Tuesday, 14 March 2023

Rembetiko fürs elektronische Zeitalter

GASTBEITRAG VON SIMON STEINER


Post-Rembetiko: Antonia Kattou geht andere Wege


Portrait der zypriotischen Musikerin 


 

Auf einem unüblichen Rembetiko-Pfad befindet sich die griechische Zypriotin Antonia Kattou, geboren 1999 in Nikosia. Kattou ist vom Genre Rembetiko begeistert, respektiert die Originale aber arrangiert sie neu.



Antonia Kattou, geboren 1999 in Nikosia, mischt zu den alten Liedern Geräusche aus ihren field-recordings, Effekte, Synthesizer, elektrische Gitarre, Schlagzeug-Samples und mehrstimmigen Gesang, es entsteht  ein „Rembetika-Mix.“ Kattou schrieb mir: „Ich wollte verstehen, wie ich als griechische Zypriotin mit dem Rembetiko verbunden bin. ... Ich habe schon als Jugendliche im Elternhaus die Rembetika der Nachkriegszeit gehört, Sotiria Bellou und Tsitsanis, aber ich erinnere mich auch, dass ich dabei als Kind gemischte Gefühle empfand.“


Kattous Musik ist von östlichen mediterranen Klängen, traditioneller zypriotischer Musik und griechischen Volkstanzrhythmen beeinflusst. Verzögerungen und Ausdehnungen lassen ihre Musik sphärisch klingen. Es entstehen große Klanghallen, wie „wattiges“ Ambiente. Ein mit einem Geigenbogen gestrichenes Becken oder dezente Trommeln ertönen behutsam. Das mehrstimmiges Mitsingen der Original-Rembetika klingt bezaubernd. Ihre Musik klingt nostalgisch, zeitgenössisch und futuristisch zugleich. Man befindet sich auf einer Reise durch verschiedene Orte und Zeiten. Kattou produzierte ihr Album sound adaptations of rebetika tsimpita in Glasgow, Athen und Nikosia mit der Unterstützung anderer Mitmusiker.


 

Diaspora und Migration


Griechische Migranten, die nach der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe 1922 erst nach Griechenland und wenige Jahre später in die USA auswanderten, haben es der Migrantin Kattou angetan. Sie beschäftigt sich mit Maqam (oder Makam, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Maqam_(Musik)), den türkisch-arabisch-persischen Tonleitern der Smyrneika-Musik, die um 1900 in der multikulturellen Café-Aman-Musik aus Smyrna und Istanbul verwendet wurden. (hier: https://christophwagnermusic.blogspot.com/2020/12/das-kosmopolitische-smyrna-und-seine.html) Sie ist selbstverständlich auch Kennerin der Dromoi, also „Wegen“ oder modalen Tonleitern, die den Rembetika ihre eigenen unverwechselbaren Melodien geben. (hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Dromos_(Musik))


Klangadaptionen Rembetika Tsimpita


Kattou weist in ihren Internet-Texten auf zwei Gemeinsamkeiten von Blues und Rembetiko hin, die ihr auch persönlich wichtig sind: die Spielweise Tsimpita und die Improvisation.


Tsimpita


Giorgos Katsaros, dem Kattou zwei ihrer Arrangements widmet, wanderte als junger Mann in die USA aus und zupfte auf seiner Gitarre Rembetika mit den Fingernägeln. Diese Spielweise nennt sich Tsimpita. Zupfen ist auch für afro-amerikanische Bluesgitarristen eine Selbstverständlichkeit.



Improvisation


Die freie Improvisation ist eine weitere Gemeinsamkeit von Blues und Rembetiko. Im Rembetiko heißt sie Taximi. Sie macht die Einleitung eines Rembetiko aus und ebnet den Weg des Liedes. Im Blues finden die Improvisationen durch die Betonung der Blue Notes (kleine Terz, kleine Septime und verminderte Quinte) auf der Tonleiter statt.

Lebensweltlich betrachtet spüren wir in beiden Musik Genres die Emotionen Schmerz und Leidenschaft von migrierten Randgruppen und Außenseitern – sowohl im traurigen afro-amerikanischen Blues als auch im melancholischen Rembetiko. Teilen beider Randgruppen gelang es im Laufe der Zeit, Underground oder Subkultur zu verlassen und in die Salons des Establishment aufzusteigen. Beiden Musikgenres ist auch die Elektrifizierung ihrer Hauptmusikinstrumente Gitarre und Bouzouki gemeinsam. Beide phrasieren teilweise „schleppend“, manchmal hören sich beide Genres „hinkend“ an: Der Blues mit seinen Synkopen, Rembetiko mit seinem Kofto, dem „geschnitten“ wirkenden Rhythmus.

