Friday 23 June 2023

Zum Tod von PETER BRÖTZMANN, Teil 2

Der Freejazz-Mist?

Zu seinem 80. Geburtstag ließ Peter Brötzmann Anfang 2021 in einem Interview sein Leben Revue passieren – mit verblüffenden Einsichten



 

Interview: Christoph Wagner

 

Sie wurden im März 2021 80 Jahre alt. Wie ist ihr momentanes Lebensgefühl? 

 

Peter Brötzmann: 80 Jahre ist ein hohes Alter – das spüre ich schon. Besonders im Moment in der langen Pause der Pandemie, bei der der Körper Zeit hat, mir all die Zeichen weiterzugeben. Wenn man soviel unterwegs ist, wie ich das in den letzten Jahren war, hat man gar nicht die Zeit hinzuhören. Mein letztes Konzert war im Februar 2020 in Athen, und jetzt in diesem Corona-Jahr bin ich mir erst bewußt geworden, wie alt ich bin. Ich habe ja immer noch Lust und bin bloß sauer auf den Virus, der mir die Arbeitszeit stiehlt. Ich weiß ja, die Zeit, die mir bleibt, wird kürzer und kürzer. Das ist mir durchaus klar. Ich habe noch ein paar Dinge vor, die ich gerne machen würde, und das sieht momentan eher schlecht aus. Das ärgert mich.

 

Ich habe gehört, Sie hätten Probleme mit der Lunge….

 

PB: Ich hab’ ein dickes Lungenemphysem. Das macht mir schon unter normalen Umständen schwer zu schaffen. Ich kann spazierengehen, nur keine Treppen steigen. Jede Reise, jeder Gang zum Bahnhof wird zur Tortur. Da muß ich mich jedes Mal überwinden. 

 

Wie äußert sich die Krankheit konkret?

 

PB: Man kriegt einfach nicht genug Luft. Im Winter ist es noch schlimmer. Wenn ich von meinem Vorderhaus in mein Studio im Hinterhaus gehe, zehn Meter durch die kalte Luft, dann schnürt sich alles zusammen. Mein Leben ist schon ohne Corona anstrengend genug, und jetzt ist es für mich eine Katastrophe, weil niemand weiß, wie lange diese Pandemie dauert und was danach kommt? Es wird nicht einfach so weitergehen wie vor dem Virus. Das ist klar. Wie sieht es danach mit der Reiserei aus oder mit den Konzertaktivitäten? Da wird sich vieles verändern.




 Wie wirkt Ihr Saxofonspiel auf die Erkrankung?

 

PB: Es ist eine gute Übung für die Lunge, damit sie aktiv bleibt. Ich habe die ganzen Hörner hier rumstehen und spiele täglich, was natürlich nicht dasselbe ist, wie Konzerte zu geben. 

 

Hat die Erkrankung Auswirkungen auf Ihr Saxofonspiel?

 

PB: Ich bin über die Jahre kurzatmiger geworden. Deshalb spiele ich heute nicht mehr über lange Strecken dieses unbedingte Powerplay, sondern mehr Melodien, Strukturen, Pausen, wobei natürlich die Frage ist: Was war zuerst, die Henne oder das Ei? Seit längerem schon habe ich auch im Kopf meine Spielweise verändert. Wahrscheinlich haben sich diese Veränderungen zusammen ergeben. Ich bin musikalisch heute an anderen Dingen interessiert als vor 50 Jahren, wobei mich immer schon die Jazzgeschichte fasziniert hat. 

 

Sie sind ja nicht gerade als Traditionspfleger bekannt, eher als Traditionszertrümmerer….

 

PB: Unsere Revolte in den 1960er und 1970er Jahren war wichtig, um Dinge aufzubrechen, zu verändern. Das haben wir gut hingekriegt. Dennoch war ich immer ein Freund von Duke Ellington, Thelonious Monk oder dem Stride-Pianisten James P. Johnson. Ich mag Melodien, das kann man auf meiner letzten Soloplatte “I Surrender Dear” hören. Diese Melodien sind einfach in meinem Kopf. Sie begleiten mich mein Leben lang, und insofern kommt man vielleicht am Ende des Lebens wieder auf die Anfänge zurück. Vielleicht hat sich ja gar nicht so viel verändert. Ich habe nur ein bisschen dazugelernt. 




 Das Alte wirkt auf einmal wieder neu und das einstmal Neue erscheint alt?

 

PB: Man stößt bei der Totalimprovisation an gewisse Grenzen, die sich nicht weiter hinausschieben lassen. Ich hab’ das freie Spiel ja ins Extrem getrieben wie kaum ein anderer. Aber wenn man das alles hinter sich hat, dann gibt es auch noch etwas anderes. Da bekommen dann Dinge, die früher weniger wichtig erschienen, wieder größere Bedeutung. 

 

In einem Gespräch mit der Gruppe Oxbow vom Moers Jazzfestival 2018 hört man Sie den verblüffenden Satz sagen: “Maybe I’m just tired of that freejazz bullshit.”

