Archaische Klänge
Jodelkünste aus den Alpen beim Konzert der Gruppe „Natur pur“ im Sigmaringer Schlachthof
cw. Die Konzertidee war eine ambitionierte gewesen: das Jodeln in seiner historischen Entwicklung zu präsentieren, von seiner Ursprungsregion in den Alpen bis nach Amerika, wo es ab den 1830er Jahren Fuß fasste und im 20. Jahrhundert zu einer riesigen Mode in der frühen Countrymusik wurde. Dazu hatte der Südwestrundfunk und der Atelierverein im Alten Schlachthof in Sigmaringen zwei Gruppen eingeladen: Das Ensemble Natur pur aus dem innerschweizer Muotatal und das Bluesgrass-Duo Ruben & Matt aus Italien. Die aktuelle Virusepedemie machte den Veranstaltern jedoch einen Strich durch die Rechnung und verhinderte, dass die Mailänder überhaupt anreisen konnten. Deswegen mussten die vier Musiker aus der Schweiz das Konzert alleine bestreiten, eine Herausforderung, die sie mit Bravour bestanden. Die Zuhörer, darunter „Landesmutter“ Gerlinde Kretschmann, standen Kopf vor Begeisterung und ließen die Schweizer erst nach einer Zugabe gehen.
„Jüüzli“ heißen die Jodel im Muotatal und sind ein ganz spezieller Gesang: wild, schroff und weit abfallend, wie das entlegene Tal im Kanton Schwyz, wohin sich früher selten ein paar Besucher verirrten, weshalb die lokalen Jodeltraditionen ganz anders klingen als die üblichen Jodellieder in der Schweiz – manchmal fast schrill und dissonant.
Die vier Vokalisten von Natur pur sind bis auf Bandleader Bernhard Betschart alles Amateure, die Berufe wie Bauer und Zimmermann ausüben, was aber ihrem Können keinen Abbruch tut. Sie überzeugten mit kräftigen Stimmen und präziser Intonation, wobei deutlich wurde, dass sie diesen Gesangsstil quasi mit der Muttermilch eingesogen haben. Denn wo die Kleinen sonst populäre Kinderlieder singen, wird im Muotatal „gejuuzt“, d.h. gejodelt.
Allerdings war das Konzert nicht ausschließlich Jodel pur. Die Gruppe hatte zusätzlich eine ganze Reihe von Musikinstrumenten mitgebracht, die eine gelungene Abwechslung boten zum furiosen A-Capella-Gesang. Zwei Stücke auf dem Büchel zeigten die Möglichkeiten und Schwierigkeiten dieses archaischen Blasinstruments auf, das mit seiner geschwungenen Form als kleiner Bruder des Alphorns gilt und keine Löcher oder Klappen besitzt: der Tonschritte müssen allein durch den veränderten Luftdruck erzeugt werden.
Polkas, Mazurkas und Landler boten dazwischen die beiden Sänger und Ziehharmonikaspieler Daniel Schmidig und Cornel Schelbert, äußerst versierte Wirtshausmusikanten, die mit ihren „Schwyzerörgeli“ (spezielles Schweizer Akkordeon) den Saal im Alten Schlachthof in Sigmaringen im Nu in eine Almhütte verwandelten, wo die Senner am Abend nach der Arbeit zusammensitzen und sich mit schmissigen Tanzweisen die Zeit vertreiben.
Nachdem sich Bernhard Betschart mit der Demonstration der Möglichkeiten einer Art Holzklapper (ähnlich den spanischen Kastagnetten) als virtuoser Rhythmiker entpuppt hatte, präsentierte Christian Gwerder mit gewagten Luftsprüngen, Händeklatschen und Schnalzen einen traditionellen „Werbetanz“ in so beinbrechender Manier, dass die Besucher völlig aus dem Häuschen gerieten. Die Schweizer Musiker hatten am Ende ihres Konzerts die ganze Bandbreite der Musik ihres Tales auf eindrucksvolle Weise demonstriert und damit gezeigt, dass es in Europa nur wenige Regionen gibt, die so reich an Traditionen und Eigenheiten sind.