Friday 28 July 2023

Post-Jazz mit WEIRD BEARD

Jazz als Pop denken

Florian Egli, Bandleader und Saxofonist, gibt Einblicke in die Ideenwelt von Weird Beard  

Das kurze, prägnante Synthesizer-Riff zum Einstieg hätte in den 1980er Jahren Gruppen wie Depeche Mode oder The Human League gut zu Gesicht gestanden. Das Synthi-Pop-Ostinato bildet den Auftakt zum neuen Album „Vertigo“ von Weird Beard, einer Schweizer Gruppe, die eigentlich aus dem Jazz kommt. Allerdings ist Weird Beard kein konventionelles Jazzensemble, sondern mischt eine Vielzahl von Stilen zu einer höchst individuellen Ausdrucksweise. Neben Elementen aus Pop, Rock, Disco, Dub und Electronica findet sich Einflüssen aus Cool- und Electric Jazz. Das macht Weird Beard zu Protagonisten einer aktuellen Strömung, die im Jazz wurzelt, aber gleichzeitig darüber hinausweist. Post-Jazz wäre vielleicht der passende Stilbegriff. 

 

„Vertigo“ ist das vierte Album von Weird Beard. Wie ist die Gruppe entstanden und wie hat sie sich entwickelt?

 

Florian Egli: Die Anfänge von Weird Beard reichen bis in meine Studienzeit an der Musikhochschule in Zürich zurück. Ich habe damals – 2007 und 2008 – sehr intensiv mit dem Bassgitarristen Valentin Dietrich im Duo gespielt. Wie probten viel, haben diskutiert und philosophiert und sind dadurch gute Freunde geworden. Dieses Duo war der Kern, aus dem Weird Beard hervorging. Rico Baumann kam als Schlagzeuger hinzu und für kurze Zeit der Gitarrist Urs Vögeli, dessen Platz dann von Dave Gisler eingenommen wurde. Nach ein paar Jahren verließ Valentin Dietrich die Band und wurde von der Bassistin Martina Berther ersetzt. Berther hat einen starken experimentellen und popmäßigen Background und brachte viele frische Ideen ein. Für „Vertigo“ haben wir zusätzlich noch den Synthesizerspieler Luzius Schuler ins Boot geholt. Uns war wichtig, nicht stehen zu bleiben, sondern Neues zu wagen. Die Band muß in Bewegung bleiben, sich verändern, neue Impulse aufnehmen, sonst droht Routine und Stillstand. 

 

Was war zu Beginn die musikalische Vision?

 

FE: Wir hatte einigermaßen genaue Vorstellungen, in welche Richtung wir gehen wollten. Ich war damals sehr von der Musik der Band Alas No Axis des amerikanischen Schlagzeugers Jim Black angetan, die Lyrisches mit Elektronik und Hardcore-Jazz verband, und wollte einen ähnlichen Stil erkunden. Die anderen hatte andere Einflüsse, die aber alle auf eine Mischung von Pop, Rock und Jazz hinausliefen.



Was fasziniert einen Jazzmusiker an Rock und Pop?

 

FE: Was ich am Jazz mag, ist der Augenblick, also das Spontane und das Vergängliche, das sich in jeder Improvisation manifestiert, die ja immer anders ist. Was mich dagegen an Pop interessiert, ist die Dimension der Ewigkeit. Im Pop wird das Tonstudio als eigenständiges Medium begriffen, in welchem Musik für die Nachwelt produziert wird. Die Schallplatte ist ein Statement, von dem man hofft, dass es lange Bestand hat. Im Jazz war es bis vor noch nicht allzu langer Zeit üblich, ins Studio zu gehen, um den „Live“-Auftritt einer Band unter optimalen Bedingungen aufzunehmen. Das war das Ziel einer Schallplattenaufnahme. Dagegen begreifen wir die Plattenproduktion wie im Pop als etwas grundsätzlich Anderes als den „Live“-Auftritt. Das Studio bietet ganz andere Möglichkeiten, die es auszuschöpfen gilt.

 

Wie arbeitet Weird Beard im Studio?

 

FE: Das Material wird „live“ eingespielt. Also jedes Stück wird in einem Bogen aufgenommen, um die Energie, die Spannung, die Dynamik, die Stimmung und Atmosphäre einzufangen. Danach werden – falls erforderlich – Overdubs gemacht. Beim Stück „Cinema“ hat unser Schlagzeuger Rico Baumann z.B. noch eine zweite Drumspur draufgemacht, und beim Titel „Vertigo“ hat Luzius Schuler mit dem Synthesizer im Nachhinein noch eine Sternenhimmelmelodie hinzugefügt. 

 

Wie vertraut war euch das musikalische Material zu Beginn der Aufnahmen?

 

FE: Es war ziemlich frisch. Die generelle Idee war, dass die Stücke so einfach sein sollten, dass sie ohne intensive Proben funktionieren. Wir wollten keine Stücke spielen, die in eine bestimmte Form gepresst sind, wo der Ablauf vorgegeben ist oder ein dynamisches Schema. Die Kompositionen sollten so angelegt sein, dass sie offen sind und viele Möglichkeiten bieten.

 

Das Album wurde in Frankreich aufgenommen. Warum?

 

FE: Wir arbeiteten lange mit dem irischen Toningenieur und Produzenten David Odlum zusammen, der damals in der Bretagne das Blackbox-Studio betrieb, seither aber wieder nach Irland zurückgekehrt ist. „Vertigo“ ist das dritte Album, dass Weird Beard mit Odlum produziert hat, der bei den Aufnahmen zu einem vollwertigen Mitglied der Band wurde.


Florian Egli (Promo)



 Wie lief die Arbeit im Studio konkret ab?

 

FE: Odlum ließ uns zuerst ein Stück spielen, hörte es sich genau an und fing dann bereits an, das Studio-Equipment einzurichten. Er entwickelte Ideen für den Klang der jeweiligen Instrumente, vor allem was den Baß und das Schlagzeug betrifft. Soll es härter klingen oder weicher? Fetter oder schlanker? Solche Fragen wurden diskutiert. Das hat Einfluß auf die Mikrofonierung, also wie die Instrumente abgenommen werden und wo man Mikrofone platziert. Wie nah dran bzw. wie weit weg? In dieser ersten Phase geht es darum, den Sound bereits richtig einzufangen. Das braucht Zeit. Odlum schickte uns weg und meinte: “Kommt in einer Stunde wieder.“ Dann spielten wir das betreffende Stück erneut, und er werkelte weiter am Sound. Er schickte uns möglicherweise ein zweites Mal fort, um weiter an den Einstellungen zu basteln. Wir hörten uns das Ergebnis der Aufnahme an und diskutierten, wie der Sound noch verbessert werden könnte. Entspricht er unseren Vorstellungen? Meistens waren wir einer Meinung. David Odlum verstand, welcher Sound uns vorschwebte und versuchte diesem Klangbild so nahe wie möglich zu kommen. 

