festival 1979




 

Eine Sucht wurde Watts nie los. Er sammelte historische Drumkits, nicht irgendwelche, sondern die seiner Jazzidole, ob von Kenny Clarke, Max Roach, Joe Morello oder Sonny Greer, dem langjährigen Swingmeister von Duke Ellington. Über hundert hat er für viel Geld bei Auktionen erstanden, mit denen er gerne ein Schlagzeug-Museum eingerichtet hätte. Gelegentlich zog sich Watts in die langen Gänge seines Lagerraums zurück, wo die Trommeln in ihren Originalboxen in den Regalen lagerten, um Zwiesprache mit den Rhythmusgöttern der Vergangenheit zu halten.




 

Der englische Musikjournalist Paul Sexton zeichnet die bewegte Biographie des Drummers, der durch Zufall zum Superstar wurde, detailgenau nach, die sich allerdings durch die vielen Lobpreisungen von Freunden und Musikerkollegen passagenweise wie eine Hagiographie (=Heiligenerzählung) liest. Ein kritischeres Lektorat und eine gestraffte Edition hätte dem Buch gutgetan. 

 

Paul Sexton: Charlie’s Good Tonight. Die autorisierte Biographie von Charlie Watts. Mit einem Vorwort von Mick Jagger und Keith Richards384 Seiten mit zahlreichen Fotos in Schwarzweiß. Ullstein Paperback;

 

 

Thursday 1 December 2022

Nachruf auf Fredy Studer

Singende Trommeln

 

Zum Tod des Schweizer Schlagzeugers Fredy Studer und seinem Vermächtnis: einem neuen Album von OM zum 50. Bandjubiläum


Phall Fatale mit Bandleader Fredy Studer (links)

 



 

cw. Dass Schlagzeuger Gitarristen als Vorbild wählen, ist ziemlich außergewöhnlich: Doch für den Drummer Fredy Studer war Jimi Hendrix Idol und Lehrmeister. Der Schweizer sah in dem schwarzen Gitarristen einen Außerirdischen, der die Musik in andere Umlaufbahnen schoß und ihm deshalb lebenslang als Leitstern diente. Denn darauf zielte auch der Luzerner Trommler ab: die Grenzen der Musik hinauszuschieben. Dieser Vision folgte er mit viel Energie und Drive in unterschiedlichen Formationen, bei spontanen improvisatorischen Begegnungen und mit seinen eigenen Gruppen – dabei immer Hendrix‘ Gitarre im Ohr.

 

1967 war Studer noch keine zwanzig Jahre alt, da bebte die musikalische Welt. Rebellion lag in der Luft. Konzerte der Schweizer Sauterelles oder der Kinks aus England weckten in dem Teenager das Bedürfnis, selber Musik zu machen. Da er schon ein paar Jahre Basler Trommeln gelernt hatte, lag Schlagzeug nahe. Auf einer Reise nach London hörte er im Marquee Club Jimi Hendrix – ein Erweckungserlebnis! Studer eiferte nun Hendrix-Drummer Mitch Mitchell nach, durch den er auf Jazzdrummer Elvin Jones aufmerksam wurde und so bei John Coltrane landete. Durch die Schweizer Pianistin Irène Schweizer kam er zur freien Improvisation. Studer hatte seine Bestimmung gefunden: Mit Elan erkundete er von nun an das magischen Dreieck zwischen Rock, modernem Jazz und freiem Spiel. 

 

Als Nachfolger von Pierre Favre bei der Cymbal-Firma Paiste in Nottwil kam Studer mit vielen berühmten Drummerkollegen in Kontakt. Er fachsimpelte mit John Bonham von Led Zeppelin über den Klang verschiedener Gongs und testete mit Carl Palmer (Emerson Lake & Palmer) unterschiedliche Ride-, Splash- und Crash-Becken. Studer war im Trommelhimmel. 

