Tuesday 29 August 2023

ROBERT CRUMB zum 80sten Geburtstag

ROBERT CRUMB - Interview mit dem Cartoonisten 


Will ich wirklich einer dieser Irren sein?




Über alte Folkmusik (Appenzeller Streichmusig inklusive), die Wonnen und Abgründe des Sammelns, seine Begegnung mit Janis Joplin und die Arbeit an der Schöpfungsgeschichte als Comic
 
 
cw. Neben Gary Larson (“The Far Side”) und Art Spiegelman (”Maus”) gilt Robert Crumb (Jahrgang 1943) als einer der bekanntesten Cartoonisten der Gegenwart. Berühmt wurde der amerikanische Comic-Zeichner Ende der 60er Jahre mit “Fritz The Cat”, den Abenteuern des arbeitsscheuen und sex-süchtigen Katers, die 1972 als Kinohit verfilmt wurden. Mit dem bärtigen “Mr. Natural” schloß Crumb an diesen Erfolg an. Danach sorgte er mit seiner Cartoon-Version der Schöpfungsgeschichte für Beachtung. Heute ist Robert Crumb Kult und wird selbst von der Kunstwelt gefeiert. 2004 widmete ihm das Kölner Museum Ludwig eine Einzelausstellung. Außerdem war im Kunstmuseum seiner Geburtsstadt Philadelphia eine Retrospektive seines Gesamtwerks zu sehen. Letztes Jahr traf Crumb ein brutaler Schicksalsschlag, als seine Ehefrau und künstlerische Partnerin Aline Kominsky-Crumb verstarb. Am 30. August 2023 ist Robert Crumb 80. Jahre alt geworden.


 
Sie sind als Comic-Zeichner berühmt, aber auch als Musiker aktiv. Ist Musik ihre geheime Leidenschaft?
 
Robert Crumb: Meine Leidenschaft schon, nur nicht geheim. Ich trete  seit mehr als vierzig Jahren mit Bands auf. Heute mit McCamy’s Melody Sheiks. Der Bandleader ist Ian McCamy, ein Fiddlespieler, der in der gleichen Ortschaft in Südfrankreich lebt, wo ich seit fast 20 Jahren wohne. Wir sind beide an Old Time Music interessiert, und begannen bei Parties und Festen ein bißchen Musik zu machen. Er ist ein professioneller Musiker, der schon einige Alben veröffentlicht hat. Weil er meine Begleitung auf der Gitarre und dem Banjo mochte, bat er mich, bei der Einspielung des Album dabei zu sein, was mir großes Vergnügen bereitete. 
 
Im Booklet-Text zur CD “There’s More Pretty Girls Than One” der Melody Sheiks beschreiben sie die traditionelle Folkmusik als eine sehr demokratische Tradition. Wie ist das zu verstehen?
 
Robert Crumb: Die traditionelle Musik ist in einem simplen Format gehalten, simpel genug, um selbst Anfängern das Mitspielen zu ermöglichen. Ein Neueinsteiger spielt dann vielleicht mit jemandem zusammen, der diese Musik schon Jahre lang macht und ein echter Könner ist. Wenn man sich diese Familien-Ensembles anschaut, die diese Musik früher in den USA spielten, dann musizieren da Kinder mit Erwachsenen zusammen. Man musste nur ein paar Akkorde können und schon konnte man einsteigen. Kinder machten mit ihren Eltern Musik, aber auch Neffen und Cousinen, Onkel und Tanten waren mit von der Partie. Wenn die Jungen Talent zeigten, konnte sie in diesem Stil zu großen Virtuosen werden. Sie konnten üben und immer besser werden, aber sie mussten nicht. Man kann diese Musik auch spielen, ohne ein großer Virtuose zu sein. Der Stil bot einen Rahmen für jede Stufe musikalischer Fähigkeit. Jeder kann mitmachen. Ein geniales Konzept! Das ist das Schöne an der alten Folkmusik.
 
Hört sich das dann nicht dilletantisch an?
 
Robert Crumb: Kann schon vorkommen, aber das ist nicht der Punkt. Man spielte ja für seine Familie, Leute aus der Nachbarschaft, nicht für Kenner. Es kommt auf die Freude am Musikmachen an, nicht so sehr auf ein grandioses Ergebnis. Im Gegensatz zur Folkmusik errichtet Kunstmusik Barrieren. Das macht den Einstieg schwierig. Man muss erst Jahre im einsamen Kämmerlein üben, bevor man in einem Ensemble spielen kann. Nimm die Jazzmusik! Da muss man viel über Akkorde, Tonleitern und Tonarten wissen und ein ungeheurer Könner auf seinem Instrument sein, um Jazz leidlich spielen zu können. Ganz anders die Folkmusik: Die Leute spielten die Old Time Music zu ihrem eigenen Vergnügen bei kleinen lokalen Anlässen. Es ist Gebrauchsmusik, keine Konzertmusik, gespielt von Hobbymusikanten aus Spaß an der Freude. Das unterscheidet sie von jeder Art von kommerzieller Musik von Profis gespielt. Folkmusik findet in einem gänzlich anderen, einem kommunitären Kontext statt. 


 Sind sie in ihrer Kindheit noch solchen Hillbillybands begegnet?
 
Robert Crumb: Wo ich in den 50er Jahren aufwuchs, gab es solche Gruppen schon lange nicht mehr - keine Spur! Wir wohnten in einer dieser modernen amerikanischen Vorstädte: Einfamilienhäuser, Garagen, Vorgärten. Damals war diese Folk-Tradition schon nicht mehr existent. Die modernen Unterhaltungsmedien hatten sie platt gemacht, ausradiert. Die kommerzielle Musik aus dem Radio und von Schallplatten dominierte alles. Da gab es für Hillbilly-Musik keinen Platz mehr.
 
Wie wurde dann ihr Interesse an dieser Musik geweckt? Wo sind sie ihr begegnet?
 
Robert Crumb: Ich weiß nicht, warum auf mich alte Musik so eine Faszination ausübte, aber schon als Kind war ich davon begeistert. Ich hörte diese Musik zuerst in Fernsehfilmen aus den 1930er Jahren und  fing sofort Feuer. Als ich dann so 12 oder 13 Jahre alt war, suchte ich nach dieser Musik, die ich in den alten Filmen gehört hatte. Aber diese Musik gab es nicht auf den Schallplatten, die damals in Umlauf waren - höchstens ein bißchen Dixieland-Jazz. In Ramschläden stieß ich dann auf alte Schellackplatten, was eine Erleuchtung war.
 