 

Wenn die Aufnahmen im Kasten sind, ist die Studiotätigkeit abgeschlossen oder beginnt dann die Nachbearbeitung?

 

FE: Die sogenannte „Post-Production“ ist absolut wesentlich. Im Dialog mit der Band träufelte David Odlum noch einmal seine Klangkunst über die Aufnahmen. Wie dumpf soll die Baßtrommel klingen? Wieviel Nachhall gebe ich einem Randschlag der Snare? Wieviel Baß braucht die Aufnahme?

 

Weird Beard stellt viele Gepflogenheiten des Jazz auf den Kopf. Die übliche Unterteilung von Führungsstimme und Rhythmusgruppe ist aufgehoben. Auch gibt es keine Solos im herkömmlichen Sinne mehr, eher wird mit Klängen über einem festen Rhythmusfundament improvisiert. Was ist die Konzeption?

 

FE: Es geht nicht mehr um Vorder- und Hintergrund, nicht mehr um Solisten und Begleiter, sondern was alleine zählt, ist der Gesamtsound: Das einheitliche Klangbild der Gruppe. Selbst meine Saxofonstimme ist in den Gruppenklang eingebettet, fungiert nur noch bedingt als Melodiestimme. Ich spiele zurückgenommen und sehr reduziert, sozusagen mit angezogener Handbremse, lege größten Wert auf den Klang und die Platzierung jedes einzelnen Tons. Auf diese Weise Saxophon zu spielen, ist ein Kraftakt der Zurückhaltung, weil das Instrument ja eigentlich für das Gegenteil gemacht ist, nämlich virtuos und schnell viele Töne zu spielen. Bei den Aufnahmen für „Vertigo“ hatte ich das Gefühl, an einem Punkt angelangt zu sein, wo ich das Saxofon nur noch als eine Art Soundpad benutze.


Florian Egli Weird Beard: Meditation (Youtube)

 

Die meisten Stücke von „Vertigo“ sind in gemächlichem Tempo gehalten. Kann diese Entschleunigung als Kontrast zur Hektik der Gegenwart verstanden werden? Warum dehnt ihr die Zeit?

 

FE: Das Langsame war von Anfang an ein Thema bei Weird Beard, auch wenn es zu Beginn noch nicht so deutlich durchdrang. Früher glaubte ich, die langsamen Tempi seien eine Art Konterbewegung zur Hast des Lebens von heute. Das mag auch unterbewußt der Fall sein. Doch inzwischen bin ich der Ansicht, dass es vor allem eine Mentalitätssache ist. Wir mögen einfach langsame Musik. Daraus erwächst ein Problem: Es ist nicht einfach, beim Musizieren genügend Geduld aufzubringen, um das Momentum der Kreativität abzuwarten. Doch wenn man den richtigen Augenblick erwischt, geschieht etwas Wunderbares: Dann entsteht die Musik wie von selbst, sie geschieht einfach und macht Sinn. Für uns funktioniert das bei langsamen Tempi besser als bei schnellen.


Das neue Album besteht aus sieben Titeln, vier Eigenkompositionen und drei Covers. Wie kam die Auswahl zustande?

 

FE: Meine ursprüngliche Vision war, dass wir nur drei Stücke aufnehmen, die so gespielt werden sollten, als könnten sie ewig dauern. Am Jazz stört mich, dass er normalerweise auf einen Höhepunkt aus ist. Das wollte ich vermeiden. Ein Stück sollte theoretisch zwei Stunden fließen können und immer noch interessant sein, obwohl dynamisch nicht viel passiert. Es geht darum, in die Weite zu schauen und nicht den schnelle Klimax zu suchen. Wir haben dann festgestellt, dass meine Kompositionen „Meditation“, „Eternity“, „Phoenix“ und „Vertigo“ dafür nicht ausreichten. Sie trugen sieben oder acht Minuten und kamen dann zu einem natürlichen Ende. Wir haben das akzeptiert, wollten die Ursprungsidee nicht dogmatisch erzwingen und haben deshalb noch drei Fremdkompositionen dazugenommen: den Jazzstandard „Lush Live“ von Billy Strayhorn, den Titel „Adia“ der rätoromanischen Sängerin Ursina und „Cinema“, ein Stück der Indieband East Sister aus Basel. Ich hatte diesen Titel vor ein paar Jahren durch Zufall auf einer Party gehört und war verblüfft, wie genau er meine Vorstellungen von Musik traf. 

 

Die Musik von „Vertigo“ springt einem nicht ins Gedicht. Sie will keine Räume beherrschen, ist eher zurückgenommen. Zudem strahlt sie eine gewisse Gelassenheit aus, wirkt manchmal fast beiläufig )

 

FE: Genau – und trotzdem passiert immer etwas! Man kann unsere Musik konzentriert hören, aber sie stört auch nicht, wenn sie nur im Hintergrund läuft – und trotzdem ist es keine Backgroundmusik. „Vertigo“ ist der Versuch, dieses Paradox zu lösen. Die Musik drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern will so subtil sein, dass man auch bei mehrfachem Zuhören immer noch Neues entdecken kann. 

 

 FLORIAN EGLI WEIRD BEARD: VERTIGO (INTUITION)

 

Tuesday 25 July 2023

AUGEundOHR 21: Fiddler in den australischen "Outbacks", ca. 1900

AUGEundOHR 21: 

Australischer Fiddle-Spieler, ca. 1900 

Eine frühe Fotoaufnahme aus Australien. Ein Fiddler in den "Outbacks"spielt auf, umgeben von seinen Kumpanen, die man auch ohne Probleme in den USA hätte vermuten können. Sie tragen alle Westen, ihre Uhrketten sind gut erkennbar. 

Das Foto könnte um 1900 entstanden sein. Rechts neben dem Fiddlespieler steht ein älterer Bärtiger, daneben einer mit Bart und Hut, die beide eine doppelläufige Flinte in der Hand halten. Hinter den Männer ist ein abgespanntes Pferdefuhrwerk erkennbar. Das Pferd steht rechts davon.

