Thursday 30 April 2020

Die Leidringer Rockkommune, 1972 Part 1 + 2

Mysteriöse Popkommune außerhalb von Leidringen bei Balingen – wie vom Erdboden verschluckt....

1. Teil: Leidringer Rockkommune Saga

Im Sommer 1972 (nicht wie ich im Buch noch glaubte 1971) hörten mein Freund, Bernhard und ich – als 16jährige Junghippies – von einer Popkommune, die sich auf einem verlassenen Bauernhof bei Leidringen (10 km von unserer Heimatstadt Balingen) eingenistet hatte. Kurzentschlossen statteten wir ihnen einen Besuch ab.

Nach langer Suche glaubte ich,  ihr damaliges Domizil wieder entdeckt zu haben. Es ist eigenartig, wie man an solchen Erinnerungen hängt.

Unten der Ausschnitt aus meinem Buch „Der Klang der Revolte“, der die Episode beschreibt.

Das Bauernhaus außerhalb von Leidringen, natürlich damals ohne Solarzellen: Im linken Hausteil im ersten Stock wohnten und probten die drei Musiker. Nach ein paar Monaten waren sie wieder verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Ob aus ihnen etwas geworden ist? Ob sie es anderswo zu Bekanntheit brachten? In welcher Band?
Sollte irgendjemand irgendetwas wissen, please get in touch!

Fotos: Christoph Wagner



Aus: Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground. Schott Verlag 2013. 380 Seiten mit vielen Abbildungen.



2. Teil: Leidringer Rockkommune Saga (Fortsetzung)

Heute (1. Mai 2020) nahm die Geschichte von der mysteriösen Rockkommune  auf dem verlassenen Bauernhof bei Leidringen Anfang der 1970er Jahre eine unerwartete Wende. Ich konnte mit den Bewohnern des obigen Hofs sprechen, die mir versicherten, dass sie schon seit 1961 auf diesem Hof wohnen würden und nie irgendwelchen Musikern Unterschlupf gewährt hätten.

Aber der nächste Hof entlang des Feldwegs wäre lange leer gestanden und dort sei möglicherweise damals die mysteriöse Popkommune untergekommen. Das Hofgebäude hätte genau so wie ihres ausgesehen und wäre dann später vollkommen renoviert worden. Es ist heute von mehreren Partien bewohnt. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass die drei Musiker dort gewohnt haben. Aber letzte Sicherheit wird es nur geben, wenn wir einen der drei ausfindig machen, was ich allerdings für ziemlich unwahrscheinlich halte. Aber warten wir es ab, manchmal geschehen ja Zeichen und Wunder.

Renovierter Bauernhof bei Leidringen, wo ziemlich sicher 1972 die mysteriöse Rockkommune hauste (Foto: Christoph Wagner) 



3. Teil Leidringer Rockkommune Saga (Conclusion)

Man kann natürlich darüber spekulieren, warum die Band nach ein paar Monaten das Handtuch warf und verschwand. Vielleicht hatten sie untereinander Streit, vielleicht waren ihre finanziellen Resourcen aufgebraucht? Wahrscheinlicher ist, dass sie einfach frustriert waren, weil es mit ihrer Band nicht nach oben ging und das Kommuneleben sich auch nicht so anließ, wie sie sich es so vorgestellt hatten. Die Siebziger war ja eine Zeit voll romantisch-utopischer Träume, die leicht an der Wirklichkeit zerschellten.

Noch etwas zu den drei Musikern: der Bassgitarrist trat irgendwie als Bandleader auf. Er war auch am öftesten in Balingen am Hippietreff um die Stadtkirche anzutreffen, wild gekleidet mit schwarzen schulterlangen Locken, einem Afghan-Mantel, Stiefeln mit hohen Absätzen und großer Klappe. Er erklärte, dass er immer solche Frauenschuhe kaufen würde – da haben wir aber gestaunt! Keiner von den dreien war aus Süddeutschland, sie sprachen hochdeutsch, wobei uns der Bandleader ein bisschen wie zurückgebliebene Provinzler behandelte.

