Thursday 30 November 2023

Buchbesprechung: Peter Kemper – Sound of Rebellion

Widerstand

Die politische Geschichte des afroamerikanischen Jazz

 Jazz Composers' Guild, New York City 1964



 

cw. Wenn ein Buch „The Sound of Rebellion“ heißt, an wen denkt man da? Joan Baez, Gil Scott-Heron, vielleicht Ton Steine Scherben? Peter Kemper schlägt eine andere Richtung ein, die der Untertitel „Zur politischen Ästhetik des Jazz“ andeutet: Auf 750 Seiten geht es (fast) ausschließlich um die Widerstandsgeschichte des schwarzen Jazz in den USA.

 

Achtzehn Kapitel umfaßt das Buch, die chronologisch jeweils eine andere Musikerpersönlichkeit ins Zentrum rücken. Duke Ellington, Billie Holiday, Max Roach und Abbey Lincoln werden behandelt, auch Charles Mingus, Sun Ra, Albert Ayler und John Coltrane portraitiert, um mit Kamasi Washington, Matama Roberts und Moor Mother in der Gegenwart zu landen. Kempers Fragestellung ist immer dieselbe: Wie setzten bzw. setzen sich afroamerikanische Jazzmusiker und -musikerinnen mit der rassistischen Diskriminierung auseinander? 

 

Das Buch beginnt mit Louis Armstrong, der durch seine Erfolge zuerst zum Stolz der afroamerikanischen Community wurde, dann aber durch Anbiederungen an die weiße Mehrheitsgesellschaft bei Rassismus-Kritikern in Ungnade fiel, die er allerdings durch ein einziges Interview eines Besseren belehrte. Darin klagte der schwarze Jazztrompeter aus New Orleans den amerikanischen Präsidenten der Untätigkeit im Streit um den Schulzugang schwarzer Kinder an, sprich: der Komplizenschaft mit weißen Rassisten, wobei er auch im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung nicht bereit war, die Anschuldigungen zurückzunehmen.  

 

Andere Kapitel erweitern den Blickwinkel und beschreiben Organisationsversuche schwarzer Gegenmacht. Im Kapitel über das Art Ensemble of Chicago wird die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) erwähnt, eine Musikerselbsthilfeorganisation, die 1965 in Chicago gegründet wurde. Ähnliche Ziele verfolgte die Jazz Composers‘ Guild, die ein Jahr zuvor in New York die „October Revolution in Jazz“ ausgerufen hatte. Kemper widmet ihr ein ganzes Kapitel und zeichnet die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten nach, benennt Widersprüche und gegenseitige Animositäten, die letztlich zum raschen Verfall der Guild führten, während die AACM bis heute besteht. 


 

Das Buch ist eine Riesenleistung, auch wenn man nicht jede Einschätzung teilt und auf so manche Abschweifung zugunsten einer detaillierteren Betrachtung etwa von Rahsaan Roland Kirk gerne verzichtet hätte, der sich als blinder Schwarzer nicht auf „Planet Earth“ sondern auf „Plantation Earth“ wähnte. Faktensicher entfaltet Kemper das Thema in äußerst profunder und detaillierter Form, ohne den kritischen Blick auf die Protagonisten zu verlieren, wobei am meisten verblüfft, in welch souveräner Manier er als „alter weißer Mann“ (Kemper) durch dieses identitätspolitsch stark verminte Gelände pirscht – Chapeau! 