 

Im Wiebelfetzer Workshop spielte er zum ersten Mal mit internationalen Jazzgrößen wie John Tchicai zusammen. Mit OM, 1972 gegründet, gelang dann in den 1970er Jahren der Durchbruch. Die aufregende Musik des Quartetts zwischen elektrischem Rock und ekstatischem Jazz machte in ganz Europa Furore, was Studer in die erste Liga der internationalen Drummer katapultierte. Bei manchen Konzerten war als Stargast der brasilianische Perkussionist Dom Um Romão von Weather Report dabei. Nach zehn Jahren war die kreative Energie aufgebraucht und OM fiel in einen langen Dornröschenschlaf.

 

Mit extremer “Hardcore Chambermusic” verschob Studer im Trio mit Hans Koch (Saxofon, Klarinetten) und Martin Schütz (Cello) abermals musikalische Barrieren. Zwischen ohrenbetäubendem Lärm und andächtiger Stille wogte die Musik. Mit seiner eigenen Gruppe Phall Fatale kehrte er in den letzten Jahren zu Groove und Songformat zurück. Der soulige Gesang der beiden Sängerinnen wurde von verschlungenen Linien der beiden Bassisten umspielt, während der Bandleader für die komplexen Rhythmuspattern sorgte. Bewußt suchte Studer den musikalischen Anschluß an die junge Generation mit einem abgeklärten, coolen Stilmix, der aus den Katakomben der Clubkultur zu kommen schien. Der Drummer behielt den Finger am Puls der Zeit. Vor zehn Jahren erweckte er mit seinen drei Bandkollegen OM zu neuem Leben, nicht um nostalgisch die siebziger Jahre aufzuwärmen, sondern Musik auf der Höhe der Zeit zu machen.


Koch-Schütz-Studer mit Shelley Hirsch in New York (Foto: Promo)



 

2018 legte Studer mit „Now’s The Time“ ein aufregendes Soloalbum vor, für das er sich noch einmal mächtig ins Zeug legte. Die Einspielung war die in vierzehn Kompositionen geronnene Essenz eines bewegten Trommlerlebens, mit der er demonstrierte, was auf dem Schlagzeug alles möglich ist! 

 

Im März dieses Jahres ging OM ins Studio von Thomas Gabriel in Stalden im Kanton Obwalden, um pünktlich zum 50jährigen Gründungsjubiläum ein neues Album aufzunehmen. Unter der Regie des prominenten Produzenten Roli Mosimann (u.a. The Young Gods, Faith No More) entstand dabei in einer Woche eine bemerkenswerte Platte, die in vielen Farben schimmert, ganz im Hier und Jetzt steht und von Hardcore-Rock bis zu elegischen Klangerkundungen reicht. „ElectroAcoustiCore“ lautet die Zauberformel. 


Fredy Studer Soloauftritt 2017 auf dem Jazzfestival Schaffhausen (Youtube)




Studer steuerte zu der Einspielung eine Komposition bei, die sich wie die Stücke seines Soloalbums aus einem speziellen Klangphänomen heraus entwickelt und kaum hörbar beginnt. Nur ganz allmählich formen sich die piepsenden Pfeiftönen und Zirpgeräuschen zu einem steten Beat, der mehr und mehr anschwillt. Die Gitarre steigt mit schillernden Akkorden ein, das Saxofon bläst Spalttöne, während Studer seine Metallbecken in Stellung bringt. Dann reißt die Musik plötzlich ganz unvermittelt ab und versinkt in einer unheimlichen Stille, die nur zaghaft wieder von Klängen okkupiert wird. Hören wir zerhackstückelte Radarmeldungen? Kriegslärm in der Ferne? „Im Unterholz von Kiew“ hat Studer sein Stück genannt. So politisch kann Jazz sein!

 

Im Herbst stand mit OM eine mehrwöchige Tournee im Terminkalender, an der Studer nicht mehr teilnehmen konnte. Er verstarb am 22. August im Alter von 74 Jahren nach kurzer schwerer Krankheit. Gerry Hemingway wird für ihn auf dem Schlagzeugstuhl sitzen.