Sammlung C. Wagner


Saturday 22 July 2023

Die Anfänge des Jazz im Südwesten

Trommelschläge und wilde Schreie

 

Vor hundert Jahren kam der Jazz nach Südwestdeutschland und löste Begeisterungsstürme, aber auch Untergangsgeheul aus


Foto: Sammlung C. Wagner

 


 

cw. Den Zeitgenossen kam es wie ein Orkan vor, der unangekündigt über sie hereinbrach, so wild und ungestüm klangen die neuen Töne. „Jazz! Ganze Völker tanzen darauf. Der Rhythmus der Maschine ist im Jazz Trumpf. Seine Energie wird durch motorische Kraft getrieben,“ schrieb 1925 die Zeitung Der Volksfreund aus Karlsruhe. „Daraus entsteht der neue Tanz.“

 

Nach dem 1. Weltkrieg kam die amerikanische Tanzmusik nach Südwestdeutschland und verbreitete sich in Windeseile. Doch nicht jedermann war hingerissen. Die Bevölkerung spaltete sich in zwei Lager: Jazz war – wie eine Tageszeitung feststellte – „das Entzücken und der Schrecken des ersten Nachkriegseuropas.“ 

 

Von jungen Leute begeistert aufgenommen, verdammten ältere den „Jazzlärm“. „Die Orchesterbegleitung besteht aus wilden Schreien, Trommelschlägen und Saitengezupf“, klagte eine Zeitung 1919. Für das konservative Bürgertum war Jazz „ein unzüchtiger amerikanischer Tanz“ und Sinnbild des Niedergangs und allgemeinen Sittenverfalls, während Nationalisten ihn als „undeutsch“ schmähten. „Es ist im Grunde eine Schmach, dass ein Volk, das Beethoven, Bach, Schumann und Händel sein eigen nennt, so hemmungslos dem Jazz huldigt,“ wetterte das Durlacher Wochenblatt 1932. „Das ist nicht bloß eine Entartung der Mode, sondern das Zeichen einer tiefgehenden Erkrankung.“ War Jazz der Untergang des Abendlands? War das überhaupt noch Musik?


Jazz bei der Fastnacht – Zeitung: D'r Alt Offeburger 11.2.1928




Jazz strahlte von den Metropolen aus. In den europäischen Hauptstädten, ob London, Paris oder Berlin, war schon länger nach den neuen Klängen getanzt worden, wobei es ein paar Jahre dauerte, bis die „Tanzwut“ ins Hinterland kam. Doch bald schon hatte die „Jazz-Epidemie“ auch die Provinz erreicht. Die „Narkotisierten“ schienen vom „Jazz-Teufel“ geradezu besessen. An jedem Tanzboden, bei jedem Vereinsfest und in jedem Kaffeehaus wurde jetzt nach den heißen Rhythmen aus Amerika getanzt, gespielt von Musikkapellen aus Stuttgart, Karlsruhe, Pforzheim, Lahr oder Baden-Baden, die sich „Fidelia“, „Lyra“ „The Teutonia“, „Apollo“ oder „Lorelei“ nannten. Aus Hirsau kam die „Havanna-Jazzband“. Im Umland von Stuttgart spielte die "Jazzband-Kapelle Obertürkheim-Rohracker. (siehe Bild oben)

 

„Der Jazz konnte einen ungehemmten Siegeslauf um die Welt antreten, verstand er es doch von Anfang an, die Massen durch seinen Rhythmus zu faszinieren,“ befand ein Kritiker. Da der Swing ein Hauptmerkmal des Stils war, hing alles vom Drummer ab: Ihm kam die knifflige Aufgabe zu, den synkopischen Swing-Rhythmus akurat zu trommeln, weshalb der Schlagzeuger allgemein als „der Jatzer“ bezeichnet wurden. Weitere Besonderheiten einer Jazzband waren die Saxophone, die die Streichinstrumente der Salonorchester wie Geige und Cello ablösten. Dazu kam meistens noch ein Banjo- oder Ukulele-Spieler, der den Rhythmus akzentuierte.

 

„Kennzeichen der Qualität einer Jazzkapelle ist das harmonische und rhythmische Zusammenspiel, dazu größte Disziplin, die auch in fortgeschrittener Stunde nicht die kleinste Spielvorschrift vernachlässigt,“ hängte die Badische Presse 1927 die Latte ziemlich hoch, um gleich einzuräumen, dass im damaligen Europa nur eine von hundert Jazzbands diesen Qualitätsansprüchen entsprach. Denn mittlerweile bezeichnete sich jede durchschnittliche Tanzkapelle, die sich einen modernen Anstrich geben wollte, als Jazzband. 


Wildes Treiben – Jazz als Punk der 1920er Jahre (Sammlung C. Wagner)

 


Vielleicht war die „Jazzbandkapelle Henry Schäfer“ ein solches Ausnahme-Ensemble, das sich auf Grund seiner „erstklassigen Leistungen“ – selbst über Karlsruhe hinaus – großer Beliebtheit erfreute. „Da war Schmiß und Schwung und vor allem Rhythmus in den Tanzweisen der Kapelle Schäfer, die unermüdlich zum Tanz aufspielte und bei allen Tanzsachverständigen begeisterten Beifall fand,“ berichtete die Badische Presse 1930.

 

Jedes Jahr zur Kirchweih im Herbst oder zur Fastnacht im Frühjahr schlug die Stunde des Jazz. In den wilden Tagen vor Aschermittwoch drehten die Kapellen mächtig auf und stürzten sich und das tanzwütige Publikum ins „Karneval-Jazzgetümmel“. 

 

Und dann kamen sie doch auch endlich in den Südwesten: die Stars des Genres, wenn auch nicht aus Amerika, wo Paul Whiteman als „King of Jazz“ galt, so doch aus der Reichshauptstadt Berlin. Im Mai 1931 hatten die Weintraub-Syncopaters in Karlsruhe einen Auftritt und wurden als „originellste und ideenreichste deutsche Kapelle“ gefeiert: „zweifellos eine Sensation auf ihrem Gebiet.“ „Wie die Burschen ihre Instrumente behandeln, wie sie mit Melodien jonglieren, das ist einfach fabelhaft,“ begeisterte sich ein Berichterstatter. „Das ist ein Musizieren, das einem einfach ins Blut geht, das mitreißt und restlos begeistert.“


Jazz hatte auf der Fastnacht Hochkonjunktur (Quelle: D' r Alt Offeburger 12.2.1927)

 

Als eine weitere „Jazzkapelle von Weltruf“ ein Gastspiel in der badischen Landeshauptstadt ankündigte, wurde betont, dass die Gruppe ausschließlich aus Weißen bestehe, was verkannte, dass der Jazz eigentlich die ureigenste Musik der Afroamerikaner war. „Sicher werden auch die Kreise, die bisher die Jazzmusik ablehnten, nach Anhören dieser Kapelle zu einer anderen Auffassung gelangen,“ hoffte ein begeisterter Kritiker. 