Der Drummer war ein hagerer Typ mit Glatze und langen schütteren Haaren und Zottelbart. Den Orgelspieler hab' ich als Typen mit langen strähnig-blonden Haaren mit Mittelscheitel in Erinnerung. Kann mich aber auch irren. Die Erinnerung schlägt gelegentlich seltsame Kapriolen.

Natürlich imponierten uns die drei: ihr ganzes Auftreten, ihre coolen Sprüche und dass sie aufs Ganze gingen, ausstiegen – dass sie  d a s  machten, wovon viele von uns nur träumten oder redeten. Das verdiente Respekt!

Tuesday 28 April 2020

Das THEREMIN wird 100

Töne aus der Luft

Vor 100 Jahren begann mit dem Theremin das Zeitalter der elektronischen Musik – bis heute spielt es in Pop und Filmmusik eine Rolle 

Carolina Eyck (Promo)


Sendung: SWR2, SWR2-Musikpassagen / Sonntag, 3. Mai 2020; 23:03 – 24:00 Uhr 
(danach eine Woche im Internet: swr.de/swr2) 
DAS THEREMIN WIRD 100 – DIE ANFÄNGE DER ELEKTRONISCHEN MUSIK

cw. Es ist das einzige Musikinstrument, das gespielt wird, ohne dass man es berührt: Das Theremin besteht aus einem kleinen Kasten mit einer Antenne, einem Metallbügel und ein paar Knöpfen dran. Wenn man die Hände in seinem elektro-magnetischen Feld bewegt, gibt es einen geisterhafter Ton von sich, der stufenlos die Tonleiter rauf oder runter gleiten kann. 

Was uns heute als skurriler Klangerzeuger erscheint, war in den 1920er Jahren eine Sensation. Als erstes elektronisches Musikinstrument sorgte das Theremin weltweit für Furore. Neugierige standen sich die Fuße platt, um seinen geisterhaften Klang zu hören und Komponisten schrieben eigens Stücke dafür. Nach dem 2. Weltkrieg kam es in Grusel- und Science-Fiction-Filmen zu Popularität, und in den 1960er Jahren experimentierten Popmusiker damit. Danach erlebte es in den 1990er Jahren abermals ein kleines Comeback, als progressive Rockgruppen wie Portishead, Paul Weller, Pere Ubu und Mercury Rev es verwendeten. Bis heute wird das Urinstrument der elektronischen Klangerzeuger von Musikern gespielt, die auf ungewöhnliche Klänge aus sind, wobei die Bandbreite von der englischen Popgruppe Pram über die psychedelischen Türkrocker BaBa ZuLa bis zur deutschen Theremin-Solistin Carolina Eyck reicht. 
                                                                                                                      Leon Theremin
Als das Theremin 1927 erstmals in Europa vorgestellt wurde, war die Pariser Oper bis auf den letzten Platz gefüllt. Während sich vor dem Gebäude abgewiesene Besucher mit der Polizei prügelten, wurde drinnen die „Wundermaschine“ als Sensation gefeiert. Das Verblüffende der Neuheit war, dass man damit „Töne aus der Luft“ herbeizaubern konnte, ohne mit dem Gerät auch nur in Berührung zu kommen. 
Der Erfinder der Klangmaschine, der Russe Lev Termen (1896 -1993), der sich im Westen Leon Theremin nannte, erläuterte bei seinen Konzertvorführungen die Funktionsweise. Er führte aus, dass das neue Instrument einem kaputten Radiogerät ähnele, dessen Brummtöne er zum Musikmachen nutze. 

Theremin war Physiker und Musiker in einer Person. Er hatte die Klangmaschine 1920 konstruiert und war damit bei Lenin auf Interesse gestoßen. Der neue russische Regierungschef wollte die Erfindung als „Errungenschaft der Revolution“ propagandistisch ausschlachten und schickte dafür Theremin in den Westen. 