 

Neuerscheinung:

OM – 50 (Intakt)


Hörprobe:




Sunday 27 November 2022

Bilanz nach 37 Jahren – Patrik Landolt von INTAKT Records geht in den Ruhestand

Im Jazzland unterwegs 

 

Patrik Landolts Buch über Intakt Records, eines der profiliertesten Jazzlabels der Gegenwart

 

Patrik Landolt (Foto: Manuel Wagner) 


 

cw. Im Frühjahr 2022 ging nach 37 Jahren und 388 CD-Veröffentlichungen Patrik Landolt, der Häuptling der Zürcher Plattenfirma Intakt Records, in Ruhestand und übergab den Staffelstab an seine jüngeren Kollegen. Landolt hatte das Label aus dem Nichts aufgebaut und zu einer der angesehensten Marken des Jazz weltweit entwickelt, wobei es ihm gelang, Ensembles wie das London Jazz Composers‘ Orchestra, Trio 3, Tom Rainey Obbligato, Borderland Trio oder Punkt.Vrt.Plastik sowie Musiker und Musikerinnen wie Lucas Niggli, Sylvie Courvoisier, Ingrid Laubrock, Aruán Ortiz, Alexander Hawkins und James Brandon Lewis als feste Größen auf der internationalen Jazzszene zu etablieren. 

 

Darüber hinaus hat Landolt das Lebenswerk der Schweizer Freejazz-Altmeisterin Irène Schweizer über die Jahre betreut und auf zahlreichen LPs und CDs festgehalten. Beim Zürcher Taktlos- und Unerhört-Festival war Schweizer regelmäßig zu hören, an deren Gründung Landolt ebenfalls maßgeblich beteiligt war. Zweifellos: Ohne den „mover and shaker“ aus der Schweiz stünde der moderne bis avantgardistische Jazz um einiges ärmer da. 

 

Jetzt hat der Intakt-Betreiber, der zuvor bei der Zürcher WochenZeitung (WoZ) als „Redaktor“ im Kulturteil arbeitete, eine 120seitige „Chronik“ mit dem Titel „Unterwegs im Freien“ verfasst, in welchem er in 121 „Etappen“ und illustiert von zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos seine Zeit bei Intakt noch einmal Revue passieren läßt: Erinnerungsarbeit, retrospektive Reflexion und Dokumentation in einem. 

 

Dazu gehören spannende Anekdoten, die einen Blick hinter die Kulissen des Jazzbetriebs gewähren und viel über die innere, manchmal nervenaufreibende Arbeit eines Labels verraten, von der der Fan nicht das Geringste mitbekommt. Etwa die kleine Episode vom Auftritt des Trios Keïta-Brönnimann-Niggli beim Intakt-Festival im Londoner Vortex-Club im Frühjahr 2017, wo zuerst Visa-Probleme, dann Verkehrschaos und ein verpasster Flug, dann ein Unfall mit dem Taxi auf dem Weg vom Flughafen den Auftritt fast verhindert hätten, wobei Ali Keïta am Ende doch noch lachend und sekundengenau auf der Bühne stand. Spannend auch die Episode, die sich während des Besuchs bei Cecil Taylor in New York ereignete, als Landolt einen Tag später voll in die Katastrophe der 9/11-Anschläge geriet und tagelang im Hotel ausharren musste, bevor es ihm endlich gelang, einen Rückflug in die Schweiz zu buchen.

 

Als wesentlich erwies sich über all die Jahre, dass Intakt mit der Zeit ging, letztlich auch die Freejazz-Ästhetik der Anfangsjahre hinter sich ließ und sich auf neue Experimente und musikalische Abenteuer einließ. Nur mit offenen Ohren und der Hand am Puls der Zeit kann heute ein Jazzlabel überhaupt noch bestehen. Landolt hat das beispielhaft vorgemacht. Chapeau!