 

Thursday 20 July 2023

Popvideo extraordinaire 3: Jeb Loy Nichols - Big Troubles Come In Through A Small Door


Das offizielle Video zum neuen Album des amerikanischen Singer-Songwriters und bildenden Künstlers Jeb Loy Nichols, der seit längerem in Wales "in the woods" lebt. 

Tuesday 18 July 2023

Buchbesprechung: Bob Dylan über den modernen Song

Alchemie des magischen Songs 

Bob Dylans musik-philosophische Spaziergänge

 



cw. Bob Dylan hat wieder ein Buch geschrieben, allerdings keine Fortsetzung seiner Autobiographie, sondern eine „Philosophie des modernen Songs“. Darin analysiert er 66 zeitgenössische Lieder, denen er ein paar grundlegende Erkenntnisse abgewinnt.

 

Dylan geht nach einem bestimmten Schema vor: Zuerst wird der Inhalt eines Songs erläutert. Er erklärt, um was es eigentlich geht. Dann stellt er das Lied in seinen Kontext, erläutert den Zusammenhang, in dem es historisch, sozial oder politisch steht, und liefert relevante Informationen zum Interpreten, Verfasser oder Produzenten, als Besteck zur Interpretation. 

 

Dylan vergleicht den einen Song mit anderen aus dem selben Themenkreis und stellt die eine Fassung ins Verhältnis zu einer anderen, um so die jeweiligen Besonderheiten herauszuarbeiten, wobei er nicht nur bei einer Theorie des guten Songs landet, sondern bei Erkenntnissen und Lehren über das Leben allgemein.   

 

Unter den 66 Songs sind Lieder aus allen möglichen Stilen. Sie stammen aus dem Tin Pan Alley-Repertoire, aus Blues, Folk, Hillbilly, Country, Rock und Pop. Etliche gehören nicht zum Allgemeingut der Hits, die jeder kennt. Vielmehr sind es Lieder aus Bob Dylans geheimen Song-Universum. Das ist heutzutage kein Manko mehr, weil ja auf Computer-Knopfdruck jeden Song sofort zu hören ist. So werden Dylans Liederkundungen zur spannenden Entdeckungsreise. 



Als Kontrastprogramm nimmt sich Dylan auch Gassenhauer wie „Black Magic Woman“ (Santana) oder „My Generation“ (The Who) vor, über die er ebenfalls Erhellendes mitzuteilen weiß und gleichzeitig mit ein paar Weisheiten aufwarten kann. Etwa: „Was zählt, sind die Gefühle, die ein Song bei seinen Hörern in Hinblick auf das eigene Leben hervorruft.“ 

 

Eine zweite Erkenntnis entwindet er dem Song „Blue Moon“ gesungen vom amerikanischen „Crooner“ Dean Martin, einem unverwüstlichen Evergreen. „Sein Reiz liegt in seiner Rätselhaftigkeit“, schreibt Dylan, um dann zu urteilen: „Die Einfachheit des Textes macht es universell, aber es enthält zugleich genügend Details, die es davor bewah­ren, gewöhnlich zu sein.“ 

Am Schluß bleibt die Erkenntnis: Ein guter Song ist komplex, was nicht schwierig bedeutet, sondern emotional vielschichtig. Hinter Freude kann sich Trauer verbergen, während Trauer zu einer Quelle der Freude werden kann. Bob Dylan, der Meister, weiß wovon er spricht.

Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Song.
(C.H. Beck; 352 Seiten, reich bebildert; Euro 35.-)

Thursday 13 July 2023

SCHEIBENGERICHT 18: Post-Jazz mit DAS KONDENSAT

Gebhard Ullmann & Das Kondensat auf dem Weg zu anderen Planeten


4 von 5

 

cw. Selbst im Alter von 65 Jahren ist Saxofonist, Komponist und Bandleader Gebhard Ullmann noch in Entdeckerlaune. Mit seinem Trio Das Kondensat hat er in den letzten Jahren an einer Musik gefeilt, die die alte Jazz-Avantgarde hinter sich läßt und musikalisches Neuland erkundet. Dem Berliner Saxofonisten mit engen Verbindungen nach New York spuken sphärenhafte Klänge im Kopf herum, die er mit Eric Schaefer (Schlagzeug und Synthesizer), Oliver Potratz am elektronisch entgrenzten Bass und der amerikanischen Gastmusikerin Liz Kosack, die Keyboards spielt, in Szene setzt. 

 

Klassische Jazzimprovisationen – ob total frei oder harmonisch-rhythmisch gebunden – finden sich nur noch in kleinen Partikeln in dieser von der Elektronik bestimmten Musik wieder, die sich in gleichen Teilen aus Kraut- und Progrock, Dub, Musique Concrète, Ambient und Minimal Music speist, wobei auch Miles Davis‘ elektrische Phase und die Canterbury Szene nicht weit entfernt sind.


Das Album beginnt mit elegischen Klangflächen, über die Ullmann lange Saxofontöne legt, die mit viel Hall den Raum ausfüllen und echohaft zurückhallen. Danach gibt ein staubtrockener, beinharter Rockbeat die Richtung vor, der sich seinen Weg durch eine blubbernde und knisternde „soundscape“ bahnt, wobei der Schlagzeugrhythmus wie von Zauberhand unmerklich entsynchronisiert wird, das heißt: sich verschiebt, verdoppelt und verdreifacht, was in einem fast schwindelerregenden Strudel mündet. Im anschließenden Stück taucht die Band in die Klangwelt des Post-Rock ein, wie er in den 1990er Jahren von der Chicagoer Formation Tortoise gespielt wurde, wobei sich ineinander verwobene Improvisationen zu einem reißenden Sog bündeln, der von der kraftvollen Rhythmusgruppe aus Eric Schaefer und Oliver Potratz noch weiter befeuert wird.



In dreizehn derart kompakten Titeln mit zwischen zwei und sieben Minuten Länge präsentieren die vier einen abwechslungsreiche Stilmix ganz auf der Höhe der Zeit, der sich nur noch in kleinen Teilen auf die Jazztradition bezieht, dagegen mit einem wahrhaft universellen Ohr alles einfängt, was neu und frisch klingt, und es auf originelle Weise vermischt und kombiniert. Das Kondensat bewegt sich mit „Andere Planeten“ im aufregenden Terrain des Post-Jazz, wobei man gespannt sein darf, wohin die Reise (und die Neugierde) Ullmann und seine Mitspieler noch führen wird. 