 

PB: (lacht) Na gut, das sage ich natürlich mit einem gewissen Grinsen im Kopf, weil wir haben das natürlich schon gut gemacht in den 1960er Jahren. Das war absolut notwendig. Doch heute stellt sich die Situation anders dar. Freejazz wird heute an Hochschulen gelehrt – der Widerspruch des Jahrhunderts! Das macht mich wütend. Die Musik wird ihrer gesellschaftlichen Widerständigkeit entledigt und akademisiert. So wird sie zu einer blutleeren Angelegenheit. Für uns war Freejazz gesellschaftliche Revolte, mit Aufbruch verbunden. Heute kämpft kein Mensch mehr.




 Ist das Kämpfen vielleicht deswegen obsolet geworden, weil es keine musikalischen Grenzen mehr zu durchbrechen gibt? Alles ist niedergerissen…

 

PB: Aber die Probleme sind ja nicht weg. Wir leben ja nicht gerade in den allerlustigsten Zeiten. Die Widerstände damals waren enorm. Ich erinnere mich an ein Festival in Belgien, ein Open-Air in dem kleinen Ort Comblain-La-Tour im Sommer 1965, wo abends John Coltrane spielte und wir am Nachmittag. Da haben Sie uns den Stecker der Übertragungsanlage rausgezogen, um uns am Weiterspielen zu hindern. Doch wir haben einfach unverstärkt weitergemacht. Auf der anderen Seite kamen immer nach den Konzerten eine Handvoll Leute hinter die Bühne, die begeistert waren. Und die Anzahl dieser Leute wuchs.

 

Sie mussten ihre ersten Alben selbst produzieren, weil kein Label interessiert war. Heute kann jeder, der einen Computer besitzt, seine Musik ohne größere Anstrengung in die Öffentlichkeit bringen….

 

PB: Meine ersten beiden Platten habe ich selber produziert, und das führten wir dann mit dem Label Free Music Production (FMP) weiter unter dem Motto: “Wir machen die Dinge selber!” Wir mussten eine komplette alternative Struktur schaffen, um unsere Platten Interessierten zugänglich zu machen. Plattenlabels, die an unserer Musik hätten interessiert sein können, gab es nicht und außerdem hatte man ja seinen Karl Marx gelesen und wollte sich auch nicht an die Musikindustrie verkaufen. Kaum gestartet, ging es schon los mit den Schwierigkeiten. Zuerst musste man einen geeigneten Aufnahmeraum finden und alles im voraus bezahlen. Ich weiß noch, wie teuer die Tonbänder waren. Ich musste im vorab alles geldmäßig mit der GEMA klären, sonst wäre nicht gepresst worden. Der Toningenieur hat umsonst gearbeitet. Ich hatte ja damals noch mein kleines Werbedesign-Büro und ein bisschen Geld, sonst wäre das nie zustande gekommen. Es war schon eine Riesenanstrengung, und trotzdem haben wir es irgendwie hinbekommen.




Half dieses Know-How später das Label Free Music Production (FMP) zu gründen?

 

PB: Unbedingt! Und wir hatte ja auch kleine Erfolge. Die Auflage der ersten Platte war 500, und auf einmal kamen Bestellungen aus Schweden, aus Japan, aus den USA. Es war eine Resonanz da. Die Platte brachte sogar einen kleinen Überschuß ein, den wir dann 1968 in die Produktion des “Machine Gun”-Albums investierten. Diese Produktion war recht aufwendig – acht Musiker. Wir haben zuerst hier in meiner Heimatstadt Wuppertal geprobt, dann im Club “Lila Eule” in Bremen aufgenommen, was Radio Bremen übernommen hat. Das war eine gute Zusammenarbeit, obwohl die Bedingungen schwierig waren, weil die “Lila Eule” ein Betonkeller ist. Die Bühnenbildner des Bremer Theaters haben uns für die beiden Trommler zwei Hütten gebaut wegen der Akustik. 

 

Die Musiker kamen aus der Bundesrepublik, Holland und Großbritannien. Das war schon echte europäische Zusammenarbeit………

 

PB: Ich hatte schon früh gute Verbindungen nach Holland durch die Malerei. 1963 war ich mit Fluxus und Nam June Paik in Amsterdam gewesen zu einer Ausstellung und Fluxus–Performances. Damals habe ich den Pianisten Misha Mengelberg kennengelernt. Gleichzeitig knüpften wir Verbindungen nach England, weil die meine Platten bestellten. Ich kam in Kontakt mit Evan Parker und Paul Rutherford. Naja, ich bin eben immer schon viel gereist. Holland bot sich an, schnell mal über die Grenze zu fahren. In Amsterdam konnte man mal so richtig aufatmen, raus aus dem Adenauer-Mief. 

 


Welche Rolle spielten die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender für die frühe Jazzszene?

 

PB: Die waren absolut unentbehrlich. Dort waren die gut bezahlten Jobs. Ich war ja nie ein großer Freund von Joachim Ernst Berendt beim SWF in Baden-Baden, doch was der Mann für die Musik geleistet hat, war phänomenal. Das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Und da war ja nicht nur der SWF oder Radio Bremen. Viele Sender engagierten sich für die Musik. Beim NDR gab es Michael Naura, den konnte man immer anrufen, wenn man Finanzbedarf für ein größeres Projekt hatte.

 

Welche Rolle spielten die Amerikaner? Sie waren ja bereits 1966 mit der Gruppe von Carla Bley auf Europatournee.