 

Patrik Landolt: Unterwegs im Freien. Zürich, New York, London, Berlin. 37 Jahre Musikproduktion von Intakt Records. Versus Verlag, 2022. E 21,90


Interview mit Patrik Landolt:


https://christophwagnermusic.blogspot.com/2022/03/patrik-landolt-vom-zurcher-intakt-label.html

Tuesday 22 November 2022

Fundsachen: Rudi Mahall über Tradition und Avantgarde

Tradition und Avantgarde


Mein Blick nach vorn ist der nach hinten

"Überhaupt ist mein Musikgeschmack eher rückwärtsgewandt, will meinen, mein Blick nach vorn ist der nach hinten. Und gute Musik ist ja, das weiß wohl jeder, zeitlos. Noch zeitloser als zeitlos ist Duke Ellington, da würde ich mich niemals mehr von meiner 'The Complete Works from 1924 – 1947" trennen wollen. 40 CDs, das ist nicht nur modern, das ist extreme Avantgarde."

                                                    RUDI MAHALL, Klarinetten; In: Jazzpodium 11/2022 


Hörprobe:



Monday 21 November 2022

SCHEIBENGERICHT: Philip Zoubek Trio – Labyrinthus

SCHEIBENGERICHT 9 

Philip Zoubek Trio: Labyrinthus (WhyPlayJazz) 

 

Wertung: 4 von 5 

 

cw. Mit dem ehemaligen Can-Drummers Jaki Liebezeit (1938-2017) teilte der Pianist Philip Zoubek im Kölner Stollwerk einen Übungs- und Proberaum. Obwohl die beiden konzeptionell nicht viel gemeinsam hatten, sind auf dem neuen Album von Zoubek doch mehr repetitive Rhythmusmuster zu finden als bei früheren Einspielungen. Und Repetition war eine von Liebezeits Spezialitäten. Färbte da musikalisch etwas ab?

 

Das ist nicht die einzige Verschiebung, die es in Zoubeks Musik zu verzeichnen gibt. Anstatt wie früher im kollektiven Triospiel weite Spannungsbögen zu improvisieren, enthält das Album ein Dutzend kürzerer Stücke, von denen das kürzeste gerademal etwas mehr als eine Minute lang ist. Bei den Titeln handelt es sich um musikalische Schnappschüsse die jeweils auf einem anderen Leitmotiv beruhen. Zoubek, der für alle Kompositionen verantwortlich zeichnet, gibt die Grundidee vor, die dann von ihm und seinen beiden Mitstreitern (David Helm, Baß und Dominik Mahnig, Schlagzeug) zur Entfaltung gebracht wird. Die Vision der drei ist eine Musik, die andere Wege geht, als die von Jazzpianotrios bisher vorgezeichneten.




Die Bandbreite der Kompositionen ist enorm: von monumental bis träumerisch, von experimentell bis ausnotiert und von dicht bis porös spreizt sich das Spektrum. Den Auftakt macht ein formidabler Kracher, der im Duktus einer Metal-Band bleischwer daherkommt. Mit soviel Wucht hat man selten ein Jazzpianotrio agieren gesehen. Dass Zoubek neben dem Klavier gleichzeitig auch Synthesizer spielt, erlaubt es ihm, mehr Druck zu entfachen, die Töne länger zu halten und zusätzlich noch elektronische Sounds und Geräuschschnipsel ins Klanggeschehen einzuspeisen. Dass das Album im großen Sendesaal des Deutschlandfunks in Köln aufgenommen wurde, verleiht dem Track zusätzlichen Raumklang, wobei der Hall das Powerstück noch mächtiger erscheinen läßt. 