Nach dem Debut in Paris waren London, Berlin und Frankfurt die nächsten Stationen seiner Gastspielreise. Im Januar 1928 stellte er die Klangmaschine erstmals in Amerika vor, wobei die Crème der Musikwelt zur Vorführung erschien, darunter der Pianist Sergei Rachmaninow und der Dirigent Arturo Toscanini. Der junge russische Professor spielte, begleitet von Klavier und einem zweiten Theremin, Schuberts „Ave Maria“ und „Der Schwan“ von Camille Saint-Seans. Der Publikum stand Kopf. Bald fand ein weiteres Konzert in der berühmten Carnegie Hall in New York statt. Danach musste Theremin in ein Stadion für 15000 Zuhörer umziehen, so riesig war der Andrang. Die Besucher waren vollkommen verwundert und konnten nicht glauben, was sie hörten und sahen“, berichtete eine Zeitung. Danach ging Theremin auf Tournee duch die USA, wo er seine Neuheit in Varieté-Shows und Vaudeville-Theatern vorstellte. Es dauerte nicht lang, bis andere Musiker bei ihm ein Instrument erwarben und ebenfalls Theremin-Konzerte gaben.  

 Theremin richtete in Manhattan ein elektronisches Musikstudio ein, wo er an Verbesserungen seiner Erfindung tüftelte. Gleichzeitig versuchte er avantgardistische Komponisten wie Edgard Varèse oder Henry Cowell zu interessieren, gab Unterricht und absolvierte Auftritte mit einem größeren Ensemble, um die orchestralen Möglichkeiten des Instruments auszuloten. Das spektakulärste Konzert fand 1932 statt, als ein Orchester aus 16 Theremin-Instrumenten in einer „Electrical Symphony“ auftrat.

Alles lief prächtig bis ins Jahr 1938: Da riß die Erfolgssträhne auf einmal ab. Theremin war verschwunden. Wie sich später herausstellte, hatte er in den USA als Informant für den russischen Geheimdienst gearbeitet, der ihn in die Sowjetunion zurückgeholt hatte. Dort kam es zu Beschuldigungen. Theremin wurde in ein sibirisches Arbeitslager gesteckt, aus dem er erst nach acht Jahre wieder freikam.

Sein Verschwinden tat der Popularität seines Instruments keinen Abbruch. In den 1940er Jahren entdeckte die Filmindustrie die Klangmaschine als ideale Untermalung von Thrillern, Grusel- und Science-Fiction-Filme. Im Film „Spellbound“ von Alfred Hitchcock hatte es 1945 seinen größten Auftritt, als es die Geistesverwirrung von Hauptdarsteller Gregory Peck akustisch untermalte.

1966 hielt das Theremin Einzug in die Popmusik. Brian Wilson von den Beach Boys machte davon im Hit „Good Vibrations“ Gebrauch. Wilson war in seiner Jugend bei einem Freund auf das Theremin gestoßen und erinnerte sich an das Instrument, als er für den Titel nach einem originellen Sound suchte.

Ungefähr zur selben Zeit griff der Amerikaner Robert Moog, der als Teenager nach dem Bausatz eines Versandhauses sein erstes Theremin gebastelt hatte und sich sein Studium durch den Verkauf von Theremin-Bausätzen verdiente, die Konstruktion erneut auf, um sie zum Synthesizer weiterzuentwickeln. Heute taucht das Theremin auf der aktuellen Musikszene immer wieder auf, auch wenn der Sensationseffekt mittlerweile verflogen ist. In Filmen wie „Ghostbusters“ (1984), „Ed Wood“ (1996) oder ”Mars Attack“ (2006) ist sein spukhafter Klang zu hören. 

In Deutschland hat sich Carolina Eyck aufs Theremin spezialisiert. Die Leipzigerin kombiniert seine schwebenden Melodien mit ihrem lautmalerischen Gesang, den sie elektronisch verdoppelt und verdreifacht. Die Kombination von menschlicher Stimme und elektronischer Geisterstimme sorgt für eine geheimnisvolle Atmosphäre und beweist, dass die Möglichkeiten des Theremins auch nach 100 Jahre noch längst nicht ausgeschöpft sind. 