Sie waren schon als Teenager in Ramschläden unterwegs? 
 
Robert Crumb: Klar, ich hatte schon immer eine Leidenschaft fürs Sammeln. Mit 10 durchkämmte ich Junk-Shops und Second-Hand-Läden auf der Suche nach alten Comic-Heften, auch Läden der Heilsarmee. Als ich 15 war, stolperte ich in so einem Laden über einen Stapel von Schellackplatten, die sehr billig waren. Sie waren nicht alle toll, Operetten und solches Zeug. Aber eine war von einer Tanzkapelle aus den 1920er Jahren. Der Namen der Gruppe sagte mir nichts, aber die Musik haute mich um. Ich dachte: “Das ist es! Das ist diese alte Musik aus den Filmen, nach der ich schon so lange Ausschau gehalten habe.” Damit war klar, dass ich von nun an nach solchen Schellackplatten fahnden würde. Ich kaufte mehr und mehr Scheiben und entdeckte dabei all diese unterschiedlichen traditionellen Stile: Old Time Jazz, Blues, Gospel, Hillbilly, Cajun - das ganze Spektrum.


 
Wie wurden sie auf den Blues aufmerksam?
 
Robert Crumb: In der Schulbücherei fand ich ein Buch über Jazz. Darin gab es ein Kapitel über das Schallplattensammeln. Dort war von Sammlern die Rede, die in schwarzen Stadtteilen von Haustür zu Haustür gingen und nach alten Jazzplatten fragten. Woww - glänzende Idee! Sofort machte ich mich auf die Socken. Ich klopfte an die Türen im schwarzen Stadtteil meiner Heimatstadt Dover, Delaware. Die Leute waren sehr neugierig und überrascht: “Was will dieser weiße Rotzjunge hier?” Aber viele hatten noch Scheiben aus den 1920ern und 1930er Jahren. Sie verkauften sie mir für wenig Geld, 10 Cents per Stück. Dadurch entdeckte ich die Welt des Blues. Junge, Junge - was für eine Musik! Diese Klänge kamen mir absolut fremd und exotisch vor, zugleich ungeheuer faszinierend.
 
Blues war die Einstiegsdroge. Wie ging es weiter?
 
Robert Crumb: Nach dem Blues entdeckte ich die weiße Folkmusik und mehr und mehr auch die Musikstile der verschiedenen Einwanderergruppen Amerikas: Irische Jigs, griechischen Rembetika, polnische und ukrainische Musik, böhmische Klänge - einfach alles, was es auf Schellacks gab. Es wurde mir klar, dass jedes Volk irgendwann einmal eine eigene, starke Folkmusiktradition besessen hatte und einiges davon war auf Schallplatten verewigt worden. Nach diesen Scheiben hielt ich Ausschau. Ich sammle diese Musik bis heute. Ein Freund hat mir vor einiger Zeit Schellackplatten mit Appenzeller Streichmusig besorgt - absolut fantastisch! Ich kannte diesen Stil mit “Hackbrett” (Crumb spricht das in deutsch aus) und Geigen nicht und war total begeistert. Was für ein Schatz! Man hat mir erzählt, dass diese Musik bis heute gespielt wird, was wunderbar ist.
 
Sie scheinen ein geradezu fanatischer Sammler zu sein. Woher kommt diese Sammelwut?
 
Robert Crumb: Es ist eine Obsession. Das fing bei mir schon im Alter von 9 Jahren an, als ich auf einmal begann, Dinge zusammenzutragen. Ich glaube, es hat mit der Macht der Serie zu tun. Man hat ein Exemplar und will auch die anderen Exemplare der Serie haben - ein Drang nach Vollständigkeit. Es ist wie eine Krankheit, die von einem Besitz ergreift. Man könnte es auch als eine moderne Ausformung des Jagdinstinkts beschreiben, ein archaisches Relikt, vielleicht eine Art Perversion. Die Erregung, die einen erfasst, wenn man sich einem Flohmarkt nähert, die Vorfreude, vielleicht eines der Dinge zu finden, nach denen man seit langem sucht, ist ein Symptom dieses Gebrechens. Man weiss nie, welche Schätze einen erwarten.
 
Den Schellacks sieht man oft nicht an, welche Musik sie enthalten. Wie vermeidet man Fehlkäufe?
 
Robert Crumb: Das ist ja gerade das Wunderbare. Platten sind voller Überraschungen - schlechten wie guten. Als ich diese Musik aus Appenzell das erste Mal hörte, haute mich das regelrecht um. Ein anderes Mal kaufte ich auf einem Flohmarkt in Paris einen Stapel Platten. Darunter war eine Scheibe, aus der ich nicht schlau wurde. Ich konnte nicht erkennen, aus welchem Land sie stammte. Ich konnte das Label nicht lesen - nichts machte Sinn. Es war so fremdartig und exotisch - total mysteriös! Ich konnte es kaum erwarten, sie daheim auf mein Grammofon zu legen und hörte eine Musik, die mich aus den Schuhen kippte: ein Orchester spielte die wundersamsten Klänge auf dem Planeten. Pure Ekstase! Und immer noch konnte ich nicht lokalisieren, woher diese himmlische Musik kam. Ich recherchierte und fand nach einiger Zeit heraus, dass sie aus Madagaskar war. Es war eine Odèon-Aufnahme aus dem Jahr 1931 - die wundervollsten Klänge, die man sich vorstellen kann. So ein Glücksfall entschädigt für die viele Schallplatten, die man kauft, weil sie billig sind und die sich, wenn man sie dann hört, als Flops erweisen. Aber man nimmt das Risiko gerne in Kauf. Man muss viele schlechte Platten kaufen, um ein paar Perlen zu finden. Wenn ich zehn Schellacks auf einem Flohmarkt erwerbe und zwei davon stellen sich als toll heraus, ist das ein Grund zum Feiern.


 
Ich habe gehört, Sie unternähmen gelegentlich richtige Schellacksuchtrips durch die USA, um alte Junk-Shops zu durchwühlen. Der Sammler Chris Strachwitz hat mir berichtet, dass überall, wo er hinkommt, es heißt: “Robert Crumb war schon da!” 
 
Robert Crumb: Das ist ja lustig, weil, wo immer ich hinkomme, erklärt man mir, dass Chris Strachwitz vor drei Wochen schon hier war.
 
Sammler gelten als verschrobene Typen. Warum hat diese Leidenschaft so ein schlechtes Image?
 