 

BP: Die Amis waren für mich immer das Wichtigste. Und ich hatte Glück die richtigen Leute zu treffen. Ich kannte schon früh Steve Lacy, der in Paris lebte. Als Solist oder im Trio trat er oft bei uns in Wuppertal auf. Als er dann mit der Band von Carla Bley nach Solingen in den Jazzclub “Ritterstraße” kam, habe ich mein Altsaxofon eingepackt und fuhr hin. Und während des Auftritts hat mir Lacy zugezwinkert, ich solle auf die Bühne kommen. Da bin ich rauf mit zitternden Knien und bin eingestiegen. Im nächsten Jahr kriegte ich einen Brief von Carla Bley mit ein paar Noten und der Frage, ob ich mit meinem Kumpel, dem Kontrabassisten Peter Kowald, bei einer Tour mitmachen würden? Natürlich habe wir zugesagt. 


 

Wie verlief die Zusammenarbeit?

 

PB: Wir waren damals richtige junge Wilde und nicht an amerikanische Musikerdisziplin gewöhnt. Wir spielten Carla Bleys schöne Stücke, die ich heute noch mag. Wenn ich für einen Chorus dran war mit einem Solo hab’ ich mich nicht an die Anweisungen gehalten, sondern durchgespielt. Mike Mantler, der Trompeter, hat ganz erschrocken geguckt.

 

Wie ging das dann weiter mit Ihren Kontakten nach Amerika?

 

PB: Mit der Band von Carla Bley waren wir in Paris und haben dort Cecil Taylor und seine Gruppe kennengelernt, wobei sich vor allem ein intensiver Kontakt mit dem Schlagzeuger Andrew Cyrille ergab. Trompeter Don Cherry, von Ornette Coleman bekannt, war die andere Verbindung. Er lebte in Südschweden und war viel mit seinem VW-Bus in der Bundesrepublik unterwegs. Öfters hat er Zwischenstation bei uns in Wuppertal gemacht. So entwickelten sich Kontakte. In Berlin haben wir dann die Free Music Production (FMP) aufgezogen und jährlich das Total Music Meeting veranstaltet, zu welchem wir auch amerikanische Musiker einluden. Mitte der 1970er Jahre reiste ich dann zum ersten Mal mit einer Handvoll FMP-Kollegen für Konzerte nach New York, was durch ein Kulturaustauschprogramm Berlin-New York zustande kam. In den USA aufzutreten, war ja nicht ganz einfach. Die haben aber alles arrangiert: Visa, Arbeitserlaubnis etc. Da hab’ ich Feuer gefangen. Ich bin dann immer wieder in die USA gereist, hab’ viele Musiker getroffen und bin bei jeder Session eingestiegen, wo man mich geduldet hat.

 


Wie war die Rezeption in den USA?

 

PB: Die haben schon gemerkt, dass wir etwas Eigenes machen, dass wir nicht kopieren, was uns Respekt verschafft hat. Ich hab’ dann viel mit amerikanischen Musikern gespielt, etwa mit den Schlagzeugern Milford Graves oder Andrew Cyrille. Dann wurde ich zum Vision-Festival in New York eingeladen, das ja eine Plattform für die schwarze Jazz-Avantgarde ist. So haben sich intensive Beziehungen entwickelt, ja Freundschaften ergeben.

 

Sie sind auf der amerikanischen Jazzszene ja beinahe heimisch geworden, haben mit zahlreichen Musikern gespielt, darunter die Supergruppe Last Exit oder das Peter Brötzmann Chicago Tentet….

 

PB: Ich spielte öfters in Chicago mit verschiedenen Musikern, was die Idee aufkommen ließ, eine gemeinsame Band ins Leben zu rufen. Der Chicagoer Saxofonist Ken Vandermark gewann 1999 das MacArthur Fellowship und hat einen Großteil des beträchtlichen Preisgeldes in die erste lange Amerikatour des Chicago Tentets gesteckt. Das war ein guter Start. Auch international wurde das durchaus beachtet. Wir sind nicht reich geworden, aber als Bandleader investiert man sowieso immer nur und wenig fließt zurück. Am Schluß jeder Tour blieb für die einzelnen Musiker nur ein Taschengeld übrig. Wir haben uns mächtig ins Zeug gelegt, doch die Ausbeute war recht übersichtlich. 



 

Das Chicago Tentet hat nach mehr als 10 Jahren das Handtuch geworfen – warum?

 

PB: Wir hatten gute Zeiten und haben alles probiert. Jeder hat gegeben, was er hatte. Zuerst haben wir mit kompositorischen Vorgaben gearbeitet, dann beschlossen, ganz frei zu improvisieren. Doch nach einer gewissen Zeit schlichen sich Routinen ein. Das ist fast unvermeidlich. Es wurde nachlässiger musiziert und die Inspiration fehlte. Ich schließe mich da ausdrücklich mit ein. Ich hab’ dann die Reißleine gezogen, weil ich dachte, besser auf einem guten Niveau aufzuhören, als das Bandprojekt abzuwirtschaften.

 

Sie waren ja zeitgleich in noch etliche andere Bandprojekte involviert, haben viel mit dem norwegischen Drummer Paal Nilssen-Love gearbeitet, auch mit Full Blast, dem elektrischen Powertrio mit Marino Pliakas (Baßgitarre) und Michael Wertmüller (Drums)…. 