 

Peter Kemper: The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz. 752 Seiten, 81 Abbildungen; Reclam Verlag; 38.- Euro


Marion Brown im französischen Fernsehen, 1967 (Youtube)



Cecil Taylor Unit 1969 'live' in Kopenhagen mit Andrew Cyrille (dr), Sam Rivers (tenor-sax) und Jimmy Lyons (alt-sax) (Youtube)



Zum Tod von Shane MacGowan (25. Dezember 1957 – 29. November 2023)

Irischer Punk-Rebell

 

Schon länger schwer angeschlagen, ist Pogues-Sänger Shane MacGowan jetzt im Alter von 65 Jahren gestorben. Das Weihnachtslied „Fairytale of New York“ bleibt sein großes Vermächtnis

 



cw. Das eigentliche Wunder ist, dass er überhaupt so alt wurde. Schon seit langem war Shane MacGowan von seinem einst ausschweifenden Lebenswandel schwer gezeichnet. Die Jahre im Dauer-Delirium von „Streams of Whiskey“ (Songtitel) und Heroin hatten seine Gesundheit ruiniert. Jetzt ist der Sänger der irischen Folkpunkgruppe The Pogues verstorben. Der Song „Fairytale of New York“, den er im Duett mit Kirsty MacCall sang, gilt als sein bleibendes Vermächtnis. Das Lied wurde zum Evergreen und modernen Weihnachtslied schlechthin, was MacGowan zu einer weltweit bekannten Persönlichkeit machte. Sein Markenzeichen: Zähne, die den zerklüfteten Felsen von Dover glichen, nur nicht so weiß. 

 

MacGowans künstlerisch kreativste Zeit fiel in die 1980er Jahre, als er mit den Pogues Musikgeschichte schrieb: Er war es, der den gemeinsamen Glutkern von Folk, Rock ‘n‘ Roll und Punk erkannte und unter einen Hut brachte. Er lieferte damit die Blaupause für ein Modell, das nicht nur in Irland, Schottland oder England, sondern überall auf der Welt kopiert wurde und der Weltmusik-Bewegung erst auf die Sprünge half. Shane MacGowan machte deutlich, wie aufregend, wild und modern traditionelle Musik klingen konnte. 

 

Mit bahnbrechenden Songs wie „Thousands are Sailing“ oder „If I Should Fall from Grace with God“ sowie Neuinterpretationen von irischen Klassikern („Dirty Old Town“), dazu einem energiegeladenen Sound aus traditionellen Instrumenten (Tin-Whistle, Akkordeon, Mandoline und Banjo) und Rockinstrumenten wie E-Gitarren und Schlagzeug, wies der charismatische Sänger der traditionellen Musik den Weg in die Zukunft. Das machte ihn zum Vorbild für eine ganze Generation von jungen Musikern, die gleichfalls nach der musikalischen Zauberformel zwischen Tradition und Moderne suchten. 


In seinen Teenagerjahren als Shane O'Hooligan bekannt 




Doch vielleicht konnte diese Synthese von alt und neu nur einem wie ihm gelingen. Aufgewachsen im irischen Milieu im Südosten von England und wegen Drogen von der Schule in London geflogen (damals lautete sein Spitzname Shane O'Hooligan), wurde die irische Folkmusik zum Rettungsring für MacGowans Selbstverständnis und der Punkrock zum Ausdrucksmittel seiner rebellischen Natur. Als Sproß einer Emigrantenfamilie trieb er sich in den irischen Pubs der englischen Hauptstadt herum, wo das musikalische Erbe der grünen Insel in der Diaspora bei wöchentlichen Hinterzimmer-Sessions mit viel Guinness gepflegt wird. Gleichzeitig traf man ihn im Milieu von Punks und Squatters, die in besetzten Häusern im Londoner Westen Partys feierten und wo bei viel Schweiß und noch mehr Whiskey die Rebellion musikalisch geprobt wurde, was auf das feurige Gemüt des jungen Iren als Ansporn wirkte. 

 

MacGowan, der einst Priester werden wollte, sah sich als „freidenkender katholischer Fanatiker“, wobei er sich offen zum bewaffneten Kampf der IRA bekannte („Ich war nur zu feige, beizutreten“). Mit fortwährenden Exzessen nervte er seine Bandkollegen derart, dass sie ihn noch während einer Tournee 1991 hochkant aus der Band warfen. Den eigenen Bandgründungen, allen voran The Popes, war nur mäßiger Erfolg beschieden, sodaß MacGowan ein Jahrzehnt später zu seiner ursprünglichen Formation zurückkehrte, die ohne ihn ebenfalls nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Daran konnte auch Joe Strummer von The Clash als Ersatz nichts ändern.