Robert Crumb: Sammeln hat nichts Heroisches an sich. In Filmen ist der Held nie ein Sammler. Sammlern sind die pickeligen Typen, die daheim ihre Fundstücke bestaunen, während die anderen Jungs sich mit den Mädchen amüsieren. Aber egal: Jemand muss es machen! Ich habe oft das Gefühl: Ich rettete die Musikkultur, die auf diesen Schellacks bewahrt ist, vor dem Untergang. Damit leiste ich der Gesellschaft einen Dienst. Auf der anderen Seite erlebe ich das Sammeln als sehr selbstsüchtige Angelegenheit, die die niedersten Instinkte in mir zum Vorschein bringt: Neid, Gier! Ich verwandele mich in einen machiavellischen Schurken, wenn ich darüber nachdenke, wie ich an eine bestimmte Platte kommen könnte, von der ich weiss, dass sie jemand anderes besitzt. Ich überlege dann irgend einen komplizierten Tausch, den ich demjenigen aufschwatzen könnte, nur um diese Scheibe in meinen Besitz zu bringen - ekelhaft!
 
Kommen einem da nicht manchmal Zweifel?
 
Robert Crumb: Die ganze Zeit! Ich frage mich gelegentlich, ob ich eigentlich verrückt bin. Wenn ich auf irgendeiner Schallplattenbörse unter all diesen Männern stehen, die irgendeiner mysteriösen Schellack hinterherjagen und in kleine Notizbücher Nummern kritzeln, kann man schon ins Grübeln geraten. Was mache ich hier?  Will ich wirklich einer von diesen Irren sein? 
 
Sie haben viele Portraits von alten Bluessänger und Hillbilly-Musikanten gemalt. Spricht die Musik nicht für sich?
 
Robert Crumb: Ohne Frage. Trotzdem wollte ich diesen vergessenen Künstlern ein Denkmal setzen und ihnen meine Wertschätzung bezeugen. Darüber hinaus handle ich in missionarischer Absicht. Ich wollte so viele Menschen wie möglich auf diese fantastische Musik aufmerksam machen. Obwohl das manchmal sinnlos ist, weil die Musik von einigen der Musiker, die ich zeichnete, nie auf LP oder CD wiederveröffentlicht wurde. Es besteht also nur eine äußerst geringe Chance, dass man jemals ein Stück von Mumford Bean & His Itawambians zu Gehör bekommt. Die Band hat 1928 ihre einzigen beiden Stücke für eine Schellackplatte aufgenommen und ist dann wieder von der Bildfläche verschwunden, keine Re-Issue - nix!
 
Seit Sie in Frankreich leben, haben Sie auch alte französische Akkordeonspieler portraitiert. Warum?
 
Robert Crumb: Ich mag diese Musik. Ich habe ein ganzes Kartenspiel diesen Bal-Musette-Musikanten gewidmet, aber es verkauft sich schlecht. Nur wenige sind an diesem alten französischen Musikstil interessiert. Selbst in Frankreich kümmert man sich nicht um die eigenen Traditionen. 
 
In den 1970er Jahren haben Sie etliche Plattenhüllen für das amerikanischen Yazoo-Labels gemalt. Wie wurden sie zum Coverdesigner?
 
Robert Crumb: Der Chef des Yazoo-Labels, Nick Perls, hatte eine enorme Schellack-Sammlung und ich habe diese Cover-Bilder gegen Platten getauscht. Ich wurde mit alten Bluesscheiben entlohnt. Der Mann war sehr wohlhabend und kaufte alte Bluesplatten von Sammlern. Er hatte die unglaublichste Sammlung, vielleicht die größte und beste der Welt. Er hatte viele Dubletten. Sie allein wären schon eine grandiose Sammlung gewesen. Die besten der alten Blues-Scheiben, die ich habe, stammen aus diesem Regal. Perls war etwas geizig und gab mir nicht gerade viele Platten für meine Arbeit. Aber ich war so gierig, dass mir das egal war. Ich hätte mein letztes Hemd dafür gegeben.


Hatten sie schon davor Schallplattenhüllen entworfen?
 
Robert Crumb: Das erste Cover war für die LP “Cheap Thrills” von Janis Joplin, Big Brother & The Holding Company. Ich lebte damals in San Francisco. Die Band spielten überall, gehörte zum Grundinventar der Underground-Szene. Ich veröffentlichte meine Comics in der Underground-Presse. Dort haben die Band sie wohl gesehen und nahm mit mir Kontakt auf. Janis Joplin und Dave Getz, der Drummer, kamen mich besuchen und sagten, Columbia Records hätten ihnen einen Vorschlag fürs Cover gemacht, der ihnen nicht gefiele und ob ich nicht einen Entwurf machen könnte. Aber sie bräuchten ihn schon morgen. Ich warf etwas Speed ein, arbeitete die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen war das Ding fertig.


 
“Cheap Thrills” war acht Wochen lang Nr. 1 in den Hitparaden, das meistverkaufte Album von 1968. Das Cover war eine Sensation. Das muss Ihnen viele lukrative Aufträge eingebracht haben?
 
Robert Crumb: Nicht wirklich. Andere Rockbands fragten an, sogar die Rolling Stones, aber ich hatte wirklich kein Interesse für solche Bands  Schallplattenhüllen zu gestalten. Ihre Musik gefiel mir nicht.
 
Für das Arhoolie-Label entwarfen sie später eine wunderbare Plattenhülle für ein Album der Gruppe The Klezmorim. Sagte Ihnen Klezmer-Musik besser zu?
 
Robert Crumb: Auf jeden Fall! Ich kannte den Betreiber von Arhoolie Records, besagten Chris Strachwitz, schon länger. Er ist ein noch besessener Sammler als ich. Er sammelt die alte Tex-Mex-Musik vom Rio Grande. Er machte jeden Schellacksammler ausfindig und besuchte ihn, um ihm seine Tex-Mex-Scheiben abzuluchsen. Er kam auch zu mir und gab mir Blues- oder Hillbilly-Scheiben für meine mexikanischen Platten. So lernte ich ihn kennen. Wahrscheinlich tauschte ich auch das Cover für die Klezmorim-LP für ein paar Schellacks. 

Sie traten in den 70er Jahren als Banjospieler mit der Band The Cheap Suit Serenaders an die Öffentlichkeit. Woher kam das Bedürfnis selber Musik zu machen?
 