 

PB: Full Blast gibt es bereits 25 Jahre, und da ist immer noch Energie und Spannung drin. Musik braucht Zeit sich zu entwickeln. Man kann nicht drei, vier Leute zusammentrommeln, und jetzt machen wir das Beste auf der Welt. So läuft das nicht.



In letzter Zeit sind Sie viel mit der Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leigh unterwegs. Mit diesem Duo schlagen sie verhaltenere Töne an. Wieso? 

 

PB: Wir haben ein erstes Konzert vor sechs Jahren in Glasgow gespielt und das hat sofort funktioniert. Dass wir ruhiger spielen, strukturierter und auch melodiebetonter, hat sich aus der Konstellation ergeben. Die Pedal-Steel-Gitarre ist ja ein Instrument, das sehr gut schwebende, gleitende und wolkige Töne erzeugen kann. Darauf musste ich reagieren. Es sollte ja etwas Vernüftiges daraus werden. Ich merkte, dass ich anders spielen musste, als wenn ich mit einer Rhythmusgruppe aus Baß und Schlagzeug zugange bin. Diese Tendenz kam allerdings meinen Bedürfnis der letzten Jahre entgegen, melodiöser und ruhiger zu spielen. Die Zusammenarbeit mit Heather Leigh hat diese Tendenz verstärkt. Für mich war es eine Herausforderung, und Herausforderungen sind wichtig, um musikalisch nicht einzurosten.

 


Buch: 

Brötzmann: Along The Way – Artwork from 2010 - 2020, Hardcover; 228 Seiten. Corbett vs Dempsey & Wolke Verlag. E 36.-

 

 

CDs/LPs:

Peter Brötzmann: I Surrender Dear (Trost)

Brötzmann / Leigh: Sparrow Nights (Trost)

Full Blast: Rio (Trost)

The Peter Brötzmann Chicago Tentet: Be Music, Night (Jazzwerkstatt)


Das Interview erschien ursprünglich in der NEUE ZEITSCHRFIT FÜR MUSIK, Schott/Mainz, der Publikation für Neue Musik und avantgardistische Tendenzen 

https://musikderzeit.de

 

Nachruf: Peter Brötzmann (1941 – 2023)

Radikaler Wüterich  

Als Saxofon-Berserker berühmt, avancierte Peter Brötzmann zum weltweit berühmtesten deutschen Jazzmusiker – jetzt ist der Wuppertaler im Alter von 82 Jahren verstorben 


 Foto: Rory Merry / Promo

 

cw. Peter Brötzmann war einer der wenigen deutschen Jazzmusiker mit internationaler Reputation. Ob Japan, Großbritannien oder die USA, wo immer der Saxofonist auftrat, waren die Säle voll. Vor allem in Amerika verehrte ihn eine ergebene Fangemeinde. Seit er Mitte der 1970er Jahre das erste Mal in den USA auftrat, war er Stammgast in New York und Chicago. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war Brötzmann mit der amerikanischen Punkjazz-Supergruppe Last Exit unterwegs, danach leitete er über Jahre das Chicago Tentet, ein Freejazzorchester.

 

“Vielleicht habe ich einfach den ganzen Freejazz-Mist satt!” hatte Brötzmann vor ein paar Jahren mit ironischem Unterton gesagt, ein Satz, der umso erstaunlicher klang, hatte der Saxofonist doch ein Leben lang nichts anderes als freien Jazz gespielt. Der Wuppertaler galt als Berserker, der musikalischen Barrieren niederriß und die Improvisation auf die Spitze trieb. Im Herbst seines Lebens trieben ihn allerdings andere Gedanken um. “Man stößt bei der totalen Improvisation an Grenzen, die sich nicht weiter hinausschieben lassen,” räumte er 2021 ein und signalisierte eine Richtungsänderung, die sich auf seinen letzten Einspielungen manifestierte. 

 

Der Schwenk war nicht über Nacht gekommen und auch nicht ganz freiwillig. Vielmehr hatte eine Lungenerkrankung Brötzmann zur Kurskorrektur gezwungen. Sowohl sein Soloalbum “I Surrender Dear” von 2019, als auch die Einspielung mit der Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leigh „Sparrow Nights“ (2018) boten anstelle von Chaos und Tumult über weite Strecken Andacht und Versenkung. 




 

Allerdings war Brötzmanns Neujustierung keine Kehrtwendung, sondern eine graduelle stilistische Verschiebung. Melodien und Strukturen bekamen einen höheren Stellenwert, auch räumte er Pausen größeren Raum ein. Anstelle des unerbittlichen Powerplay war ein weniger rabiates Musizieren getreten. Immer noch war sein Spiel reich an Dissonanzen, rauher Intonation und zerklüfteten Spaltklängen, doch zeichnete er nun die atonalen Linien mit feinerem Pinsel. Brötzmann hatte (mindestens) einen Gang heruntergeschaltet. Er bremste ab und fuhr musikalisch nicht mehr konstant auf der Überholspur.