Sendung: SWR2, SWR2-Musikpassagen / Sonntag, 3. Mai 2020; 23:03 – 24:00 Uhr 
(danach eine Woche im Internet: swr.de/swr2) 
DAS THEREMIN WIRD 100 – DIE ANFÄNGE DER ELEKTRONISCHEN MUSIK

Tuesday 21 April 2020

SIMON STEINER über DE FABRIEK aus Holland

GASTBEITRAG von SIMON STEINER:

Sandpapier und Meeresrauschen

Das niederländische Musikkollektiv DE FABRIEK  



DE FABRIEK ist ein Musiker - und Künstler Kollektiv, einfach eine "Gruppe von Menschen", sagt Mitgründer Richard. Bis heute hat diese Fabrik über 25 Produktionen veröffentlicht. DE FABRIEK kommen ursprünglich aus der niederländischen Stadt Zwolle. Das Kollektiv wurde 1977 von Richard van Dellen und Andries D. Eker gegründet. Sie fühlen sich von Terry Riley, Conrad Schnitzler und Philip Glass beeinflusst oder ließen sich von Bands wie Blues Dimension oder The Mozarts inspirieren. „Wir haben zu den Mozarts hochgeschaut. Sie hatten lange Haare, Umhänge und Mopeds mit hohem Lenker," erzählt Richard.

Richard van Dellen und seine Frau Louise Nanuru van Dellen kenne ich aus Griechenland. Sie wohnen in unserer Nachbargemeinde auf der Insel Evia (Euböa). Wir sitzen auf der Terrasse zwischen Olivenhainen, Wald und Meer und hören Musik. Richard erzählt, wie er früher immer rüber nach Deutschland getrampt ist, um tief in die deutsche Musikszene einzutauchen. Er ist fasziniert von CAN, von FAUST und von CLUSTER und kennt sogar die Tübinger Band FAMILIE HESSELBACH. Louise und Richard senden mir immer wieder Fotos, oder es kommt Post aus Zwolle, mal eine LP von DE FABRIEK oder eine alte wertvolle 80er Kassette, mal Schnipsel in DADA-Art, Süßigkeiten oder Postkarten, gestaltet in MAIL-art. Alles ist immer mit viel Liebe in Handarbeit entstanden. Die Cover bestehen aus Pizzaschachteln, alten Plakaten, Sandpapier, Plastik, Tapeten und Müllsäcke. Das Paar Van Dellen steht in der Tradition der Beatniks der sixties oder der Hippies und Punks der 70er und 80er Jahre, ja die beiden gehören zur frühen Undergroundszene, zu den sogenannten Kassettentätern, zur Noise-Szene und ich höre das auch alles heraus: Sounds der Hippie-Jahre, Punk und experimentelle Geräuscheschleifen. Ein totales Crossover also, durch fünf Jahrzehnte, ohne Berührungsängste, ohne Abwertungen und Ausgrenzungen. Weltoffen, alle Grenzen überschreitend. 

So ergibt sich schließlich auch zwischen uns eine Verbindung, wir kooperieren per pingpong-Verfahren: Ich sende ihnen Samples, field-recording Aufnahmen aus Vasilika oder Stuttgart und sie betten meine Klänge ein in nagelneue CD, ein Format, das für sie noch lebt und Bedeutung hat. Die  beiden leben Toleranz vor, sie erdulden alles und wollen nie Recht haben oder unbedingt etwas durchsetzen, sie gängeln mich nicht und sind nicht enttäuscht, wenn ich nicht liefere. Oft weiß ich nicht, was mit meinen Samples passiert und inwiefern sie mich für ihr Kollektiv vereinnahmen aber da muss ich durch. Und prompt erscheint wieder die nächste CD oder Schallplatte. 

Das Kollektiv war immer open minded und independent, nicht-kommerziell, mit eigenem Label und international vernetzt: Im Laufe der Jahre nahmen DE FABRIEK mit Solenoid, O.R.D.U.C., Technological Aquiver, Brume, Vivenza, Klinik und Gen Ken Montgomery auf. Und ja, sie sind auch hier in der Region Stuttgart bekannt: Oberst Graf Zentrich, DJ und selbst Musiker und Mitarbeiter bei meinem Punk-Projekt "Wie der Punk nach Stuttgart kam" legt sie auf, er ist Spezialist für Cold Wave und da passen die frühen DE FABRIEK wunderbar rein.