Eine Dokumentation namens „Crock of Gold – A Few Rounds with Shane MacGowan“ des Filmemachers Julien Temple, 2020 von Johnny Depp produziert, zeigt ihn bereits als schwerkranken Mann, im Rollstuhl sitzend, doch mit restaurierten Zähnen, der seine Statements nur noch schwer verständlich und wie in Zeitlupe brummelt, während seine Frau Victoria Mary Clarke den Alltag des Pflegebedürftigen organisiert. Am Weihnachtstag 2023 wäre Shane MacGowan 66 Jahre alt geworden. Sein Vermächtnis wird ihn weit überdauern.

The Pogues – Dirty Old Town (youtube)


The Dubliners & The Pogues: The Irish Rover (Youtube)





Tuesday 28 November 2023

John Mayall zum 90sten

Der Blues-Messias


1969 spielte John Mayall sein erstes Konzert in Südwestdeutschland. Am 29. November 2023 wird der englische Blues-Pionier 90 Jahre alt 

John Mayall 1969 in Stuttgart (Foto: Jörg Becker)  


cw. Nachdem Jimi Hendrix im Januar 1969 mit seinem Auftritt in der Stuttgarter Liederhalle zum ersten Mal den damals neuen Underground-Rock nach Südwestdeutschland gebracht hatte, legte John Mayall ein paar Wochen später nach. Der „Urvater des weißen Blues“ kam damals mit einer superben Band in die Landeshauptstadt und demonstrierte sein Können mit solcher Leidenschaft, dass die Fans völlig aus dem Häuschen waren. Hunderte, die keine Eintrittskarten mehr bekommen hatten, stürmten die Liederhalle, wobei es zu erheblichem Sachschaden kam. „Nach dem Ende des Konzert machten jugendliche Besucher mit tumultartigen Szenen ihrer Begeisterung Luft,“ berichtete die Presse. „Unzählige Bluesfans stiegen mit ihren Straßenschuhen auf die Polstersessel und begannen auf ihnen wie auf einem Trampolin herumzuspringen.“ 

John Mayall 1969 in der Stuttgarter Liederhalle (Foto: Jörg Becker)


Im Gegensatz zu Jimi Hendrix, der mit seinem ohrenbetäubenden Gitarrenspiel die Liederhalle zum Erzittern gebracht hatte, schlug John Mayall sanftere Töne an. Seine Band war ein Quartett, das hauptsächlich akustische Instrumente wie Saxofon, Mundharmonika und akustische Gitarre verwendete und aufs Schlagzeug völlig verzichtete, was damals ziemlich ungewöhnlich war. Dennoch schaffte es Mayall mit Nummern wie „Room to move“ die Fans in Verzückung zu versetzen, ein Titel, bei dem er sein Können auf der „Blues Harp“ voll ausspielen konnte.  

Abgesehen von seinem Harmonikaspiel, war Mayall, der auch Gitarre und Piano spielte, nicht gerade der größte Virtuose, doch bewies er immer eine gute Nase für außergewöhnliche Talente. Nicht nur Gitarrengott Eric Clapton begann bei Mayall’s Bluesbreakers seine Karriere, auch Peter Green und Mick Fleetwood von Fleetwood Mac und Mick Taylor von den Rolling Stones durchliefen Mayalls musikalische Kaderschmiede.