Das Kondensat – Andere Planeten (WhyPlayJazz WPJ061)

DAS KONDENSAT - Dubbing with guy (live im Bayerischen Rundfunk, 2019) youtube


Wednesday 12 July 2023

Konzertreview: THE COMET IS COMING & DAISY DICKINSON

Milchstraßenmusik

The Comet Is Coming & Daisy Dickinson beim Manchester International Festival

'Live'-Fotos: christoph wagner



cw. Seit ungefähr zehn Jahren versucht die Industriemetropole Manchester in Nordengland, weltbekannt durch ihre beiden Fußballclubs, auf dem Feld der Kultur zu punkten. Dafür wurde das „Manchester International Festival“ (MIF) ins Leben gerufen, dass jedes Jahr im Sommer für ein paar Wochen mit exquisiten Großveranstaltungen zwischen Pop und Hochkultur für internationale Aufmerksamkeit sorgen soll. Jede Veranstaltung ist einmalig, d.h. hier wird keine Kultur von der Stange geboten, sondern das MIF kreiert spezielle Events oft multimedialen Zuschnitts. Dahinter steckt viel viel Geld!

 

Das geht so: Gestern Abend, wir schreiben den 12. Juli 2023, stand die Formation The Comet Is Coming auf dem Programm. Die Band aus London, die sich in den letzten Jahren mit ihrem Techno-Jazz in die internationale Konzert-Superliga gespielt hat, präsentierte keinen normalen Auftritt, sondern wurde mit der Videokünstlerin und Filmemacherin Daisy Dickinson gepaart, um ein musikalisch-visuelles Klangereignis zu schaffen, das unter dem Titel „Hyper-Dimensional Expasion Beam“ firmierte und nur an diesem einen Abend zu hören und zu sehen war (plus im Somerset House in London). 


 

Das Experiment gelang: „The Hall“ des speziell für das MIF geschaffenen Veranstaltungsorts Factory International / Aviva Studios war mit ca. 2000 Zuschauer nahezu ausverkauft, und zwar mit Fans von ziemlich jung bis ziemlich alt, was für eine Band, die mit Jazzelementen spielt, heutzutage schon bemerkenswert ist. Welche andere Gruppe aus dem Segment Jazz bringt so viel Publikum auf die Beine?  

 

Allerdings haben die drei Musiker die Jazzkonventionen weit hinter sich gelassen. Ihre Musik ist ein Mix aus Techno, Heavy Metal, Brötzmann & Ayler-Saxofon und kosmischen Sounds, der nach den Sternen greift und jeder Rave-Party gut zu Gesicht stehen würde. Die Lautstärke pendelt sich auf Rockkonzert-Level ein, der Sound ist leider (!!!) nur passabel (das Schlagzeug zu leise bzw. Keyboards und Sax zu laut), wobei die Band von Beginn an aufs Ganze geht. Kurze abgehackte Riffs des Tenorsaxofons verschmelzen mit elektronischen Staccato-Sounds aus Techno und Rave, die von einem hämmernden Schlagzeug vorangetrieben werden. 



Danalogue (Dan Leavers) an diversen Synthesizern ist der eigentliche Einpeitscher der Gruppe. Seine pumpenden Techno-Beats machen den Kern und die Wucht der Musik aus, während Shabaka Hutchings heißere Kurzphrasen auf dem Tenor bläst, die mit viel "reverb" aufgepeppelt jedesmal wie eine "hookline" wirken, und Betamax (Maxwell Hallett) für den knackigen Groove sorgt. 


Jedem Musiker wird ein längerer Solopart zugestanden, der bei Danalogue in kosmische Sphären führt, die an Tangerine Dream erinnern, während Hutchings in seinem Solo auf Blastechniken eines Evan Parkers zurückgreift, um komplexe rhythmisch-melodische Ton-Pattern zu kreieren, bei denen sich mehrere Melodielinien kreuzen. Und das Schlagzeug-Solo ist halt ein Schlagzeug-Solo mit viel Bumm, Bäng und Knall. 

 


Die Visuals von Daisy Dickinson machen Eindruck. Sie sind vorproduziert, erlauben jedoch, interaktiv auf Stimmung und Atmosphäre zu reagieren, weshalb Klang und Bild ziemlich synchron laufen. Zuerst meint man in einem Raumschiff durch kosmische Sphären zu gleiten, dann kommt Farbe ins Spiel und vielerlei geometrische Figuren, die sich drehen, multiplizieren, reduzieren, auf und ab schweben, die verfremdet und umgestaltet werden. Eine fantasievolle Visualisierung dieser kosmischen Dance-Music zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion. Insgesamt: ein eindrücklicher Abend einer Band, von der es heißt, dass sie sich zum Jahresende auflösen wird. Schade! Der Komet kommt nicht, er geht!    


Friday 7 July 2023

Scheibengericht 17: PJ Harveys neues Album

PJ Harvey: I Inside the old year dying



5 von 5 Sterne

Wenn jemand Künstler ist, bedeutet das, dass er eigenes schafft und nicht imitiert und dabei eine Schicht tiefer in das Mysterium vordringt, das wir Leben nennen. Wenn das also das Kriterium ist, dann fällt PJ Harvey eindeutig in diese Kategorie. 


Irgendwann in den 1990er Jahren war sie bei John Peel in seiner nächtlichen BBC-Radioshow zu Gast. Der legendäre DJ spielte ihr von der Trikont-CD „American Yodeling“ den „Arizona Yodeler“ von den verrückt, überkandidelten DeZurik Sisters vor und schickte die neckische Frage hinterher: „What about yodelling, Polly?“ Mit der kleine Provokation drückte Peel seine Hochachtung für Harvey aus, der er ganz offensichtlich einiges künstlerisch zutraute in ihren Exkursionen jenseits des Mainstreams. Diese Erwartungen hat die englische Rockmusikerin im Laufe ihrer inzwischen doch langen Karriere (sie ist Jahrgang 1969) voll erfüllt. 


2015 machte PJ Harvey durch eine Aktion Furore, die als Kunstinstallation bzw. Sound Sculpture konzipiert war: das sogenannte Hope Six Demolition Project. Bedeutete: Harvey nahm ein Album öffentlich auf, d.h. sie ließ die Öffentlichkeit am Aufnahmeprozeß teilhaben. Im Somerset House in London war eine "Box" als Studio eingerichtet, die auf einer Seite durch eine Spiegelglasswand einsehbar war, dahinter lief vier Wochen lang der normale Aufnahmeprozeß ab mit Musikern, Aufnahmetechniker, Produzenten. Für £15 konnte man 45 Minuten lang den Fortgang des Aufnahmeprozeß' beobachten.