Robert Crumb: Gewiß nicht von meinen Eltern. Ich wollte immer schon Musik spielen, aber bekam keinerlei Ermutigung. Ich baute mir eine Ukulele aus einer Zigarren-Schachtel. Zu meinem 12. Geburtstag bekam ich dann eine Ukulele aus Plastik mit einer Spielanleitung (lacht höhnisch). Das war immerhin der Startschuß. Ich spielte für mich alleine, ziemlich isoliert, machte kaum Fortschritte, weil niemand da war, der mir etwas zeigen konnte. Erst in San Francisco 1967 traf ich ein paar Jungs, die Old Time Music mochten. Ich kaufte mir eine kleine Banjo-Ukulele auf einem Flohmarkt und wir fingen an, gemeinsam Musik zu machen. Ich spielte mit diesen Burschen schon fast zwei Jahre, als eines Tages einer sagte: “Crumb, es wird Zeit, dass du dir ein richtiges Instrument zulegst.” Er half mir ein ordentliches Banjo zu erwerben, das ich bis heute noch ab und zu spiele. Zuerst spielten wir nur so zum Spaß, dann aber auch in der Öffentlichkeit, wobei wir uns The Cheap Suit Serenaders nannten. Wir spielten populäre Musik der 1920er Jahre, ein paar Novelty-Titel, auch Ragtime-Nummern und Old Time Country Music. In manchen Stücken setzten wir eine singende Säge ein, was sehr gut ankam, wenn wir auf der Straße spielten. Die singende Säge zog Publikum an. Wir kämpften uns durch ein paar schwierige Ragtime-Nummern, auf die wir sehr stolz waren, aber kein Schwein blieb stehen. Kaum holten wir die Säge hervor, geschah das Wunder: Schlagartig bildete sich eine Zuhörermenge und es hagelte Groschen.
 
Sie haben gerade die Schöpfungsgeschichte als Comic illustriert. Warum?
 
Robert Crumb: Die Schöpfungsgeschichte ist Teil des kollektiven Gedächtnisses der westlichen Hemisphäre, sehr tief im Bewußtsein verankert. Das hat mich fasziniert. Aber die Arbeit schleppte sich hin, es ging nur langsam voran, bis meine Frau auf die Idee kam, mich in eine einsames Häuschen zu verfrachten, wo ich ungestört arbeiten konnte, sonst wäre das Ding nie fertig geworden. Das war goldrichtig. Ich zog mich in dieses Haus in den Bergen zurück. Außer meiner Frau wußte niemand, wo ich war. Ich verbrachte Wochen dort. Meine Frau brachte mir am Wochenende Essen, füllte den Kühlschrank. Es war himmlisch. Ich konnte mich völlig auf die Arbeit konzentrieren. Ich hatte noch nie eine solche Situation erlebt. Ich bekam einen ziemlich klaren Kopf. Es war wie im Kloster. Ich arbeitete am Schöpfungsgeschichten-Comic, spielte ab und zu ein bisschen Banjo oder Mandoline, malte etwas in mein Notizbuch, las Bücher. Paradiesisch! Ich machte Riesenfortschritte, auch was mein musikalisches Können betraf. Ich mag die Zurückgezogenheit. Ich arbeitete vier Jahre an der Sache. Dann hatte ich wirklich von der Bibel genug. Also malte ich wieder Pornographie!
 
CD:
McCamy’s Melody Sheiks (feat. Robert Crumb): There’s More Pretty Girls Than One (Arhoolie)
 
Buch:
R. Crumb: The Complete Record Cover Collection. 267 Abbildungen. Verlag W.W. Norton, London New York 2011.

Saturday 26 August 2023

Interview mit Robert Wyatt von Anfang 2021

“Ich verweigere mich der Tyrannei des Jetzt!“

 

Robert Wyatt über Jazz als Erleuchtung und als magische Kunst, Soft Machine, Matching Mole und ein Buch, das er mit seiner Frau Alfie Benge herausgegeben hat



Interview von Christoph Wagner

 

Robert Wyatt, 1945 in Bristol geboren, ist einer der profiliertesten Eigenbrötler der britischen Popszene. Als Teil der sogenannten “Canterbury Scene” wurde der Schlagzeuger Ende der 1960er Jahre mit Soft Machine bekannt. Nach einem Unfall, der ihn gelähmt zurückließ und fortan an den Rollstuhl fesselte, tat sich Wyatt als eigenwilliger Sänger und Songwriter hervor, der auf seinen diversen Soloalben mit Rockstars wie David Gilmore, Nick Mason (beide Pink Floyd), Phil Manzanera, Brian Eno (beide Roxy Music), Björk und Paul Weller zusammenarbeitete, aber auch Jazzmusiker wie Mongezi Feza oder Annie Whitehead heranzog. Seit Jahren lebt Wyatt zurückgezogen in der Grafschaft Lincolnshire und hat sich seit 2014 offiziell in den Ruhestand verabschiedet, den er jedoch immer wieder einmal verläßt. Zusammen mit seiner Frau Alfie Benge hat er das Buch “Side by Side” publiziert, das die Songlyrics der beiden seit den 1970er Jahren enthält. Außerdem war sein Gesang auf drei Songs des neuen Code-Girl-Albums (Titel: Artless Falling) der amerikanischen Gitarristin und Komponistin Mary Halvorson zu hören.

 

Sie sind seit längerem wegen einer Druckwunde (Dekubitus) ans Bett gebunden. Dazu kommt der Lockdown wegen der Pandemie. Welche Rolle spielt Musik in ihrem derzeitigen Alltag?

 

Robert Wyatt: Eine wichtige. Seit Wochen spiele ich immer wieder das neue Album von Mary Halvorson und ihrer Gruppe Code Girl. Es ist eine fantastische Platte, deren Musik mich fasziniert und bestimmt nicht deswegen, weil ich auf ein paar Titeln mit von der Partie bin. Ich halte “Artless Falling“ für eine wunderbare Einspielung, auf Augenhöhe mit den Besten der Besten, mit Mingus, Monk und Musikern solchen Kalibers. Die beteiligten Instrumentalisten sind grandios. Was mir besonders gefällt, ist, wenn die Musik scheinbar in freien Jazz übergeht, was aber eine Täuschung ist, weil jeder weiterhin im Takt bleibt. Es ist wie bei einem Schwarm von Fischen, der plötzlich komplett die Richtung ändert. Man fragt sich: “Wie ist das möglich in einer solchen Blitzgeschwindigkeit, ohne dass sie miteinander kollidieren?” Ähnlich intuitiv agiert die Gruppe von Mary Halvorson – einfach fabelhaft! Neben diesem aktuellen Album höre ich viel nostalgische Musik, Hardbop aus meiner Jugendzeit von Art Blakey oder Horace Silver. 