John Mayall (mit Stephen Thompson (Baß), Jon Mark (akustische Gitarre) und Johnny Almond (Saxofon)) 1970 in Ulm (Foto: Johannes Andele)

 
1933 in Macclesfield geboren, einer Kleinstadt südlich von Manchester in Nordengland, begann sich Mayall schon früh für den Blues zu interessieren. Nach dem Krieg brachte der englische Bandleader Chris Barber erstmals schwarze Bluesmusiker wie Muddy Waters zu Konzerttoruneen nach Großbritannien, und Mayall hörte genaustens hin. Bald gründete er seine eigene Gruppe namens Powerhouse Four, die sich kurze Zeit später in Blues Syndicate umbenannte und in der John McVie Baß spielte, der später mit Fleetwood Mac zu Weltruhm kam. 

Nach dem Ende des Blues-Booms wurde es in den 1980er Jahren etwas ruhiger um John Mayall, der in den USA in einem Baumhaus wohnte und von dort weiterhin zu weltweiten Tourneen aufbrach. Bei seiner Feier zum 70. Geburtstag brachte ihm Eric Clapton, Mick Taylor und Chris Barber ein Ständchen.

John Mayall (Gitarre) mit Duster Bennett (Harmonika) 'live' in Ulm (Foto: Johannes Andele)

Schon immer ging Mayall mit der Zeit und frischte seine Band mit jungen Talenten auf. Das ist heute nicht anders als in den 1960er Jahren. Sein Auftritt am 7. April 2019 im Stuttgarter „Wizemann“ war so gesehen eine Premiere: Erstmals wurde die Leadgitarre von einer Frau gespielt. Carolyn Wonderland entpuppte sich als Ausnahmetalent, wobei ihr Familiennamen als Zeichen verstanden werden konnte: Frau Wonderland katapultierte das Publikum mit rasanten Soli ins Wunderland des Blues, wobei sie so souverän und gefühlvoll in die Saiten griff, als sei sie einst bei Eric Clapton in den Unterricht gegangen.

"Let's Get Together" von Jimmy Reed gespielt von John Mayall & The Bluesbreakers, ca. 1970 (mit u.a. Duster Bennett (Gesang, Harmonika, Gitarre), John Mayall (Mundharmonika), Jon Mark (akusitsche Gitarre), Stephen Thompson (Baß), Johnny Almond (Saxofon) (youtube)




Saturday 25 November 2023

Buchbesprechung: George E. Lewis & Harald Kisiedu – Composing while black

Composing while black

 

George E. Lewis‘ und Harald Kisiedus Buch über die Geschichte einer systemischen Diskriminierung

 


 

cw. Das Thema dieses Buchs ist die Diskriminierung afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen in der zeitgenössischen Musik. George E. Lewis, Komponist, Improvisator und Autor, beschreibt mit Co-Herausgeber Harald Kisiedu die Geschichte dieser monumentale Ungerechtigkeit, wobei – im Gegenzug – von unterschiedlichen Autoren und Autorinnen verschiedene schwarze Komponisten und Komponistinnen portraitiert bzw. interviewt und ihre Werke analysiert werden. 

 

Die Veröffentlichung – zweisprachig in deutsch und englisch – beginnt mit der Society of Black Composers, zu der sich 1968 in New York ungefähr 50 afro-amerikanische Komponisten und Komponistinnen (unter ihnen Herbie Hancock, Ornette Coleman und Archie Shepp) zusammenschlossen. Das Ziel: die Institutionen des zeitgenössischen Musikbetriebs zu einer Öffnung zu bewegen und dauerhaft umzukrempeln. Allerdings waren die Beharrungskräfte so stark, dass erst ein halbes Jahrhundert später spürbar Bewegung in die Sache kam. Als Indiz dafür kann gelten, dass bei den Darmstädter Ferienkursen, dem heiligen Gral der zeitgenössischen Avantgarde, neben George E. Lewis, auch Anthony Braxton und Tyshawn Sorey als Dozenten wirkten, was zuvor nahezu undenkbar gewesen wäre.