 

In der Vergangenheit klang mir Harvey nicht selten zu schrill, zu brachial und zu laut – doch war sie immer interessant. Und manchmal konnte sie auch richtig wunderbar ruhige Songs singen, mit einprägsamen und doch geheimnisvollen Melodien, was sie 2007 mit dem Album „White Chalk“ unter Beweis stellte, das trotz des hauptsächlich akustischen Instrumentariums (Polly Jean spielte vor allem Piano, aber auch Zither) nicht weniger halluzinogen klang, wobei auf dem Titelsong sogar eine kleine Mundharmonika quäkte und Eric Drew Feldman von der Magic Band von Captain Beefheart Mellotron- und Synthesizer-Klänge lieferte. John Parish und Flood (alias Mark Ellis) waren damals schon in die Produktion involviert. Eine absolut magische Platte, die auch heute noch – wenn ich sie wieder hören – in keinster Weise abgegriffen klingt.




Ähnlich exzellent klingt die neue Einspielung „I Inside the old year dying“, ein äußerst verätseltes Album. Sieben Jahre hat sich Harvey dafür Zeit gelassen, falsch: Sie wurde von einer Art „music fatique“ befallen, die sie für längere Zeit außer Gefecht setzte. Harvey hatte das Interesse an Musik verloren, was ihr schwer zusetzte. Künstler zu sein ist ein schwieriges Handwerk, Existenzkrisen eingeschlossen. Sie wandte sich dafür der "Poetry" zu.




Jeder der zwölf Songs ist einem Monat des Jahres zugeordnet (wenn auch nicht in strikter Reihenfolge), und jeder wirkt wie ein beschwörender Zauberspruch. Im Booklet sind die Liedtexte abgedruckt und jeweils mit vielfältigen Worterklärungen versehen. Sie sind – wenn ich das richtig verstehe – mit altenglischen Vokabeln durchsetzt und im Dorset-Dialekt gehalten, der Gegend im Südwesten von England aus der Harvey stammt und wo sie sich immer noch zuhause fühlt. 


Meine Englischkenntnisse sowie meine Geduld für Lyrik reichen nicht aus, um mir einen Reim auf die Poesie von Harvey zu machen, wobei es einem "native speaker" – so schätze ich – nicht viel anders ergehen könnte, zu hermetisch erscheinen mir die Verse. Das ist Rilke-Verschlüsselungsniveau. 


Dieser blinde Fleck muß nicht unbedingt von Nachteil sein: Man hört einzelne englische Worte und Formeln, dreht sie auf der Zunge und dann im Kopf herum, und läßt seinen Assoziationen freien Lauf. Einmal wird Elvis Presley zitiert. Wie ich der Presse entnommen habe, erzählen die Songlyrics die Geschichte eines kleinen Mädchens – wohl Pollys Alter Ego –, das in der englischen Countryside groß wird mit allen damit verbundenen Verwerfungen und Verstörungen und sonstigen Implikationen.


Gesang und Musik wirken wie aus einem Guß, obwohl die Sounds manchmal so ineinander verschmolzen sind, dass einzelne Instrumente kaum noch zu identifizieren sind. Die Produktion ist auf Garagen-DIY-Niveau gehalten, es scheppert und rumpelt, das Schlagzeug klingt, als ob es mit einem billigen Tonbandgerät vor einem halben Jahrhundert aufgenommen worden wäre - wunderbar! Das bewährte Team aus John Parish und Flood hat die Arrangements ausgebrütet, Cecil (wer immer das ist) „field recording samples“ und „voice samples“ beigesteuert. Es ist Klangmusik im Songformat – absolut magisch. Und die Zaubersprüche entfalten ihre Wirkung.

 

PJ Harvey: I Inside the old year dying (Partisan Records)    

Buchbesprechung: Biographie von Bob Moog, dem Synthesizer-Erfinder

 Wundermaschine

 

Der Synthesizer leitete ein neues musikalische Zeitalter ein – eine Biographie zeichnet das Leben des Erfinders Bob Moog nach 


 Bob Moog mit Keith Emerson, 1971


 

cw. Trumansburg war ein kleines verschlafenes Kaff, bis 1963 das „Start-Up“ des Musiktüftlers Bob Moog in das Provinznest im Bundesstaat New York zog und es zum Zentrum einer technologischen Revolution machte, die die musikalische Entwicklung in eine andere Umlaufbahn katapultierte. 1964 erfand Moog den Synthesizer, eine Klangmaschine, die Töne künstlich-synthetisch generieren konnte und damit eine Entwicklung anstieß, die heute die Musik nahezu in toto dominiert. 

 

„Switched-On Bach“ hieß das Album, das 1968 den Durchbruch brachte. Es enthielt Musik von Johann Sebastian Bach, auf dem Moog-Synthesizer gespielt. Die Langspielplatte machte den neuen Sound weltweit bekannt. Nicht lange und der Name Moog wurde als Synonym für Synthesizer gewendet.

 

Wie eine 480 Seiten starke Biographie veranschaulicht, besaß Robert Moog, geboren 1934 in New York, schon in seiner Kindheit ein Faible für technische Dinge. Bereits als Teenager bastelte er ein Theremin, ein obskures elektronisches Instrument, dass man spielte, ohne es zu berühren und schrieb darüber in Fachzeitschriften. Mit dem Verkauf von Theremin-Bausätzen finanzierte er später sein Physik-Studium.

 

Anfang der 1960er Jahre brütete Moog über einem anderen Musikinstrument, mit dem er 1964 an die Öffentlichkeit trat. Bald wollte jeder Popstar einen „Synthesizer“ haben. Die Beatles setzten auf dem Album „Abbey Road“ einen Moog ein, bevor Gruppen wie Emerson, Lake & Palmer oder Yes ihn in den 1970er Jahren ins Zentrum der progressiven Rockmusik stellten.


Florian Fricke von Popol Vuh am Moog-Synthesizer




 

Auch in der zeitgenössischen Musik wurde mit den neuen Sounds experimentiert. Allerdings bevorzugten Komponisten und Praktiker wie Morton Subotnick oder Pauline Oliveros Synthesizer der Marke Buchla, weil diese nicht mittels eines konventionellen Keyboards gespielt wurden und so die Möglichkeit boten, das wohltemperierte Tonsystem hinter sich zu lassen.  