 

Hören Sie Musik übers Internet?

 

RW: Mein Sohn Sam, der Krankenpfleger ist und in seinen Fünfzigern, ist sehr technikaffin. Er versucht mich ständig ins 21. Jahrhundert zu zerren – mit bescheidenem Erfolg: Ich habe keinen Computer. Das Internet benutze ich nicht. Ich bin ein Leben lang ohne ausgekommen. Was soll das bringen? Allerdings hat mir Sam dieses kleine Alexa-Gerät installiert. Anfangs war ich skeptisch und fragte: “Kann ich damit russische Musik hören?” Sam musste das verneinen, außer vielleicht Rachmaninoff. Doch mit der Zeit entdeckte ich, was für eine tolle Sache Alexa ist. Ich frage nach Sonny Rollins und das Gerät spielt Stunden lang Musik von Rollins. Auch Titel, die ich noch nicht kannte. Oder Lee Konitz, der wunderbare Altsaxofonist, der so gedämpft spielt, was mir sehr behagt. Natürlich gibt es auch viel Schrott, aber wenn Alexa gut ist, ist sie wirklich gut. Das Gerät ist zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens geworden. Oft schlafe ich schlecht, habe Schmerzen und wache mitten in der Nacht auf. Dann setzte ich den Kopfhörer auf und Alexa und Sonny Rollins retten mich bis zum Morgen.

 

Was ist der Beweggrund für Sie, überhaupt Musik zu hören?

 

RW: Ich höre Musik nicht um der Musik Willen, sondern um einer Stimmung oder Gemütslage nachzugehen, meistens aus nostalgischen Gefühlen. Das hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass Kunst historisch nicht besser geworden ist, sondern nur ihr Gesicht verändert hat. Es gibt keinen Fortschritt in der Kunst oder in der Musik, und das Gegenteil zu behaupten, ist albern. Kunst sieht nur anders aus, und Musik hört sich nur anders an. Der Satz “eine bestimmte Musik ist ihrer Zeit voraus” ergibt für mich keinen Sinn. Deshalb habe ich null Ehrgeiz, auf der Höhe der Zeit zu sein und immer den neusten Trends nachzujagen. Davon habe ich mich schon vor Jahren verabschiedet. Wer kann die vielfältigen musikalischen Entwicklungen heute überhaupt noch übersehen bei dieser inflationären Überproduktion.

 

Wird mit dieser Erkenntnis aber nicht auch der Begriff der Avantgarde obsolet?

 

RW: Möglich. Oft waren ja Afroamerikaner die wirklichen Avantgardisten. Normalerweise hat zehn Jahre später jemand in Großbritannien ihre Musik kopiert und sich dann selbst als Avantgarde ausgerufen, was lächerlich ist. Die wirklichen Erfinder fielen dabei unter den Tisch. Charlie Parker wird von der Musikwissenschaft übergangen, wogegen Arnold Schoenberg gefeiert wird, weil er “einer von uns” ist. Dabei ist es absolut erstaunlich, welche Töne Charlie Parker zusammenbindet – unglaublich! Doch dafür erfährt er vom etablierten Musikbetrieb kaum Respekt. Als Dizzy Gillespie einmal gefragt wurde, was er an Charlie Parker schätzen würde, antwortete er: “Wie er von einer Note zur nächsten kommt!” Gillespie hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch hat Parker dafür nie die Anerkennung erhalten, die ihm gebührt. Für mich ist er einer der Helden meiner Jugend, und an meiner Bewunderung hat sich seither nichts geändert, sie ist höchstens noch größer geworden.


Robert Wyatt, daheim in Louth, 2007 (Foto: C. Wagner)



Wie kamen Sie zu Charlie Parker und zum Jazz überhaupt?

 

RW: Durch meinen älteren Bruder, der Jazzplatten hatte. Mein Vater hat sich dagegen eher für moderne Klassik interessiert: Bartok, Benjamin Britten, Hindemith. Aber er mochte auch Fats Waller sowie Duke Ellington. Da er Piano spielte, sah er natürlich, dass Fats Waller wirklich Klavier spielen konnte. Was Waller mit der linken Hand macht, ist erstaunlich. Ich sah Louis Armstrong mit dem Titel “Basin Street Blues“ im Film “The Glenn Miller Story“ mit James Stewart und June Allyson und war begeistert. Ich wurde dadurch ein Fan von schwarzer amerikanischer Musik und musste weinen, so schön empfand ich diese Nummer. Es war eine der ersten Schallplatten, die ich von meinem eigenen Geld kaufte.

 

Gingen ihre Eltern damals in Konzerte mit Ihnen?

 

RW: Da wir im Umland von London wohnten, besuchte meine Mutter mit mir Museen, aber auch Konzerte, Opern- und Ballettaufführungen in der Hauptstadt. An die Aufführung des Balletts “The Haunted Ballroom“ kann ich mich noch gut erinnern, weil mir das Bühnenbild magisch vorkam. Ich war damals so um die zehn Jahre alt und wie verzaubert. Aber die Begeisterung für Louis Armstrong war dann doch größer. Mein älterer Bruder hatte moderne Jazzplatten, Alben vom Modern Jazz Quartet etwa, was eine große Inspiration war. Ich erhielt damals Geigenunterricht, wechselte dann aber mit fünfzehn zur Trompete, was meinem Vater nicht gefiel. “Es gibt große Violinkonzerte, aber keine großen Trompetenkonzerte,“ gab er zu bedenken. Ich konterte mit dem Satz: “Ja, aber es gibt Miles Davis und Dizzy Gillespie.“ Deren Musik hatte ich in Paris kennengelernt, wo mich meine Eltern für längere Zeit bei Freunden untergebracht hatten. Und meine Gastgeber hatten Schallplatten von Miles und Dizzy. Niemand in England hatte damals solche Scheiben. Für mich war das eine Erleuchtung.