 

Das Buch zeichnet in verschiedenen Essays das Leben und Werk afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen nach, so u.a. von Tania Léon, Andile Khumalos, Charles Uzor und Anthony Davis, beschreibt die Vorurteile, Schwierigkeiten und ethnischen Zuordnungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen (und sehen). Ein langes Interview mit Alvin Singleton, dem ersten schwarzen Komponisten, der bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt präsent war, bildet den Kern der Publikation.

 

Dabei wird überdeutlich, dass es bei dem Konflikt letztlich um Macht geht, was gleichbedeutend mit Geld ist, also um die Frage, wer öffentliche Mittel für Kompositionsaufträge, Stipendien, Konzert- und Festivalauftritte verteilt und nach welchen Kriterien dies geschieht. Dass hier lang-etablierte Seilschaften öffentlicher Institutionen und akademische Netzwerke die Strippen ziehen, kann nur Naive und Gutgläubige verwundern.



 

Die Herausgeber machen klar, dass sie ihre Mission nicht als Identitätspolitik (miß-)verstanden wissen wollen, obwohl in einzelnen Beiträgen „Wokeness“ die Perspektive bestimmt. Vielmehr geht es den beiden um die Erweiterung und Bereicherung der ästhetischen Erfahrung für den bis heute eurozentrischen E-Musikbetrieb, um vielleicht irgendwann in Zukunft einmal zu einer „farbenblinden“ Position zu gelangen, bei der nicht mehr „gender, race and identity“ das Urteil über Musik bestimmen, sondern allein Fragen der ästhetischen Qualität.  

 

George E. Lewis / Harald Kisiedu (Hg.): Composing While Black – Afrodiasporische Neue Musik Heute (Wolke Verlag, deutsch & englisch, 328 Seiten, mit wenige SW-Abbildungen; E 29.-)

 

Friday 24 November 2023

AUGEundOHR 29: Auswanderer-Hochzeit in den USA mit Musikkapelle

Eine Hochzeit ohne Musik – unvorstellbar! Das historische Foto von ca. 1910 aus den USA zeigt ein Vermählungsfeier. Die Gäste, alle in Festkleidung, haben sich um das Brautpaar in der Mitte der zweiten Reihe (rechts und links die Eltern der Neuvermählten) plaziert. Fünf Musiker mit zwei Geigen, zwei Trompeten und einer Querflöte haben in der ersten Reihe Platz genommen und sich um den Korb an Bierflaschen herum gruppiert. Alkohol, Tanzmusik und Ausgelassenheit bildeten bei solcherart Festen eine unzertrennliche Einheit.
 

MUSIC JOKES 7: Mild Davis


 

Thursday 16 November 2023

James Brandon Lewis in Singen

In den Fußstapfen von Riesen

Der neue Star des amerikanischen Jazz James Brandon Lewis in Singen zu Gast


James Brandon Lewis Quartet in Singen (Fotos: C. Wagner) 



 

cw. Der Pianist haut kräftig in die Tasten, während der Bassist wuchtig die Saiten anschlägt und der Schlagzeuger einer donnernden Rhythmus trommelt – und dann setzt mit mächtigem Ton wie ein Orkan das Saxofon ein. Voll und voluminös läßt der afro-amerikanische Jazzmusiker James Brandon Lewis sein Horn erklingen. 

 

In den letzten fünf Jahren hat sich der Saxofonist aus New York von einem Niemand in die erste Reihe des internationalen Jazz gespielt und zieht mittlerweile eine beachtliche Menge an Jazzfans an, wie das Konzert beim Jazzclub Singen zeigte. In seinen verschlungenen Melodielinien klingt das Echo der langen Geschichte des Jazzsaxofons wider, wobei Übervater John Coltrane alle überragt. James Brandon Lewis bewegt sich in den Fußstapfen von Riesen. 