 

1970 änderte sich mit dem Mini Moog alles. Endlich gab es einen handlichen Synthesizer, der erschwinglich, einfach zu bedienen und transportabel war. Trotz des Erfolgs florierte die Firma des Erfinders nicht wirklich. Moog fehlte es an Geschäftssinn, was ihn 1971 zwang, sein Unternehmen zu verkaufen. Vielleicht gerade zur rechten Zeit, denn schon bald drängten japanische Firmen wie Roland, Yamaha, Korg und Casio mit innovativen Modellen auf den Markt, den sie bald dominierten. 


 Popol Vuh mit Moog-Synthesizer (Youtube)



Nach ein paar frustrierenden Jahren als Angestellter seiner eigenen Firma – vom neuen Besitzer kaltgestellt –, gründete Bob Moog erneut ein eigenes Unternehmen, das sich auf musiktechnologische Entwicklungen spezialisierte. 2005 verstarb der Synthi-Pionier im Alter von 71 Jahren, nicht ohne die musiktechnologische Revolution noch erlebt zu haben, die er mit angestoßen hatte, findet sich die Technik der elektronischen Klangerzeugung doch heute in jedem Chip, ob im Handy oder in der Waschmaschine.  

 

Albert Glinsky: Switched On – Bob Moog And The Synthesizer Revolution (Oxford University Press)


Emerson, Lake & Palmer: Lucky Man (Youtube)




 

Monday 3 July 2023

Klang der Revolte: das Sogenannte Linksradikale Blasorchester

Radikale Protestmusik

 

Mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester versuchten in der 2. Hälfte der 1970er Jahre die Komponisten Heiner Goebbels und Rolf Riehm sowie der Jazzmusiker Alfred Harth dem Elfenbeinturm elitärer Kunstmusik zu entkommen

 

Das Sogenannte Linksradikale Blasorchester beim Pfingstkongreß 1976 in Frankfurt a. M. (Foto: Norbert Saßmannshausen)

 

cw. „Es ging darum, das Ernste und Strenge, oft auch Verbohrte, der linken Politszene aufzubrechen und etwas Farbe, Schwung und Spaß in die Demos zu bringen,“ so beschreibt Saxofonist Alfred Harth die Zielsetzung des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters (SLBO), einer 14 bis 19 Mitglieder starken Gruppe aus der undogmatischen Linken, die Mitte der 1970er Jahre entstanden war. „Das Blasorchester“, wie es von seinen Mitgliedern schlicht genannt wurde, war der musikalische Arm der Frankfurter Sponti-Szene in fiebriger Zeit, aufgewühlt von Anti-Atomkraftprotesten, dem Widerstand gegen die Startbahn-West des Frankfurter Flughafens, von Wohnraumspekulation und der Besetzung leerstehender Häuser, Demonstrationen gegen Nazis sowie dem „Deutschen Herbst“ als Reaktion auf die Terroranschläge der RAF. Warum aber tauchte das Wort „sogenannt“ im Bandnamen auf? Antwort: Weil nicht die Beteiligten selber, sondern Außenstehende die Gruppe als „linksradikal“ tituliert hatten.

 

Die politischen Ereignisse überschlugen sich und schufen den Drang, den Elfenbeinturm elitärer Kunstmusik zu verlassen, um mit Musik ganz konkret in die politischen Kämpfe der Zeit einzugreifen. Wie das geschehen konnte, darüber hatten sich die beiden Initiatoren, Heiner Goebbels und Alfred Harth, schon seit längerem den Kopf zerbrochen, wobei ihre Überlegungen um die Frage kreisten, wie Musik politisch überhaupt wirksam werden könnte? Als Saxofon-Piano-Duo Goebbels & Harth hatten sich die beiden mit den Liedern des Komponisten Hanns Eisler (1898-1962) auseinandergesetzt, dem in den 1920er Jahren eine Musik für die Massen vorschwebte, die aber keine Massenmusik sein sollte. Dagegen sollte sie Niveau haben und trotzdem eingängig sein, was sie für den politischen Kampf erst tauglich machte. Als „unkommerzialisierte Unterhaltung“, hatte der Komponist Rolf Riehm als Mitglied im SLBO die Intention umrissen.




Für Straßenprotest erwies sich konzertante Kunstmusik als unbrauchbar, weshalb das Repertoire in zwei Kategorien unterteilt wurde: „Straßenstücke und straßenungeeignete“. Trat die Gruppe bei Konzerten in autonomen Jugendzentren, im Frankfurter Alternativclub „Batschkapp“, im Programmkino „Harmonie“ oder beim Festival „Rock gegen Rechts“ auf, kamen diffizilere Stücke zum Einsatz. Da wurde dann z. B. ein Gedicht von Friedrich Hölderlin bzw. Erich Fried oder ein Text des Schriftstellers Peter Paul Zahl vertont, der damals wegen einer fragwürdigen Gefängnisverurteilung zu einer Symbolgestalt im linken Milieu geworden war. 

 

Für Demonstrationen, ob gegen das geplante Atomkraftwerk in Brokdorf, das Atommüll-Endlager in Gorleben oder die Startbahn-West, war dagegen eine simplere, handfeste Musik gefragt. Sie musste laut sein, um sich im Demolärm ohne Verstärkeranlage Gehör zu verschaffen, dazu eingängig, also einfach und nicht „abgehoben“ sein. Sie sollte darüber hinaus aufmunternd wirken, d.h. sowohl den Beteiligten als auch den Zuhörern Spaß machen, Überschwang und Ausgelassenheit vermitteln, ähnlich einer Blaskapelle beim Fastnachtsumzug. 


Das sogenannte linksradikale Blasorchester (Foto: Trikont / Promo) 


 

Der Soziologie- und Musikstudent Heiner Goebbels, der damals in einem besetzten Haus u.a. mit Joschka Fischer in der Bockenheimer Landstraße in Frankfurt wohnte, hatte zuvor bereits etwas Erfahrung als Straßenmusiker gesammelt. In München war er ein paar Mal mit seinem Akkordeon bei Streiks Teil des „Mobilen Einsatzorchesters“ um den Straßensänger Tommi gewesen. In Wyhl hatte er den Liedermacher Walter Mossmann begleitet, der im Kampf gegen das dort geplante Atomkraftwerk engagiert war. Zu einem Schlüsselerlebnis war allerdings zuvor schon ein Konzert bei den Donaueschinger Musiktagen 1971 geworden. „Der Jazzmusiker Don Cherry saß da im Yogasitz mit seiner kleinen Taschentrompete und spielte ganz einfache Melodien, wobei ihm eine größere Gruppe der besten europäischen Freejazzer folgte,“ erinnert sich Goebbels. „Die Energie, die von dieser von Cherry geführten Kollektivität ausging, deren Einfachheit sich unmittelbar mitteilte, hat mich schwer beeindruckt.“ Später war man auf das holländische Willem Breuker Kollektief aufmerksam geworden, das theatralische Musikaktionen, Jazz und Vaudeville-Traditionen miteinander verband. All diese Einflüsse, nebst den Jazz- und Improvisationserfahrungen von Alfred Harth, flossen in die Gründung des Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters ein.