 

Kellerclubs waren damals der Ort, wo Jazz stattfand.…

 

RW: Das konnte ich mir nicht leisten. Als Duke Ellington nach England kam, besuchte ich eines seiner Konzerte, das spektakulär war. Es fand in einer Konzerthalle statt, und wir hatte Sitzplätze hinter der Band. Als ich nach einem Trompetensolo spontan Beifall klatschte, drehte sich der Trompeter um, und winkte mir zu. Ich war überwältigt vor Glück, dass der Trompeter von Ellington mir zugewunken hatte. Ellingtons Musik ist fantastisch, die Arrangements so erfinderisch und abwechslungsreich. Ich bin froh darüber, 1945 geboren zu sein, weil ich außer Ellington auch Eric Dolphy zweimal ‘live’ erleben konnte. Zuerst mit Charles Mingus, dann mit John Coltrane. Beide zählen bis heute zu meinen Favoriten. Mingus war so kreativ in seinen Arrangements, die melodischen Ideen sind außergewöhnlich und seine Musik visionär. Das Konzert der Mingus Band mit Eric Dolphy wurde nur noch von einem Auftritt des John Coltrane Quartets übertroffen, ebenfalls mit Dolphy. Damals wohnte ich nicht mehr bei meinen Eltern. Der Auftritt war absolut magisch, die Dramaturgie allein schon ungeheuer. Zuerst spielte die Ryhthmusgruppe mit Elvin Jones und McCoy Tyner alleine für etliche Minuten. Sie spielten ein ganz einfaches Riff, das anfangs ziemlich abgehangen, ja fast verschlafen wirkte, das sie dann aber ganz langsam immer mehr steigerten, ja geradezu hochpeitschten. Als sie dann diesen hypnotischen Groove erreicht hatten, betraten Coltrane und Dolphy die Bühne – von entgegengesetzten Seiten. Als sie sich in der Bühnenmitte trafen, setzten sie mit ihren Hörnern ein und es war unfaßbar. Die Kraft ihres Spiels haute mich schlichtweg um. 


Soft Machine, 1967 / vlnr Kevin Ayers, Robert Wyatt, Mike Ratledge (Foto: Promo/Cuneiform) 


Waren solche Konzerte für Sie der Impuls, Musiker werden zu wollen?

 

RB: Bevor die Beatmusik in Mode kam, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Schlagzeuger oder Musiker werden zu wollen. Aber als ich die Beatles oder die Stones das erste Mal hörte, dachte ich: “Das kann ich auch!”

Später dämmerte mir, dass es doch nicht so leicht ist, einen Sänger oder eine Sängerin mit dem Schlagzeug gut zu begleiten. Man muß sich zurückhalten, zurücknehmen, das Spiel in den Dienst des Songs stellen. Das lag mir nie. Schlagzeuger haben einen Minderwertigkeitskomplex. Sie glauben immer beweisen zu müssen, dass sie richtige Musiker sind. Deshalb trommeln sie meistens zu viel und viel zu laut. Sie wollen zeigen, was sie alles können. Das ist ein Problem. Man sollte sich vor Publikum eher zurückhalten, sich nicht  produzieren und fortwährend mit seinem Können protzen. Das hat etwas Exhibitionistisches. Miles Davis ging sogar noch weiter. Er sprach nicht mit dem Publikum. Er biederte sich nicht an. In dieser Distanz liegt eine Würde. Er blieb diese mystische Figur, weil er nicht mit Dir als Zuhörer sprach. Es war, wie wenn Du nur zufällig da wärst, und er im gleichen Raum zufällig mit seiner Band musizieren würde. Auch die Signale an seine Band war recht kryptisch. Er sagte nichts, drehte sich nicht einmal zu den Musikern um, sondern streckte nur zwei Finger in die Höhe und los gings. Da muss Du als Musiker jeden Moment hellwach sein. Das verlangt ungeheure Disziplin und beeindruckte mich schwer.

 

Sie haben gelegentlich Elvin Jones, den Drummer des Coltrane Quartets, als Einfluß genannt?

 

RW: Ich erinnere mich an ein Coltrane-Stück, bei dem Elvin Jones ein paar kurze Soli trommelt, immer 4-Takte lang, das übliche 4/4-Spiel. Nur spielt er nicht die üblichen Wirbel, sondern sein Spiel hatte eine rollende, wellenartige Qualität. Er ist immer vollkommen im Takt, aber es klingt nicht so, eher wie Freejazz. Es war, wie wenn er auf magische Weise zu den Anfängen des Swing zurückgekehrt wäre. Auch schloß er diese kurzen Soli nicht mit dem üblichen Beckenschlag und einem Kick in die Baßtrommel ab, sondern er setzte den Akzent einen Takt später, was echt verwegen war – eigentlich ungeheuerlich! Ein Bruch mit der Konvention – aber das war Elvin Jones! Dafür bewundere ich ihn. Kunst gefällt mir, wenn Künstler das Leben simulieren und Kunst zu einem lebenden Etwas machen. Elvin Jones war eine solche lebendige Kraft. Sein Spiel hatte nichts Mechanisches, vielmehr atmete es und pulsierte. 

 

Gab es noch andere Drummer, die Sie beeinflußten?

 

RW: Ein wichtiger Einfluß war mein Schlagzeuglehrer George Niedorf, ein Amerikaner, der in England lebte. Seine Haltung war: “Es gibt nur zwei Arten Schlagzeug zu spielen: Wie Philly Joe Jones oder falsch!” Er versuchte mir also das Schlagzeugspiel à la Philly Joe Jones beizubringen, was weit über mein Verstehen und Vermögen hinausging. Dennoch bin ich ihm dankbar. Ich bin froh zu wissen, wie Philly Joe Jones spielt, auch wenn ich das selber nie konnte. Ich kenne viele Musiker, die etwas Schwieriges lernen, um dann ein Leben lang schwierige Musik zu machen. Aber Technik ist kein Selbstzweck. Bob Dylan ist alles andere als ein Virtuose. Er hat soviel Technik, wie er braucht. Man sollte sich grundsätzlich fragen: “Zu was ist Musik nütze? Zu was ist sie gut?” Und daran sollte man sich ausrichten.


Soft Machine, 1968 vlnr Mike Ratledge, Hugh Hopper, Robert Wyatt (Foto: Promo / Cuneiform)



Absolvierten Sie all die Trommelübungen, lernten die Schlagmuster, Wirbel und Paradiddle?