Dem Eröffnungsstück schließt sich ein melodischer Track an, dessen Melodielinie sich wie eine Bergstraße kurvenreich windet und schlängelt, während sich mehr und mehr der Klang des Synthis in den Vordergrund schiebt. Nach der folgenden pointillistisch-experimentellen Improvisation ruft „The Ritual“ durch seine verschachtelten Rhythmuspattern die Erinnerung an Jaki Liebezeit wach. Zoubek spielt hier neben dem Synthi präpariertes Klavier, was dem Stück den Klang eines balinesischen Gamelans verleiht, wobei Baß und Schlagzeug synkopische Akzente setzen. Mit dieser Art Kontrastprogramm ist den dreien ein Album gelungen, das voller Überraschungen steckt und vom Willen zeugt, sich nicht länger auf ausgetretenen Pfaden bewegen zu wollen. 


Hörprobe:



Thursday 17 November 2022

Solistischer Jazz mit Émile Parisien

Transatlantischer Brückenschlag

 

Hochkarätiger Jazz mit dem Émile Parisien Ensemble beim Jazzclub Singen

 

Fotos: C. Wagner



 

cw. Émile Parisien ist einer der Musiker, der in den letzten Jahren dem französischen Jazz wieder zu Achtung auf dem internationalen Parkett verholfen hat. Der 40-jährige Sopransaxofonist aus Paris hat es zu einer derartige Reputation gebracht, dass er die hochkarätigsten Musiker aus dem Mutterland des Jazz für sein aktuelles „Louise“-Sextett gewinnen konnte. Neben dem Schlagzeuger Nasheet Waits, dessen Vater Freddie Waits schon ein renommierterJazzdrummer war, und dem Kontrabassisten Joe Martin ist es vor allem der Trompeter Theo Croker, der den Ton im Ensemble von Parisien bestimmt. Dass etliche der 200 Konzertbesucher im vollen Saal der Gems nur wegen Croker zum Auftritt kamen, kann nur vermutet werden.

 

Zusammen mit dem Italiener Roberto Negro am Piano und Parisiens Landsmann Manu Codjia an der E-Gitarre entwirft der Bandleader einen solistischen Jazz, der mit Kraft, Dynamik und Intensität daherkommt und trotzdem voller Komplexität ist, aber auch Momente subtiler Versonnenheit kennt. 




 

Der Auftritt begann lyrisch, ja fast meditativ, wobei Parisiens weiche Saxofontöne sich über einem Klangteppich aus schillernden Gitarrenakkorden erhoben. Mehr und mehr nahm die Musik an Fahrt auf, wobei das Muster, sich von einer ruhigen Elegie zu einem kraftvollen Power-Play zu steigern, mehrfach während des Abends zum Tragen kam. 

 

In beeindruckenden Solos demonstrierten die Musiker immer wieder ihre Klasse, wobei vor allem das Drumsolo durch eine atemberaubende Virtuosität beeindruckte, während sich der Pianist in Wilhelm-Busch-Manier absolut vorausgabte. Die Zugabe, eine Komposition von Theo Croker, entpuppte sich als modernstes Stück des Abends, das den Jazz in eine „Drone“-Musik minimalistischer Art verwandelte: Über einem konstante Dröhnen von Gitarrensounds, legten die Bläser ihre langen Töne, wobei die Gruppe in diesem Stück von einem Ensemble von Solisten zu einer einzigen Klangeinheit verschmolz.   






KULTURGESCHICHTE: LICHTWÄRTS im Fernsehen

Erkundungen ums Haus am Grünen Weg

Im SWR Fernsehen in der Sendung "Kunscht" lief ein fünfminütiger Beitrag über mein neues Buch, das die Lebensreformbewegung um 1900 im Südwesten zum Inhalt hat. Der Beitrag steht jetzt einen Monat in der Mediathek.

Hier der link:

https://www.swr.de/swr2/literatur/lichtwaerts-lebensreform-jugendbewegung-und-wandervogel-die-ersten-oekos-im-suedwesten-das-neue-buch-von-christoph-wagner-100.html


 


Wednesday 9 November 2022

KULTURGESCHICHTE: Lichtwärts! im Radio – Gesprächssendung

Aus Anlaß meiner Buchneuerscheinung 'Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880 – 1940)' wurde ich vom SWR2 zu einer Gesprächssendung eingeladen, die sich mehr auf die Musik konzentrierte, die im Umfeld dieser historischen Bewegungen praktiziert wurde. Die Sendung lief am Donnerstag, der 10. November 2022 (20:03 – 21:00 Uhr) in den 'Musikpassagen' und kann jetzt online gehört werden.