 

Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch aus Lust an der Provokation, die in der Sponti-Szene hoch im Kurs stand, wurde die wohl reaktionärste Form der musikalischen Praxis gewählt: das Blasorchester, dem man sonst nur bei Militärparaden, im Bierzelt oder bei Feuerwehrfesten begegnete. „Wir haben an diese Tradition angeknüpft, um sie gleich vollkommen anders zu interpretieren,“ so Goebbels.


Das sogenannte linksradikale Blasorchester (Foto: Trikont / Promo) 



Das SLBO sollte allen offenstehen. Allerdings bestand es fast ausnahmslos aus Akademikern, darunter nur zwei Frauen, wobei die Zusammensetzung wechselte. Die Spanne reichte von Komponisten, Jazzern, Chorleitern und Schulmusikern bis zu Laien, von denen manche nach Jahren das Spiel eines Instruments wieder aufgenommen hatten, nur um bei der Gruppe mitmachen zu können. „Das Interessante war die Koexistenz von fantastischen Profis wie dem Free-Jazz-Saxofonisten Alfred Harth oder dem Komponisten Rolf Riehm, und Amateuren, die aus der politischen Szene kamen und die früher irgendwann einmal Flöte gespielt hatten“, resummierte Goebbels. Er hatte sich ebenfalls eigens aus diesem Anlaß das Saxofonspiel beigebracht, auf einem Tenorinstrument, das er vom Jazzsaxofonisten Heinz Sauer extra dafür erworben hatte. Anfangs ging es um nicht mehr als „einfache Melodien rotzig spielen zu können“, so Bandkollege Alfred Harth.

 

Ziel war, bei Demos für Radau, Ausgelassenheit, Zusammenhalt und gute Laune zu sorgen, was sich als hocheffektiv erwies. „Wir wollten eine bessere Gebrauchsmusik machen für politische Tageseinsätze,“ erklärte Heiner Goebbels. „Dafür war das Blasorchester die geeignetste Form. Instrumente, die man tragen kann und die doch eine gewisse Lautstärke besitzen.“ Oft führte das SLBO einen Demonstrationszug an, weil eine Musikkapelle an der Spitze sympathisch wirkte und Aufsehen erregte, und die Polizei etwas länger brauchte, bis sie bemerkte,, dass hinten in der Demo die Militanten von der „Putztruppe“ des Revolutionären Kampfs die Scheiben der Banken einwarfen.

 

Ganz der anti-autoritären Doktrin verpflichtet, war das SLBO eine Firma ohne Chef, heißt: es gab niemanden, der bestimmte was, wie, wann oder wo gespielt wurde. Alle Entscheidungen mussten kollektiv ausgehandelt werden, meist nach ausführlicher Erörterung. „Es gab zwar eine organisatorische Leitung von mir, aber keinen musikalischen Leiter,“ betont Goebbels. „Vielmehr wurden sehr spannende, exzessive Diskussionen über alles geführt: über die Aufführungsbedingungen, über die Aufführungsanlässe und auch über die Kompositionen, die oft auch verändert werden mussten aufgrund ästhetischer Debatten oder der spieltechnischen Möglichkeiten, die uns zur Verfügung standen.“ 


Das sogenannte linksradikale Blasorchester beim Rock gegen Rechts-Festival, Frankfurt, 1979 (Foto: Trikont / Promo) 



 

Was das Repertoire betraf, schälte sich bald ein Programm heraus, das vieles miteinander verband. „Nicht Lieder absingen, keine Ökofolklore, nichts Harmloses, nichts Dummes-Dumpfes, Perfektes, Glattes, nichts Wischiwaschimäßiges“ umriß Goebbels das Konzept, bei dem sozialistische Klassiker („Trotzalledem“, „Rote Sonne“), Zirkusnummern, Weihnachtslieder, Stücke von Hanns Eisler, Willem Breuker, Sun Ra, Frank Zappa und Johann Sebastian Bach sowie Kompositionen von Rolf Riehm, Heiner Goebbels und Alfred Harth wild durcheinander gingen.

 

Unter den Titeln „Hört, Hört“ (1977) und „Mit Gelben Birnen“ (1980) produzierte das SLBO während seines fünfjährigen Bestehens zwei Langspielplatten, die vom Münchner Anarcho-Label Trikont herausgebracht wurden, was neue Probleme aufwarf: „Die Live-Aufnahmen sind zwar meistenteils lebendig und spannungsvoll, musikalisch aber wirklich teilweise zu schlecht. Bei Studio-Aufnahmen kommt dagegen überhaupt keine Spannung auf, sie bleiben oft langweilig und trocken,“ erklärte die Altsaxofonistin Barbara Müller-Rendtdorff den Zwiespalt, eine von zwei Frauen im „Blasorchester“.  


Sogenanntes Linksradikales Blasorchester: Trotz alledem (Youtube)


 

1980 wurde die Gruppe zu den Berliner Jazztagen in die Berliner Philharmonie eingeladen, was eine Diskussion über die weitere Zweckmäßigkeit auslöste. Etliche Mitglieder hatten das Gefühl, dass sich der ursprüngliche Impuls überlebt und sich die politische Großwetterlage so geändert hatte, dass diese „fröhliche und optimistische Form des Ausdrucks“ (Rolf Riehm) nicht mehr angebracht erschien. Die Gruppe stürzte in eine Krise, was ihr Selbstverständnis betraf. „Wir hatten den Eindruck, dass wir wohl ganz lustige Musik machen, aber die realen Kräfteverhältnisse doch ganz anders aussehen. Und wir konnten darauf nicht angemessen mit den uns zur Verfügung stehenden ästhetischen Mitteln antworten,“ so Goebbels. Nach fünf Jahren Musikaktivismus löste sich das Sogenannte Linksradikale Blasorchester 1981 auf. 

 

Die beiden LPs auf einer Doppel-CD:

Sogenanntes Linksradikales Blasorchester: 1976–1981 (Trikont) 

Zu beziehen über: www.trikont.de


Der Text erschien zuerst in der NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK, 1-2023 (https://musikderzeit.de)