 

RW: Bis zu einem gewissen Grad. Ich habe mich bei Soft Machine mehr damit beschäftigt, wie die Band optimal begleitet werden kann und wie das Schlagzeug mit dem Bassisten am besten zusammenklingt. Ich bin ein Bandmusiker. Die Band war meine Schule. Mit Soft Machine spielten wir ja viel in ungeraden Metren, wobei es darum ging, diese vertrakten Takte organisch und natürlich klingen zu lassen und nicht kompliziert und geometrisch. In 7/4tel-, 13/8tel-Takten und 15ner-Metren zu spielen und sie natürlich fließen zu lassen – das war die eigentliche Herausforderung. Ich unterteilte diese komplizierten Metren in kleine Untereinheiten und folgte sonst den Melodien, die Mike Ratledge oder Hugh Hopper komponiert hatten. Die Melodien gaben Halt. Sie mußten einem in Fleisch und Blut übergehen. Mike Ratledge, der Organist von Soft Machine, wollte, dass ich Notenlesen lerne. Aber was sollte das bringen? Er hatte keine Ahnung vom Schlagzeugspiel, und ich wollte mich von ihm nicht belehren lassen. Aber dieser Konflikt war ein Grund, warum mich die Band 1971 feuerte. Dazu kam mein Gesang, den sie nicht mochten. Ich blieb für die übrigen Mitglieder einfach ein bisschen zu ungebildet und rustikal, während sie immer gebildeter wurden. Sie schmissen mich aber letztlich aus der Band, weil ich zuviel trank, ein Alkoholiker war, und mich übel aufführte. Sie sagten nichts, schauten sich nur gegenseitig stumm an.


Soft Machine, 1969 im französischen Fernsehen (Youtube) 

 

War das ein Schock, als sie aus der Band flogen?

 

RW: Für mich brach die Welt zusammen. Es war, wie wenn dich deine große Liebe verläßt. Soft Machine war meine Familie, die Freunde, mit denen ich dauernd rumhing. Ich hatte die anderen ja erst in die Band gebracht. Anfangs bestand Soft Machine nur aus David Allen, Kevin Ayers und mir. Und dann kicken dich die Neuen raus. Das war schon ein Schock. Ein Grund, warum ich trank, war: Die Band entwickelte sich in eine Richtung, die mir widerstrebte. Die anderen wollten Jazzrock spielen, was mir absolut nicht gefiel. 


Robert Wyatt am 4. November 1971 auf dem 'Violin Summit' bei den Berliner Jazztagen (Foto: Jörg Becker)




Jazzmusiker glaubten damals, besser Rockmusik spielen zu können als Rockmusiker, weil sie technisch versierter waren….

 

RW: Genau! Jazzmusiker meinten, weil sie techisch besser Gitarre spielen konnten, könnten sie auch Rockmusik besser spielen. Welch ein Irrtum! Außerdem war es etwas opportunistisch, hatte oft rein ökonomische Gründe. Sie verkannten, dass Rockmusik eine ganz eigene Kunst ist mit eigenen Spielregeln, Werten und Gesetzen. Rockmusik muss man leben, um sie richtig spielen zu können. Ich liebe Jazz mehr als jeder andere, aber ich bin kein Jazzmusiker. Für meine Alben, engagierte ich später oft Jazzmusiker, stellte sie aber in einen anderen Kontext. Stars wie Miles Davis wurden von der Entwicklung überrollt. Die Beat- und Rockmusik stießen ihn vom Thron der populären Musik. Mit seinem elektrischen Jazz versuchte er wieder Anschluß zu gewinnen. Er war eifensüchtig auf die Rockmusiker und ihr riesiges Publikum. Der Jazz verlor damals sein Selbstbewußtsein. Bei Soft Machine trat dieser Konflikt ebenfalls zutage. Die neue Jazzrock-Richtung ging mir dermaßen gegen den Strich, dass ich mich immer mehr betrank. Ich fühlte mich in der Falle, und der Alkohol war der Notausgang. Es kam vieles zusammen: Meine Eltern hatte mich aus dem Haus geworfen, und dann schmissen mich meine Kumpels noch aus meiner eigenen Band. Ich war seelisch am Ende. Ich habe es nie verwunden. Ich stand vor dem Nichts: Was sollte ich nun tun? Mein Schlagzeugspiel war vollkommen auf Soft Machine abgestellt. Ich konnte nur Schlagzeug mit Soft Machine spielen. Was jetzt? 


Matching Mole 1972 mit Robert Wyatt mit Maske (Youtube)



 

Sie haben dann die Gruppe Matching Mole aus der Taufe gehoben…

 

RW: Ja, aber das war irgendwie künstlich. Es fühlte sich nie richtig authentisch an wie bei Soft Machine. Die Rettung war mein Sturz aus dem Fenster. Danach war es aus mit dem Schlagzeugspiel. Ich musste mich neu orientieren.


Matching Mole, 1972 (Foto: Promo / Cuneiform)

 

Wie kam Matching Mole zustande?

 

RW: Ich kannte die Musiker durch gemeinsame Freunde, den Bassgitarristen Bill MacCormick schon seit der Kindheit, als wir noch in kurzen Hosen herumliefen. Das Problem von Matching Mole war, dass niemand so richtig das Ruder übernehmen wollte, auch was die Musik betraf. Das war alles zu zögerlich, zu zurückhaltend. Bei Matching Mole wartete jeder auf den anderen, die Sache in die Hand zu nehmen. Es war ein interessantes musikalisches Patchwork, dem aber die letzte Überzeugung, die Durchschlagkraft fehlte. Ich konnte nicht der Steuermann sein. Damit war ich hoffnungslos überfordert und versagte als Bandleader. Andererseits konnte ich aber auch niemanden aus der Band werfen. Dazu war ich einfach nicht imstande. Zwei Ereignisse befreiten mich aus der mißlichen Lage: Ich traf meine Frau Alfie und brach mir das Rückgrat. 

 

Wie wichtig war Alfie Benge?

 

RW: Absolut wesentlich. Ohne sie hätte ich das alles niemals geschafft. Alfie hatte Kunst studiert, als Kunstlehrerin gearbeitet und war an diversen Filmproduktionen beteiligt. Wir lagen auf der selben Wellenlänge und hatte ungefähr die gleichen Schallplattensammlungen, von Sly & The Family Stone bis zu John Coltrane. Während ihres Studiums hatte sie als Bedienung in London im Ronnie Scott’s Jazzclub gearbeitet und kannte die Lieblingsgetränke der verschiedenen Jazzstars. Sie wusste, was Sonny Rollins trank und Ben Webster – das imponierte mir mächtig.

 

Es entwickelte sich über die Jahre eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen…

 

RW: Schon für das zweite Matching Mole Album und mein zweites Soloalbum “Rock Bottom” lieferte Alfie ein paar Lyrics. Ihre Poesie hatte eine musikalische Qualität, was den Rhythmus der Worte und den Satzbau anbelangt.


Nach dem Unfall, 1973


Schrieb sie Worte für Ihre Melodien oder Sie Melodien für ihre Worte?