Über die gemeinsamen Jahre auf der griechischen Insel Euböa entwickelte sich nun eine wunderbare Freundschaft mit Louisa und Richard und wir sind ständig im Austausch. Wenn ich auf unserer Terrasse in Vasilika sitze, fährt nachts so um 22 Uhr immer ein Truck vorbei, ein riesiger LKW Klotz, mit tausenden von Lichtern und einer tiefen Hupe. Ich sehe ihn schon nördlich durch die Wälder geistern, dann unter mir auf der Landstraße unseren Ort durchqueren und schließlich wie er sich südlich in die Berge von Papades schiebt und schnauft und röhrt und mit seinen Scheinwerfern die Strecke nach Athen sucht. "So far" entsteht, mein neues Road-Stück. Und tatsächlich kennen Richard und Louisa den Truck, auch den Fahrer und sie haben ihn sogar kurz mit dem Handy gefilmt. Aus diesen Klängen schnipselte ich am PC eine neue Sound-Collage und ich freue mich schon, denn die Impression wird auf der nächsten DE FABRIEK CD erscheinen. 


Bereits erschienen ist mein Stück "Vassilika industries", das die Tonmeister des niederländischen Kollektivs im Studio verfeinerten. Letztes Jahr erschien eine Hommage an Griechenland: Die CD ARCHAIC, mit griechischen Klangdateien, meinem Baglamas und meinen Flöten.  Die CD entält super Material für weitere Kompositionen, für mixes und remixes, für weitere Collagen, das Material geht nicht aus und die Arbeit zu Hause - egal wo, insbesondere jetzt in Corona-Zeiten, am PC und zusätzlichen Instrumenten bietet alle Möglichkeiten des Kombinierens. Aber das Prinzip ist ja alt: Austausch, ein Miteinander, eine Community, die zusammen arbeitet und sich freut, ohne copyright, ein Hin - und Her ohne Eitelkeiten und Besitzansprüche. So soll es sein. 

Noch ein Erlebnis:
Meine Frau und ich fuhren von Ellinika nach Vasilika und im Autoradio hören wir DE FABRIEK, denn ein Musiknarr von Radio Volos hat sie mit ins Programm genommen. Oder Jean-Luc, ein französischer Freund von Van Dellens, steigt aus den Meereswellen und meint: "S! Ihr seit aus Stuttgart? Ich habe von Louise und Richard eine CD bekommen, da ist ein Stuttgarter mit dabei. Da ist man auf einer einsamen Insel in Hintertupfingen und werkelt mitten in DER FABRIEK, stets verbunden. Louisa spaziert vorbei und sammelt Strandgut für ihr nächstes Kunstwerk und Richard malt an seinem neuen Ölgemälde, das er  - wie unsere Musik - immer wieder umgestaltet und offen lässt.

Die fabrizierende Musikwelt dreht sich hier in Vasilika oder Stuttgart irgendwie immer weiter, in dieser Abgeschiedenheit und genau das war vor 40 Jahren das Motiv von DE FABRIEK - sich auszutauschen per Klänge, Postkarten, Briefe, Gedichte, Storys und Fanzines. Sagenhaft! 

In House, Dance, Techno oder Film Produktionen tauchen Elemente, die ursprünglich aus dem Hause der niederländischen Fabrik DE FABRIEK stammen wieder auf. 
Erfrischend! 
Und das ist noch lange nicht alles.




Musik: Simon Steiner/DE FABRIEK


Musik: Simon Steiner/DE FABRIEK

Fotos: DE FABRIEK

CD Cover: DE FABRIEK mit Simon Steiner u.a., 2019

Discografie, bandcamp und facebook siehe: 



Monday 6 April 2020

Der Leierkastenmann von der Ägäis

Gastbeitrag von SIMON STEINER
Loops aus der Vergangenheit - der süße Sound der Laterna

Foto: Simon Steiner

"Wenn du sie streichelst, singt sie." 
Nikos Armaos, der König der Laterna 

Der trocken klingende, metallische, aber süße Klang und die bunten Verzierungen der Laterna verzaubern uns. Es fühlt sich an, als ob Feen schweben und Zwerge hüpfen, sagt man in Griechenland. Nostalgie kommt auf. Im Kasten, an dem eine Hand kurbelt, sitzt eine Stiftwalze, die an Hämmerchen zupft, die auf Saiten schlagen. Der Klang führt uns unwillkürlich auf Zeitreise. Alte Kompositionen, Laterna - Konstrukteure und alte Geschichten tauchen wieder auf und entführen uns in ferne Orte und Zeitspannen.