Hier der link:

https://www.swr.de/swr2/musik-jazz-und-pop/lebensreform-und-jugendbewegung-die-ersten-oekos-im-suedwesten-swr2-musikpassagen-2022-11-10-100.html



Sunday 6 November 2022

Mimi Parker (1967 -2022) verstorben

Ein Nachruf auf Mimi Parker, Songwriterin, Schlagzeugerin und Sängerin der amerikanischen Rockgruppe Low. 

Ich habe Mimi Parker und ihren Ehemann Alan Sparhawk zweimal länger interviewt, einmal im nordenglischen Halifax, wo sie im Münster auftraten, und ein andermal ein paar Jahre davor, das muß so um 1996 gewesen sein, in Sheffield. Damals traten sie in einem Programm zusammen mit Mercury Rev auf, und hatten ihre beiden kleinen Kids auf der Tour dabei. Sie waren ausgesprochen anregende Gesprächspartner, weil sie sich über Musik ungewöhnliche Gedanken machten und auch Komponisten wie Morton Feldman auf dem Radar hatten.


Der Artikel erschien vor 10 Jahren zum 20-jährigen Bandjubiläum: 


Die Entdeckung der Langsamkeit

 
Mit ihrem 10. Album feiert die Rockgruppe Low ihr 20-jähriges Bandjubiläum – produziert von Jeff Tweedy (Wilco) wirkt ihre alternative Popmusik immer noch wie ein Vademecum gegen Hektik und Streß 
 


 
cw. Der Bandname Low steht für “low speed” und “low volume”: Langsamkeit und Stille. Vor genau zwanzig Jahren gegründet, hat sich die alternative Rockband aus den USA einem Stil verschrieben, der wie ein Anachronismus in einer Welt des Überschalls wirken muss. Low machen Pop in Zeitlupe, Songs im Schneckentempo – Rockminimalismus! „Slow-Core“ sagt die Presse dazu, was als Gegensatz zu “Speed-Metal” zu verstehen ist. 
 
“Unser Sound stellt sich heute von selbst ein, wenn wir spielen. Früher war das anders: Da traten wir häufig bei Band-Wettbewerben zwischen einer Punk- und einer Grungeband auf. Es fühlte sich an, als ob wir gegen die Stimmung der Leute anspielten,“ erzählt Mimi Parker, Schlagzeugerin und Sängerin von Low. „Wir bekamen Panik-Attacken, weil wir leise und minimalistisch musizierten. Ich hatte oft das Gefühl, als ob jeder Knochen im meinem Leib zerplatzen würde. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Doch gelegentlich gab es eine magische Verwandlung. Die Zuhörer ließen sich auf unsere Musik ein.“
 
Mit der Zeit fanden Low ihr eigenes Publikum, das die ruhige Popmusik der Band als Vademecum gegen Hektik und Streß schätzen lernte. Denn Low nehmen sich bewußt zurück. Die Beschränkung auf das Allernotwendigste verwandelt ihre Songs in Miniaturen von fragiler Einfachheit. Ein anderes Zeitmaß wird etabliert. Durch die Entschleunigung nimmt der Zuhörer die Musik anders wahr, einzelne Worte und Töne gewinnen mehr Bedeutung. „Langsame Musik klingt leise am besten,“ weiß Mimi Parker. Und leise Musik bewirkt, daß das Publikum aufmerksamer zuhört. Die Stille funktioniert paradoxerweise wie eine Verstärkeranlage: Wenn man die Lautstärke zurückdreht, fangen die Ohren der Zuhörer zu wachsen an. “Als wir anfingen, wollten wir ganz bewußt minimalistische Musik machen. Wir spielten Nummern, die monolitisch und meditativ waren,“ erinnert sich Gitarrist Alan Sparhawk, Mimi Parkers Ehemann. „Ich war immer schon von dieser Ästhetik fasziniert. Das Geheimnis des Minimalismus ist: Je einfacher und leichter die Musik beim ersten Hören erscheint, desto mehr Tiefe entdeckt man, je vertrauter sie einem wird. Als Zuhörer wird man in das entsprechende Stück hineingezogen, was komplexere Kompositionen oft nicht schaffen. Der Minimalismus macht die kleinste Bewegung sehr groß.“ 