 

RW: Nein, nein. Ich kann keine Melodien für Worte finden. Normalerweise ist zuerst die Melodie da. Dann versuchte Alfie, passende Verse dafür zu schreiben. Doch manchmal, wenn sie spontan einen Vers geschrieben hatte, meinte ich, eine kleine Melodie darin zu hören. Wenn es gut lief, entwickelte sich etwas daraus. So funktioniert unsere Zusammenarbeit: Gemeinsam jeder für sich! Meine Liedtexte sind ja eher kryptisch. Sie dagegen beschreibt Bilder, erzählt Geschichten, berichtet über Ereignisse, die tatsächlich passiert sind. So ergänzen wir uns prächtig. Das hat meinen Songs eine zusätzliche Farbe gegeben. Ab den 1990er Jahren war unsere Zusammenarbeit unverzichtbar für meine Musik. Außerdem war Alfie natürlich weiterhin eine Künstlerin, die malte. Ihre Bilder sind mit den Alben entstanden und zieren etliche der Covers.


Mit Alfie Benge


Gerade ist das Buch “Side by Side“ erschienen, das die Songlyrics ihrer gesamten gemeinsamen Karriere enthält. Wie kam es dazu? Sie gingen doch 2014 in Rente.

 

RW: Der Buchverlag Faber & Faber trat mit der Idee an uns heran. Wir waren völlig überrascht. Ich schreckte zuerst davor zurück, dachte, ich hätte doch eh nur maximal 20 Songs geschrieben und Alfie ebenfalls nur ein paar wenige. Als wir dann aber die Schubladen in unserem Haus durchkramten, kamen immer mehr Liedtexte zu Tage. Erst da wurde uns allmählich bewußt, wieviel wir über die Jahre geschaffen hatten. Wir wollten unbedingt auch Bilder dabei haben. Das macht ein Buch viel interessanter. Wir haben dann die Seiten mit kleinen Kritzeleien, Cartoons, Illustrationen und Zeichnungen angereichert, die unsere Suche nach Lyrics ebenfalls zu Tage gefördert hatte. Wir legten uns mächtig ins Zeug, daraus ein schönes Buch zu machen, eine Art Retrospektive auf unser gemeinsames kreatives Leben. Alfie hat immer Tagebuch geführt, was sich als sehr nützlich erwies. Sie konnte immer wieder den Kontext zu einem bestimmten Songtext rekonstruieren, der vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren entstanden war. Es war harte Arbeit, aber ich bin froh, dass wir es durchgezogen haben. Bald darauf sind wir beide krank geworden. Vielleicht war es unsere letzte Chance ein derart großes Projekt zu stemmen. Mancher Text erinnerte mich an die dunklen Episoden meines Lebens, als ich Alkoholiker war. Das war peinlich. Ich habe erst vor ca. 15 Jahren mit dem Trinken aufgehört. Ich war lange Zeit der Überzeugung, dass ich ohne Alkohol nicht kreativ sein könnte. Der Alkohol feuerte mich an. Er erlaubte mir mehr zu wagen als in nüchternem Zustand: Freche Wortspielereien, Albernheiten, absurder Blödsinn, solche Sachen. Es ist ein kleines Wunder, dass ich bis heute nicht rückfällig geworden bin.

 

In Ihren Songs findet man kleine verdrehte Wortspiele. Wie wichtig ist Humor für Sie?

 

RW: Wenn ich nicht Musiker geworden wäre, wäre ich Komiker geworden. Ich mag solche witzigen Hintersinnigkeiten und Skurrilitäten. Was niemand weiß: Einer der größten Komiker war der englische Jazzsaxofonist und Jazzclubbetreiber Ronnie Scott. Er wusste es nur nicht. Doch seine Bühnenansagen waren so trocken und voll hintergründiger Ironie, das man sich krümmte vor Lachen. 



Im Buch findet sich ein Song mit dem Titel “Dada was here“. Gibt es einen Bezug zum Dadaismus?

 

RW: Eigentlich sind es die Fragen meines kleinen Sohns, Fragen eines kleinen Kinds an seinen Vater, der abwesend ist und vermißt wird. Ich war damals mit Soft Machine und der Jimi Hendrix Experience auf US-Tournee fast das ganze Jahr 1968. Das ist der Kontext. Die zweite Ebene ist natürlich Dada. Ich hatte immer ein Interesse am Absurden in der Kunst. Dada war eine wichtige Bewegung in der europäischen Kunst im 20. Jahrhundert. Die Dadaisten stießen die Tür zum Absurden auf. Ich mag ihre Wortspiele, die mit doppelten Bedeutungen arbeiten, alberne Worte erfinden oder kleine Sätze zu Absurditäten verdrehen. 

 

Sie waren immer auch ein politischer Mensch, einst Mitglied der kommunistischen Partei Großbritanniens. In neuerer Zeit haben Sie sich für Jeremy Corbyn engagiert. Welche Erfahrung gingen damit einher?

 

RW: Meine politischen Überzeugungen haben mich recht einsam gemacht. Dass ich weiterhin für einen Austritt aus der Nato plädierte, weil ich die Nato nicht für einen Verteidigungspakt halte, sondern für eine große Gefahr, hat mich etliche Freunde gekostet. Aber ich kann nicht anders. Ich kann meine Überzeugungen nicht verleugnen. Die tägliche Wirklichkeit finden ich nur noch schwer erträglich. Ich muß mich davor schützen, abschirmen. Darum habe ich mich immer mehr in einen nostalgischen Kokon eingesponnen und beschäftige mich mit den Dingen, die ich früher – in der Welt der Vergangenheit – gemocht habe. Ich höre mir alte Jazzplatten wieder an und höre sie heute anders. Auch die Popsongs meiner Jugend, die mir lange peinlich waren, habe ich inzwischen zu schätzen gelernt. Es ist erstaunlich, was die Zeit überdauert. Gute Popsongs bleiben gute Popsongs, auch nach 70 Jahren. Ich verweigere mich der Tyrannei des Jetzt. Viele Leute halten mich für einen Rebellen. Aber das bin ich gar nicht. Ich würde gerne mit dem Mainstream übereinstimmen, doch leider teile ich dessen Überzeugungen nicht. Manche meinen, ich würde die Einsamkeit des Außenseiters suchen. Genau das Gegenteil ist der Fall.

 

Robert Wyatt & Alfie Benge: Side by Side (Faber & Faber)

Mary Halvorson's Code Girl feat. Robert Wyatt: Artless Falling (Firehouse 12 Records)


Das Interview wurde im Januar 2021 geführt und zuerst von der Zeitschrift Jazzpodium publiziert