Die Laterna ist ein automatisches Musikinstrument, das der Spieler mit Riemen auf den Rücken schnallt oder - auf Rollen montiert - zieht oder schiebt. Eine Laterna hat die Form einer Holzkiste. Aufgebaut steht sie auf faltbaren Holzbeinen. Das Herz der Laterna ist ein Holz-Zylinder mit Nägeln, die wie Kamm-Zähne angeordnet sind. Die Nägel entsprechen den Noten des Liedes. Sie zupfen beim Drehen des Zylinders an gefederten Hämmerchen, die wiederum auf Saiten schlagen. So entsteht schließlich der Klang. Die Noten eines Liedes werden per Schablone auf den Zylinder übertragen. Der Rhythmus des Liedes hängt davon ab, wie nahe die Nägel hinter einander liegen und wie rasch gekurbelt wird. Ihre Anordnung entlang der Walze bestimmt die Melodie. Der Tonumfang des Instruments umfasst dreieinhalb Oktaven. Zum Zubehör gehört eine Glocke, die das Lied akzentuiert.

Lange vor dem unterhaltenden Grammophon und der Jukebox wurde die erste Laterna angeblich 1808 von einem Klavierbauer in Bristol gebaut, der Klaviertasten durch eine Nagelrolle ersetzte. 
Im 19. Jahrhundert wurde die Laterna von fahrenden Musikanten, den Yiftoi, Gypsies oder Roma-Musikern gespielt. Yiftoi schlugen zur Begleitung eine Rahmentrommel mit Schellenkranz, die Daira. Die Alleinunterhalter mit Laterna traten besonders in den Hafenstädten der Levante, der Länder am Östlichen Mittelmeer auf. Auf Marktplätzen erklang das süße Geklimper. Frau oder Tochter agierten als Tänzerinnen. Manchmal führten sie einen Tanzbären mit sich und freuten sich über ein paar Münzen. 

Die Laterna verbreitete sich rasch, insbesondere in den griechischen Gemeinden Europas und Kleinasiens, hauptsächlich in Konstantinopel (Istanbul), Athen, Piräus, Thessaloniki, Kairo, Alexandria, Smyrna (Izmir) oder Bukarest, also Städte, in denen griechische und armenische Handwerker tätig waren. Es wird geschätzt, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Konstantinopel, Athen und Piräus rund 5000 Laternen gespielt wurden. Im Rampenlicht standen die Laternas auf großen Plätzen, Märkten und breiten Straßen und erreichten Menschen aller Schichten. Der "Musikautomat" gehörte nicht nur zum Straßenbild sondern auch zum guten Ton der noblen Gesellschaft. Die Laterna wurde auch in vornehmen Häusern, luxuriösen Restaurants, auf Hochzeiten, bei Tanzveranstaltungen, Festen und Feiern und zu Stummfilmen gespielt. 

1880 gründeten in Konstantinopel der Italiener Guiseppe Turconi und Josef Armaos eine Genossenschaft. Turconi war Komponist und Armaos der "stamper". Er setzte die Nägel und wurde Nagler oder Stempelmacher genannt. Josef spielte nach einem Schieß-Unfall mit einer speziell für ihn angefertigten Geige einhändig weiter. Sein Sohn Nikolaos migrierte nach der Kleinasiatischen Katastrophe 1923 von Konstantinopel nach Athen. Das Geheimnis sei, so berichtete Nikolaos Armaos, wie man die Stifte nagelt. Jeder Stift sei eine Notiz. Wenn ein Nagel zu tief oder seitwärts sitzt, "tötet er das Lied". Nikos hat nach eigenen Angaben 2000 Lieder geschrieben. Seine Großeltern stammten aus Italien und der griechischen Insel Tinos, auf der viele Katholiken leben. In seiner Werkstatt spielten Athener Kunden auf Mandolinen oder pfiffen und sangen Armaos die gewünschten Melodien einfach vor. Armaos beeinflusste Rembetiko-Musiker wie Vassilis Tsitsanis oder den sogenannten König von Piräus, Giorgos Batis. Batis' Baglamas klingt tatsächlich manchmal wie eine Laterna, immer wieder drehen sich gleich klingende Melodien im Ohr. Wie aufgezogen oder wie ein Loop aus Urzeiten. 