 

Wer genauer hinhörte, konnte schon seit längerem einen Wandel registrieren. Die Musik des Trios Full Blast, das Brötzmann mit den beiden Schweizern Marino Pliakas (Baßgitarre) und Michael Wertmüller (drums) bildete, besaß jenseits aller kraftstrotzenden Monumentalität immer einen melodischen Kern. Da blies Brötzmann dann präzise gemeißelte Melodien von hymnischer Kraft, die manchmal so klangen wie die abstrakten Metamorphosen der erdigen Soul-Saxofon-Riffs eines King Curtis oder Junior Walker.


Marino Pliakas, Michael Wertmüller, Peter Brötzmann (Promo)

 

Seine Neuorientierung wollte Brötzmann keineswegs als Distanzierung von seiner Vergangenheit verstanden wissen – im Gegenteil: “Unsere Revolte in den 1960er Jahren war wichtig, um Dinge aufzubrechen, zu verändern,” bemerkte der einstige Bürgerschreck in Sachen Musik nicht ohne Stolz. “Doch heute stellt sich die Situation anders dar.” 

 

Die Pandemie verordnete Brötzmann eine musikalische Zwangspause, die ihm gleichzeitig mehr Zeit für seine andere Leidenschaft bot, die bildende Kunst. Fast täglich ging er während des Lockdown-Winters von 2020/21 die zehn Meter von seiner Wuppertaler Wohnung ins Hinterhaus, obwohl ihm die kalte Luft im Freien die Brust zuschnürte. In seinem Atelier stürzte er sich dann in die Arbeit an Ölgemälden, Materialbildern, Objektkästen, Druckgraphiken oder kleinen Skulpturen. 


Gästebuch der Manufaktur, Schorndorf

 

1941 in der Ruhrpott-Stadt Remscheid geboren, wollte der Teenager anfangs Graphikdesigner werden. Ab Ende der 1950er Jahre absolvierte er an der Werkkunstschule in Wuppertal ein vierjähriges Kunststudium, während er in seiner Freizeit in einer Dixielandband spielte. Brötzmann begann sich für die neusten Kunstströmungen zu interessieren und wurde Assistent von Nam June Paik, mit dem er an diversen Fluxus-Performances und Ausstellungen teilnahm, die den Kunstbegriff auf den Kopf stellten. 

 

Mit der gleichen Radikalität warf Brötzmann dann ein paar Jahre später die Jazztradition über den Haufen und schockierte mit brachialen Improvisationen und infernalischen Klanggewittern die Jazzgemeinde. Seine ersten beiden Alben „For Adolphe Sax“ (1967) und „Machine Gun“ (1968) bildeten Wegmarken des freien Jazz und begründeten seinen Ruf als radikaler Wüterich, von dem sich selbst Kollegen des modernen Jazz wie Joachim Kühn distanzierten. Bis an sein Lebensende blieb Brötzmann dem freien Spiel treu, nicht ohne seine Konzeption immer wieder erneut den veränderten Bedingungen anzupassen. „Herausforderungen sind wichtig, sonst rostet man ein“, lautete sein Credo. 

 

Von einer Erkältung, die er sich bei seinem nachgeholten Fest zum 80. Geburtstag einhandelte, hat er sich nie mehr richtig erholt. Seine letzten Konzerte, die er noch im Januar (Club Manufaktur, Schorndorf & Club 71, Weikersheim) und im Februar (Cafe Oto, London) absolvierte, hatten ihn schon völlig überfordert und auch derart ausgelaugt, dass er im Krankenhaus landete und nur knapp einen Herzstillstand überlebte, was ihn wiederum so  schwächte, dass er – wieder daheim – nur noch unter größter Anstrengung ein paar Meter gehen konnte. Jetzt ist Peter Brötzmann am 22. Juni verstorben.


Hörprobe:

Peter Brötzmann Quartett, 1974 (mit Peter Kowald, Bass / Alexander von Schlippenbach, Piano / Paul Lovens, Drums) (youtube) 



 

 

Wednesday 21 June 2023

SCHEIBENGERICHT 15: Neues Album von Natalie Merchant

SCHEIBENGERICHT 15:

Die magische 9

Natalie Merchants neu(nt)es Album

 


 4 von 5 Sterne

cw. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht! Auf die Künste angewandt, will uns das afrikanische Sprichwort sagen: Kreativität kann man weder erzwingen, noch forcieren. Inspiration stellt sich auf mysteriöse Weise irgendwann und irgendwie ein – oder auch nicht. 

 

Darum läßt sich Natalie Merchant Zeit. Seit längerem vermochte die amerikanische Singer-Songwriterin keine Lieder mehr zu schreiben, bis ihr während der Pandemie die Songs nur so zuflogen, von denen sie nun neun (plus eine Coverversion von „Hunting the wren“ der irischen Folkgruppe Lankum) auf ihr aktuelles Album bannte. Ein Gedichtband des schottischen Poeten Robin Robertson hatte Merchants poetische Schöpferkraft neu entfacht. 

 

Es ist das neunte Album der Ex-Sängerin der 10.000 Maniacs und das erste mit neuen Lieder seit neun Jahren. Alle Songs kreisen um das Thema „Liebe“, weniger der erotischen, als den vielfältigen Formen und Facetten von Liebe und Zuneigung im allgemeinen.