 
Mit ihrer sachten Rockmusik setzen Low einen Kontrapunkt gegen die Zeitkrankheit des “immer mehr und immer schneller”.  Hyperaktivität und Hysterie sind aus ihrer Musik verbannt, die eher wie ein Plädoyer für Muße und Kontemplation wirkt. Dabei fliehen sie jedoch nicht in eine schwülstige New Age-Esoterik. Vielmehr geben Bedächtigkeit und eine Ästhetik der Einfachheit die Richtung vor. Kargheit und Simplizität werden zum Ideal, der Wert des Weglassens neu entdeckt. Low macht Popmusik der gemächlichen Art.
 
Als wichtige Einflüsse nennen Low zwei Komponisten der E-Musik-Avantgarde. Der eine ist LaMonte Young - Urvater des Minimalismus. In den frühen Stücken seines Ensemble ‚Theatre of Eternal Music’, das u.a. von Terry Riley, John Cale und Tony Conrad gebildet wurde, waren schon Mitte der 60er Jahre langanhaltende bordunhafte Klänge bestimmend, sogenannte „Drones“, wie sie heute bei jungen Elektronikern wieder groß in Mode sind. 


Die andere Inspirationsquelle war Morton Feldman. Vor allem die frühe Piano-Stücke des 1987 verstorbenen Freunds von John Cage haben es den Musikern von Low angetan. Sie dehnen die Zeit. Zwischen den Tönen und Akkorden entfaltet sich eine wunderbare Spannung.  Dazu kommen Vorbilder aus der Popmusik. The Velvet Underground und die Beatles werden als erste genannt, wenn es um die Kunst des ‚Songwriting’ geht. Beide Bands verstanden es, ihre kleinen Songs in große Kunstwerke verwandeln, in denen die Gleichzeitigkeit von Einfachheit und Komplexität nicht als Widerspruch empfunden wurde.
 
Jetzt ist zum 20jährigen Bandjubiläum das zehnte Album von Low erschienen. Sein Titel: The Invisible Way. Produziert von Jeff Tweedy von Wilco, gehen Low ihren vor Jahren eingeschlagenen Weg konsequent weiter. Elf Songs enthält das Album, die alle voller Poesie sind und Texte mit Tiefgang besitzen, wobei die Melodien von einem einfühlsamen Harmoniegesang getragen werden. Eine gedämpfte Stimmung durchzieht die Musik. Nur gelegentlich wird etwas handfester zugepackt. Dann greift Alan Sparhawk kurz kräftig in die Saiten und läßt seine Gitarre aufheulen und kreischen, um wenige Takte später bereits wieder in ruhigeres Fahrwasser einzubiegen. Diszipliniertes Musizieren ist bei Low Trumpf.
 

Allerdings ist diese Sorte von Pop-Minimalismus nicht ohne Tücken. „Der Minimalismus gibt einem die Möglichkeit, mit sehr wenig auszukommen, vielleicht nur mit ein paar klugen und bedeutsamen Versen und einer starken Melodie,“ sagt Alan Sparhawk. „Doch müssen diese paar Zeilen dann auch wirklich gut sein und alles sagen.” Dem Wenigen wirklich Gewicht zu verleihen, das ist die Aufgabe, der sich Low verschrieben haben. „Man muß nicht alles sagen, um das zu sagen, was es zu sagen gibt,“ meint Alan Sparhawk.

 

Low: The Invisible Way (Sub Pop)