 

Doch genauso stark wie der Einfluß von Coltrane ist die schwarze Gospelmusik. Sie verleiht Brandon Lewis‘ Spiel eine vokale Qualität, als würde er sein Instrument „sprechen“ lassen, ähnlich einem afro-amerikanischen Priester, der sich in Ekstase predigt. Ein Stück, das der Saxofonist völlig alleine spielt, gleicht dann auch in seiner ruhigen, hymnischen Kraft einer Gebetsandacht.


 

Seit 2012 ist James Brandon Lewis in New York daheim und hat ungefähr mit jedem Musiker gespielt, der im Jazz momentan Rang und Namen hat. All diese Bandprojekte zeugen von der enormen Bandbreite an Stilen, in denen sich der Tenorsaxofonist souverän zu bewegen weiß. Einerseits führt er das Erbe der schwarzen Jazztradition fort, andererseits taucht er immer wieder in moderne Klangwelten ein, ob „funky“ oder rockig.    

 

Das Repertoire, das er mit seinem Quartett präsentiert, reicht von druckvoll-expressivem Powerplay bis zu lyrisch-versunkenen Balladen und enthält rasante Tempostücke genauso wie Kompositionen gemächlicherer Gangart. Der Bandleader weiß, wie man Kontraste setzt, wobei ihm mit Aruan Ortiz (Klavier), Brad Jones am Bass und Schlagzeuger Chad Taylor drei absolute Könner zur Seite stehen. 


 

Oft gehen die Musiker mit ihren Stücken bis an die Grenzen von Harmonik und Rhythmus, um sich dann ins freie Spiel der schieren Ekstase zu stürzen. Bei solcher „Fire Music“ wird Brandon Lewis‘ Horn zu einem feuerspeienden Flammenwerfer, während seine Mitmusiker sich gleichfalls in vulkanartigen Ausbrüchen ergehen. Kaum ist der Klimax erreicht, schaltet der Bandleader drei Gänge zurück und haucht in sein Instrument ganz zart und fein. 

 

Was den Hörgenuss etwas störte, war die Unausgewogenheit des Gruppenklangs: Das Schlagzeug war zu laut und überdeckte oft die Feinheiten des Pianospiels. Auch hätte wohl ein einziges Schlagzeugsolo genügt, während drei Trommelorgien dann doch eindeutig des Guten zu viel waren.  

 

Tuesday 14 November 2023

Oscar-Gewinner Volker Bertelmann im Interview

Nicht immer das volle Besteck

 

Seit Jahren spielt er als Hauschka experimentelle Klaviermusik, dann gelang ihm mit dem Soundtrack zu „Im Westen nichts Neues“ ein Volltreffer. Volker Bertelmann über seine Oscar-gekrönte Filmmusik, und wie die Filmarbeit sein Klavierspiel beeinflußt 


Volker Bertelmann 



Christoph Wagner: Wie sind Sie an die Filmmusik von „Im Westen nichts Neues“ herangegangen?

 

Volker Bertelmann: Der Regisseur Edward Berger und ich haben bereits drei Filme zusammen gemacht, insofern waren wir mit der Art wie wir zusammenarbeiten vertraut. Er hat mich angerufen: „Willst du mal nach Berlin kommen und Dir den Film anschauen? Wir sind schon recht weit.“ Wir haben uns das dann – sozusagen – im großen Kino angeschaut. Da konnte man schon sehen, welche Wucht diese Bilder haben. Danach haben wir kurz gesprochen, wobei Berger drei Wünsche äußerte: Die Bilder sollten von der Musik nicht gedoppelt, sondern zerstört werden. Ich sollte etwas machen, was ich noch nie gemacht habe, und drittens sollte die Musik die Seelenlage des jungen Soldaten Paul Bäumer widergeben. Schon auf der Heimfahrt wurde mir klar, dass ich die damalige Zeitepoche irgendwie mit den Klängen einfangen und gleichzeitig etwas Modernes schaffen muss. Ich dachte an ein analoges Instrument, das aus der damaligen Zeit stammt. 