 

Musikalisch zieht Merchant alle Register. Ob Motown-Bläsersatz, Klassikorchester, ob Folkgruppe oder Kammerensemble – jedes Lied ist mit einem Arrangement versehen, das keinen Aufwand scheut und  jeweils ein anderes Flair versprüht. Manchmal opulent, dann wieder sparsam, schafft das eine Kulisse, die den Gesang optimal zur Geltung bringt. Zum Auftakt singt Merchant zwei Nummern im Duett mit der afroamerikanischen Sängerin Abena Koomson-Davis, danach stimmt sie jeden Song alleine an. 


Natalie Merchant: Song of himself (youtube)



Merchants Gesang ist so ausdrucksstark wie immer, ihre Melodien besitzen nicht selten Ohrwurm-Qualität. Die kehlige Intonation gibt den Songs Überzeugungskraft, wobei in der Melancholie immer auch ein Quentchen Trost mitschwingt, was Mut macht in einer Gegenwart, in denen „jeder so verwirrt ist“, wie Merchant im Song mit dem bezeichnenden Titel „Tower of Babel“ klagt. „Keep your courage” wirkt als Ermunterung in düsteren Zeiten.

 

Natalie Merchant: Keep your courage (Nonesuch)

 

Saturday 17 June 2023

Eure Wunden – New Wave Südwest

Rohe, nervöse Energie

Punk und New Wave mit Eure Wunden

Fotos: Christoph Wagner


Ende der 1980er Jahren haben wir als Balinger Kulturverein mit ihnen im Atelier des Künstlers Frieder Zimmermann in Albstadt ein Konzert veranstaltet. Damals hieß die Gruppe "Danse Macabre". Nach diversen weiteren Gruppengründungen (Wendy Bones, Stereo Satanics und The Dead Hands) sind zwei der Mitglieder – Ralf Brandt und Daniel Schandock – weiterhin musikalisch aktiv und sind gestern (17. Juni 2023) bei der Landesgartenschau in Balingen auf der Bühne beim neuen Jugendhaus und der extrem populären neuen Scaterbahn aufgetreten. Jetzt heißt die Gruppe "Eure Wunden" und ist ein Quartett, das von Andrea (Gesang, Drums) und Scherf am Baß komplettiert wird. 

Immer noch musikalischen Stilformen der 1980er Jahre, also Punk und New Wave, verpflichtet, spielte das Quartett einen explosiven Set, der einmal an B52, ein andermal an Ideal oder Fehlfarben erinnerte. Manchmal wurden die Stücke einstimmig, dann wieder zwei- oder dreistimmig in deutsch bzw. englisch herausgeschleudert, wobei Dan Shandog eine griffige Gitarre spielte, während Ralph "on fyre" Brandt (eigentlich auch Gitarrist) an der Hammond-Orgel und am extrem minimalistischen Schlagzeug zu hören war. 

In bester New-Wave-Manier jagten "Eure Wunden" atemlos durch einen Set von – geschätzt – 20 knackig-kurzen Songs, alle selbst geschrieben, die durch ihre Dynamik und Ruppigkeit auffielen und beeindruckten. Eine geballte Ladung roher, nervöser Energie! Manchmal hatte man sich kaum eingehört, riß das Stück auch schon wieder ganz unvermittelt ab, wobei sich die Band ohne große Pause gleich in den nächsten Song stürzte, einer Achterbahnfahrt gleich. Mit ihrer Selbermacher-Attitüde und dem Ideal des Nicht-Perfekten steht die Formation für die Punk-Attacke auf die Exzesse des progressiv-pompösen Rocks der späten 70er Jahre, wobei dieses Anti-Mainstream-Aufbegehren inzwischen natürlich selbst historisch geworden ist.



Die Gruppe spielt immer einmal wieder im Südwesten in kleinen Clubs oder Jugendhäusern vor 30, 40 Fans, und hält so eine Szene lebendig, die normalerweise unterm Radar der großen Rockkonzerte verschwindet. "Eure Wunden" haben eine LP mit dem Titel "Kratzer" veröffentlicht, die zehn der Songs enthält, die auch bei ihrem Gig auf der Landesgartenschau zur Aufführung kamen. Das Album ist auf Bandcamp zugänglich – hört mal rein! 

https://eurewunden.bandcamp.com/album/kratzer

Thursday 8 June 2023

Moderner Jazz mit dem Bill Stewart Trio in Singen

Aus der Ruhe kommt die Kraft

Das Bill Stewart Trio beim Jazzclub Singen zu Gast


Fotos: Christoph Wagner

 

 

cw. Im Jazz sind Schlagzeuger als Bandleader eher die Ausnahme. In den ersten Jahrzehnten der Jazzgeschichte waren Drummer einfach nur Rhythmusknechte, die für einen steten Swing zu sorgen hatten, bis dann in der Bigband-Ära Gene Krupa und Buddy Rich diese Konvention durchbrachen und eigene Orchester gründeten. Max Roach und Art Blakey machten sich danach in der Zeit des Bebop und Hardbop als Bandleader einen Namen. An diese Ahnereihe knüpft heute Bill Stewart an, der jetzt mit seinem Trio beim Jazzclub Singen im Kulturzentrum Gems zu Gast war.