Einige genagelte Laterna - Stücke wurden später als Kompositionen anderer berühmter Musiker bekannt. Hits wie das weltberühmte Frankosyriani von Markos Vamvakaris, das noch heute in Athen, Piräus oder auch in kleineren Städten gekurbelt wird, faszinieren die Passanten. Aber keiner ahnt, dass der Patriarch des Rembetiko, Markos Vamvakaris, die Melodie von Frankosyriani einer Laterna abgekupfert hatte, der er auf seiner Heimatinsel Syros lauschte. Wenn heute Menschenmengen scheinbar gleichgültig in der Shopping Meile, der Ermou Straße in Athen vorbei huschen, kitzelt der süße Klang in allen Ohren und Herzen. So Mancher bleibt neugierig stehen und stiftet dem Spieler ein paar Münzen. Antonis Nassiopoulos, ein Freund von Nikos Armaos' Sohn Julius, baute 1994 gemeinsam mit Vassilis Iakovidis, einem führenden Pianisten und Handwerker, wieder Laternas. Zur gleichen Zeit setzte Anastasios Tzionis in Serres die traditionellen Traditionen der Laternas fort. Nikos Armaos, der König der Laterna, starb 1979 im Alter von 90 Jahren in Athen. Laternas sind heute begehrte Sammlerstücke und schmücken Privatsammlungen in Europa und Amerika. 

Um die Jahrhundertwende gab es Geschäfte, die sich auf den Bau und die Ornamente der Laternas spezialisierten: Bunte Samt - und Lederbezüge, geschnitzte Perforationen, goldene Stickereien, Perlen und Rosenkränze. Häufigste Motive sind junge Frauen, umrankt von Blumen und der griechischen Flagge oder Darstellungen von erfolgreichen Schlachten und dem Sieg über die Osmanische Herrschaft 1821. Bilder von Maria Pentagiotissa, die erste Femme Fatale des modernen Griechenland oder die Königin des Rembetiko, Roza Eskenazi schmücken viele Laternas. 

Von 1936-1941 wurden während der Diktatur Metaxas nicht nur verruchte, "gesetzlose" Rembetika, sondern auch Laternas verboten und in Lagerhäuser still gelegt. 1955 erreichte Alekos Sekellarios mit seinem Kassenerfolg Laterna, Armut und Würde (Laterna ftoheia kai filotimo) ein breites Kino-Publikum und das Instrument wurde Mode.
Große griechische Komponisten wie Manos Hadjidakis, bekannt durch die Filmmusik in "Sonntags ... nie", Mikis Theodorakis oder Stavros Xarhakos waren von dem süßen, metallischen Sound begeistert und bezogen Laternas in ihre Arbeit ein. Eine wunderschöne Laterna steht im Museum für griechische Volksmusikinstrumente in der Athener Plaka.


CD: 
Νίκος Αρμάος: Λατέρνα Και Ντέφι, 1977
Nikos Armaos: Laterna & Ntefi. Greek Folk Dances with Street Organ


Foto: 
Giorgos Kizilis in der Ermou - Straße Athen (Simon Steiner, 2019) 


Grigoris Bithikotsis/Sotiria Bellou- H LATERNA 1961

Simon Steiner aus Stuttgart verbringt das halbe Jahr in Griechenland. Er ist Autor von 'Wie der Punk nach Stuttgart kam und wo er hinging‘ (Das Buch – 11 Einzelhefte im Schuber inkl. CD – ist im Format 24x34cm mit insgesamt 340 tw. farbigen Seiten bei Uli Schwinge im Verlag EDITION RANDGRUPPE erschienen.)