 

Was bot sich an? 

 

VB: Ich hatte ein Harmonium, das immer schon bei uns in der Familie war. Gleich am nächsten Tag fing ich an, mich damit zu beschäftigen. Die erste Idee waren die drei Töne, die am Anfang des Films zu hören sind, die habe ich direkt am Tag danach aufgenommen, was bei einer Filmmusik recht ungewöhnlich ist. Normalerweise erarbeitet man über Wochen diverse Vorschläge, und der Regisseur wählt dann denjenigen aus, der seinen Vorstellungen am nächsten kommt. In diesem Fall war es anders. Ich hatte diese eine starke Idee. Ich habe sie gleich Edward Berger geschickt, um zu sehen, ob er ähnlich empfindet. Er hat sofort am nächsten Tag geantwortet und war total euphorisch. Er sagte, das ist genau das, was wir brauchen. Das war natürlich toll. 

 

Wie nützlich war Ihre Erfahrung als experimenteller Pianist für die Filmarbeit?

 

VB: In all den Jahren als Hauschka habe ich viel über Musik gelernt, etwa zu improvisieren, was für mich eines der grundlegenden Elemente des Musikmachens ist. Außerdem haben mir meine Erfahrungen mit der Soundmanipulation sehr geholfen, weil das Prinzip der Präparation auf fast alle Instrumente übertragbar ist. Man kann nicht nur das Klavier präparieren, sondern auch Geigen oder Schlagzeug. Bei „Im Westen nichts Neues“ gibt es präparierte Bassdrums. Da haben wir viel Müll drauf gepackt, der durch die Schläge hochflog und dann scheppernd landete. Das gab so eine Art natürliches Delay hinter dem eigentlichen Schlag. All diese Experimente sind der Ursprung meiner Freude am Musikmachen. Es ist nicht nur die Melodie, der Sound ist genauso wichtig. 

 

Im Prinzip sind Sie ein experimenteller Musiker geblieben ....

 

VB: Das sehe ich ähnlich. Man braucht Mut, geltende Grundsätze über den Haufen zu werfen. Wir haben z. B. das Orchester aufgenommen, die Aufnahmen dann aber noch einmal in den Computer gepackt und daran rumgebastelt mit verschiedenen Effekten. Davon wurde wiederum eine Partitur erstellt, die wir erneut mit dem Orchester aufgenommen haben. Dadurch eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten. 


Volker Bertelmann alias Hauschka am präparierten Klavier



 

Gibt es Vorbilder, Filmkomponisten, die Sie beeinflußt haben? 

 

VB: Der amerikanische Komponist John Williams, bekannt u.a. durch die Musik für „Der weiße Hai“ war immer jemand, den ich bewundert habe, auch wenn er eine ganz andere Art von Musik macht. 

 

... er schafft Spannung mit Streicherklängen, weil man nie weiß, wann der Hai zuschnappt ....

 

VB: Genau! Jonny Greenwood, eigentlich Gitarrist von Radiohead, ist einer aus der jüngeren Zeit, dessen Soundtrack für „There will be Blood“ ich fantastisch fand. Er hat auch diesen Ansatz des Experimentellen. Hildur Guðnadóttir ist eine andere, die sehr viel mit Klängen und Geräuschen arbeitet, die „Joker“ gemacht hat und mit der ich schon auf Tournee war. Das sind Leute, die mich inspirieren und irgendwie auf der gleichen Wellenlänge liegen. 


Hauschka: Inventions (youtube)


 

Hat sich durch die Filmarbeit die Musik verändert, die Sie als Hauschka machen?