 

Stewart hat sich über Jahre als kompeteter Sideman einen Namen gemacht, dabei solche Größen wie John Scofield und Pat Metheny begleitet. Aus dem selben Stall kommt auch Kontrabassist Larry Grenadier, der ebenfalls unter den Bandleadern Scofield und Metheny gedient hat, sich aber auch durch sein Spiel mit Joe Henderson und Brad Mehldau in die Annalen des Jazz einschrieb. Dagegen ist der Tenorsaxofonist des Stewart Trios, Walter Smith III, in Europa ein noch ein recht unbeschriebenes Blatt.

 

In einem Jazztrio, das über kein Akkordinstrument (Gitarre, Orgel oder Piano) verfügt, wie es das Ensemble von Bill Stewart darstellt, ist für den einzelnen Musiker Schwerstarbeit angesagt. Er muß in jeder Sekunde voll bei der Sache sein, sowohl als aufmerksamer, hellwacher Begleiter als auch als unbegleiteter Solist. Durchhänger kann man sich in dieser Konstellation nicht leisten, da die Musik äußerst transparent ist.




Die drei Musiker wurden dieser Aufgabe mit Bravour gerecht, ob in dichten, schnellen Kompositionen oder eher lyrischen leisen, immer trafen sie den richtigen Ton. Dabei entpuppte sich Saxofonist Smith als die wahre Entdeckung des Abends, der mit seinem weichen geschmeidigen Spiel die Töne nur so sprudeln ließ, aber auch energisch-zupackend in sein Horn blasen konnte. 

 

Musiker solchen Kalibers sind Spitzenkönner, dass bräuchten sie eigentlich nicht mehr unter Beweis zu stellen, was heißen soll: Ich hätte gerne auf ein paar unbegleitete Solos von Baß und Schlagzeug verzichtet und lieber noch ein paar weitere langsame, verhaltene Nummern gehört, in denen die Band als Einheit ihre größte Stärke entfaltete. In diesen Kompositionen, die nicht immer die Balladenform annahmen, gelang es den Musikern ein klangliches Gewebe zu entwickeln, das in der Zurückgenommenheit die größte Kraft entfaltete und das zahlreiche Publikum – der große Gems-Saal war voll besetzt – andächtig zurückließ, bevor es dann – nach ein paar Augenblicken der Stille – in Begeisterung ausbrach. 


Die nächsten Konzerte des Jazzclubs Singen:

https://jazzclub-singen.de/programm.html




Tuesday 6 June 2023

Die Rückkehr des Countryrock – was für eine Wohltat!

Lieber in die Sonne blinzeln

Die Rose City Band plus Rosali in der Manufaktur in Schorndorf – oder: die Rückkehr des Countryrock 

 

 Fotos: Christoph Wagner



cw. Was es mit der Wiederkehr – sprich: dem Revival – von Musikstilen auf sich hat: Man muß nur lange genug warten, dann macht alles wieder die Runde. Das muß nicht zwangsläufig auf nostalgische Verklärung hinauslaufen, sondern kann neu belebt und frisch klingen, je nachdem. Will man nach dem Auftritt der Rose City Band am 6. Juni 2023 im Club Manufaktur in Schorndorf urteilen, steht uns gerade ein Comeback der siebziger Jahre ins Haus. Wenn das Ergebnis so eigenwillig klingt wie die Musik der Rose City Band, soll's mir recht sein!


Die fünfköpfige Band um den Gitarristen, Sänger und Songschreiber Ripley Johnson (Moon Duo und Wooden Shjips) aus Portland, Oregon schöpft tief aus der Tradition des Southern- bzw. Country-Rock und ruft mit einem ganz eigenen, unverkennbaren Sound Erinnerungen an Gruppen wie die Byrds, die Allman Brothers Band, J.J. Cale, The Grateful Dead und The New Riders of the Purple Sage wach, die mit unterschiedlicher Gewichtung in den 1960er und 70er Jahren psychedelische Rock-Sounds mit Hillbilly, Bluegrass und Blues verbanden. Es durfte einen deshalb auch nicht wundern, dass man ältere Semester mit T-Shirts der The Flying Burrito Brothers im Publikum sah.



 

Nachdem die Singer-Songwriterin Rosali mit einem halben Dutzend einfühlsamer Songs den Auftakt gemacht hatte, nur begleitet von der eigenen Gitarre und dem Pedal-Steel-Gitarristen des Hauptacts, setzte nach der Pause die Rose City Band mit ein paar kürzeren Songs den Ton, die ungeheuer relaxed, federleicht und flüssig daherkamen. Was gar nicht auffiel, weil es so selbstverständlich und organisch geschah, war, wie sich die melodischen Linien von Pedal-Steel, E-Gitarre und des Keyboards kunstvoll ineinander verflochten. In den Soli – ja die gibt’s hier wieder in großer Ausführlichkeit – warfen sich Johnson, oft mit dem Fuß auf dem Wah-Wah-Pedal, Keyboarder Paul Haselberg und der Mann an der Pedal-Steel, Barry Walker, die Bälle nur so zu. Dabei erwies sich vor allem Haselberg als wahrer Klangzauberer, der seinen Synthi einmal wie eine Hammond-Orgel, dann wieder wie ein E-Piano oder ein Mellotron klingen ließ. In einer wilden, langen Jam-Nummer im Mittelteil des Konzerts ließ er den Synthi dann doch noch wie einen Synthesizer klingen. 




 

Haselberg war übrigens der einzige, der mit mächtigen Gesten die Ausdruckskraft der Musik auch körperlich ausdrückte, während die anderen in coolem Understatement dieses Stils in abgeklärter Pose stoiisch nicht die geringste Miene verzogen, auch wenn sie sich gerade musikalisch in immer ekstatischere Höhen schraubten. Äußerst solide agierte die Rhythmusgruppe, die sich nicht zu irgendwelchen virtuosen Mätzchen hinreißen ließ, sondern ihrer Aufgabe als Begleiter wirklich gerecht wurde.  

 

Angesichts der düsteren Weltlage meinen ja viele Künstler heutzutage, sie müssten sich als politische Kommentatoren betätigen (hoffentlich kommen Politiker und Zeitungskommentatoren nicht auf die umgekehrte Idee), nicht so Ripley Johnson und seine Band – gottseidank! Ihre Songs erzählen von wunderbaren Sommertagen, die man vielleicht daheim auf der Veranda verbringt – im Liegestuhl in die Sonne blinzelnd –  oder dahingleitend im Auto "down the freeway to LA". Was für eine Wohltat! 



Was die Manufaktur in Schorndorf im Verlauf des weiteren Jahres 'live' noch zu bieten hat:


Hörprobe vom neuen Album: The Rose City Band – Slow Burn (youtube)




  

 

Sunday 4 June 2023

"Jazzweltkulturerbe" in Villingen

Drei magische Buchstaben

Das weltberühmte MPS-Studio in Villingen wird neu belebt

 

 Fotos: Christoph Wagner

cw. Im Innenhof wird gebaut. Nur ein winziges Schild gibt einen Hinweis auf die Besonderheit des unscheinbaren Gebäudes. Man muß um das Haus herumgehen, durch die Eingangstür und die Treppe hinauf, um in die für Jazzfans heiligen Hallen zu gelangen: In der Richthofenstraße 1/1 in Villingen befindet sich das weltberühmte MPS-Tonstudio, zehn Minuten zu Fuß vom Altstadtzentrum entfernt. 

 

Alles ist noch so wie zu seinen besten Zeiten. In den 1970er Jahren gaben sich hier internationale Jazzstars die Türklinke in die Hand: Oscar Peterson, Albert Mangelsdorff, George Duke oder Jean-Luc Ponty – alle haben im MPS-Studio aufgenommen. Für den Starpianisten Friedrich Gulda wurde sogar eigens ein großer Bösendorfer „Grand Imperial“ angeschafft, wobei ein Treppengeländer herausgenommen werden musste, um den riesigen, sündhaft teuren Flügel überhaupt ins Studio befördern zu können. 


Hinter der Scheibe im Kontrollraum: Das 24-Kanal-Mischpult im MPS-Studio 

Mehr als 500 Schallplatten hat das Label MPS (= Musik Produktion Schwarzwald) unter der Leitung des SABA-Erben Hans Georg Brunner-Schwer im Laufe seines 15jährigen Bestehens von 1968 bis 1983 herausgebracht und die meisten wurden hier in Villingen eingespielt, was das Studio heute in internationalen Jazz-Kreisen zu einer Legende macht und in der DJ-Culture zum Kult. 

 

Der Londoner Star-DJ Gilles Peterson kommt kaum mehr aus dem Schwärmen heraus, wenn die drei magischen Buchstaben fallen. Für ihn steht fest: “In den siebziger Jahren war MPS zweifellos das beste Jazzlabel in Europa.” 

 

Nach langen Querelen hat nun der Verein MPS-Studio e.V. die Betreuung übernommen, um dem Ort, der mittlerweile unter Denkmalschutz steht, wieder zu seinem alten Glanz zu verhelfen. Der Vorstand um den Musikverleger und Designer Töni Schifer und den Tontechniker Frank Baumann wollen das Studio abermals zu neuem Leben erwecken. Schon jetzt finden hier Konzerte und Musik-Workshop statt. Aber um wieder zuverläßig Musikaufnahmen machen zu können, muß das gesamte analoge Equipment generalüberholt werden, vom 24-Spur-Mischpult bis zu den hochwertigen Telefunken-Tonbandgeräten. Das steht noch an. Man hat Förderanträge gestellt und wartet nun auf die Bescheide der öffentlichen Hand. 


Der Mann an den Reglern: Tontechniker Frank Baumann am historischen 24-Kanal-Mischpult im MPS-Studio 

 

Es geht um nicht weniger, als ein einzigartiges Erbe zu bewahren und die Geschichte dieser für Villingen vielleicht bedeutensten Einrichtung zu dokumentieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Eine Herkules-Aufgabe ohne Zweifel, die der Verein aber mit Verve und Begeisterung angeht.

 

Konzert im MPS-Studio, Villingen:

Freitag, 16. Juni (Beginn: 20:00): Faust-Keyboarder Hans-Joachim Irmler & Monika Nuber (Visuals), sowie Ute Wassermann (Stimme)


Sie packen die Sache an: Vorstand Töni Schifer (links) und Frank Baumann vor der Eingangstür in MPS-Studio