 

Volker Bertelmann: Ich denke inzwischen nicht mehr so viel über Form nach, sondern mache die Stücke auf die Art und Weise, wie sie natürlich kommen. Es interessiert mich auch immer weniger, bestimmte Formate zu bedienen, nur um zu gefallen. Es geht vielmehr darum, Gefühl und Abstraktion zusammen zu bringen, was mir auf der neuen Platte „Philanthropy“ hoffentlich gelungen ist. Sie ist aufgeräumter und klarer. Das hat damit zu tun, dass es bei Filmmusiken wichtig ist, den Soundtrack nicht zu überladen. Manchmal reicht ein guter Baßsound schon. Es muss nicht immer das volle Besteck sein. 

 

Hauschka: Philanthropy (Drag City)


Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift Jazzthetik (www.jazzthetik.de)

 

Saturday 11 November 2023

AUGEundOHR 28: Cambodia, ca. 1910


Musiker aus Kambodscha mit kreisrunden und gebogenen Gongspielen sowie Trommeln in verschiedenen Größen, ca. 1910

Monday 6 November 2023

SCHEIBENGERICHT 24: Anna Webber – Shimmer Wince

Abseits ausgetretener Pfade

Das bemerkenswerte neue Album der kanadischen Saxofonistin und Komponistin Anna Webber ­

(Intakt Records)

 

5 von 5


 

cw. Anna Webbers neues Album klingt anders – Klänge, wie von einem anderen Planeten. Die kanadische Komponistin und Saxofonistin, die seit längerem in Brooklyn lebt, hat sich in der Lockdown-Zeit intensiv mit dem Tonsystem der „reinen Stimmung“ (=just intonation) befaßt und daraus nebenbei eine Serie ungerader Rhythmen abgeleitet. Entlang diesen Vorgaben hat sie Stücke entworfen, die auf faszinierende Weise einen anderen Ton anschlagen. Mittels Klangschichtungen und Repetition entsteht über einem scharfkantigen Groove (am Schlagzeug: Lesley Mok) eine ausgeklügelte Architektur, deren Bauelemente sich in der Manier der Minimal Music loop-artig ineinanderschieben. Abseits aller Klischees klingen diese komplexen Kompositionen trotzdem so selbstverständlich, als wären sie die normalste Sache der Welt. 



 

Die außergewöhnliche Besetzung trägt ihren Teil zum ausgefallenen Klangbild bei. Am weitesten aus der vorgefassten Rolle seines Instruments fällt Elias Stemeseder, der mit dem Synthesizer meistens den Baßpart übernimmt, zusätzlich aber auch immer wieder schillernde Klangeinwürfe macht. In der Mittellage brilliert Mariel Roberts auf dem Cello mit eindringlich-vibratoreichem Spiel, während Saxofon und Trompete sich im Diskant filigran ineinander verschlingen. Manchmal bricht Adam O’Farrill mit eruptiven Trompeteneskapaden (auch mit Dämpfer) aus dem Gruppenklang aus, die von der Bandleaderin auf Tenorsaxofon oder Querflöte fantasievoll weitergesponnen werden. Eindrückliche und aufregende Musik, abseits der ausgetretenen Pfade!


Anna Webber: Shimmer Wince (Intakt)



Wednesday 1 November 2023

Radio Radio Radio: American Folk Blues Festival – Wie der Blues im Südwesten Wurzeln schlug

Radio Radio Radio: 

SWR2 Musikpassagen: Do., 9.11.2023; 20:05–21:00 Uhr

Zum Nachhören:

American Folk Blues Festival – Wie der Blues im Südwesten Wurzeln schlug
von Christoph Wagner

 
1962 fand in Baden-Baden unter der Regie von "Jazzpapst" Joachim Ernst Berendt das erste American Folk Blues Festivals in Europa statt. Es ging weiter über Bern, Frankfurt und Berlin nach München. Am 11. Oktober gastierte die Bluestruppe mit der Sängerin Helen Humes und Berühmtheiten wie Willie Dixon, Memphis Slim, T-Bone Walker und John Lee Hooker in Heilbronn. Egal wie viel Publikum anwesend war, überall wurde die "erste Bluesdokumentation der Welt" begeistert aufgenommen.