Der große Unterschied zwischen ihnen: Der Blues ist harmonisch, basiert auf drei Akkorden und dem bekannten 12-Takt Schema, das Rembetiko primär auf den Melodien von Maqam und Dromoi.


Hören:

https://antoniakattou.bandcamp.com/album/sound-adaptations-of-rebetika-tsimpita


soundcloud.com/kattouxo/sets/sound-adaptations-of-rebetika-tsimpita-excerpts

 

Mehr:

https://linktr.ee/antoniakattou


Vollständiger artikel auf griechisch und deutsch:
 

Thursday, 2 March 2023

Zum Tod von Peter Weibel (5.3.1944 - 1.3.2023)

Exzess, Enthemmung, Skandal


“Underground Explosion” 1969 – ein vergessener Höhepunkt der Revolte


Peter Weibel, ZKM 2008 (Foto: Christoph Wagner)


Ein Interview von 2008 mit dem Performance-Künstler Peter Weibel, der damals Direktor des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe war   


Es kam regelmäßig zum Tumult, sogar zur Saalschlacht, so provokativ war die Tournee “Underground Explosion” im April und Mai 1969 ausgerichtet. Selbst für die wilden sechziger Jahre wurde sie ein leuchtendes Fanal an Radikalität, indem sie durch die Verbindung von Rockmusik, freier Improvisation, Kunst, Performance-Art und Theater die wichtigsten Strömungen der damaligen Avantgarde zusammen brachte.


Das Interview fand im ZKM in Karlsruhe statt. Weibel nahm sich richtig Zeit, es war im wichtig, die 'Underground Explosion' aus der Vergessenheit hervorzuholen. Am Schluß fragte er mich, ob ich mit dem Auto oder mit dem zug angereist sei. Als ich 'Auto' sagte, gab er mir zwei bleischwere Kunstkataloge, Dokumentation seines Gesamtwerks.



Christoph Wagner: Sie haben als Performance-Künstler im April und Mai 1969 an einer Tournee mit dem Titel “Underground Explosion” mitgewirkt. Was war die Intention?


Peter Weibel: Die Tournee “Underground Explosion” war ein echtes Phänomen für mehrere Bewegungen, die hier kulminierten: die Studentenrevolte, die Poprevolte und die Avantgarde-Kultur, was damals für Multimedia und Aktionismus stand. Die Tournee, die in Köln, München, Essen, Stuttgart und Zürich Station machte, hatte einen erstaunlichen Erfolg. Das war extrem populär, obwohl die Inhalte unvorstellbar radikal für heutige Verhältnisse waren. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Tournee heute völlig vergessen ist. 

Ich glaube, dass diese Tournee ein einsamer Höhepunkt war für diese Zeit, in der viele künstlerische Bestrebungen zusammen kamen.

Da war zum einen das Wath-Tholl-Theater von Pjotr Kraska, dann zwei Bands - großartige Musikgruppen: Guru Guru Groove aus der Schweiz und Amon Düül 2 aus Bayern. Die gehören für mich in den Olymp der Rockkultur. Die haben eine absolut fantastische Musik gemacht. Dann war da noch Anima dabei, also Paul und Limpe Fuchs, die eine extreme Avantgarde-Musik auf selbstgebauten Instrumenten spielten. Valie Export und ich machten Aktionen und Multimedia-Aktionen mit viel Nacktheit, wie das damals der Brauch war.


Wie hat sich das Theater in die Rockmusik eingefügt?


Peter Weibel: Das Wath-Tholl-Theater war keine übliche Theatergruppe, die in einem geschlossenen Raum auftritt und dann ihre Texte sagt. Vielmehr sind die über verschiedene Orte aus dem Publikum langsam ins Zentrum der Bühne hineingeströmt. Sie haben aber den Großteil ihrer Aktionen stumm oder mit Geräuschen im Publikum gemacht. Sie haben halluzinogene Erfahrungen dargestellt und psychiatrische Störungen, also alles das, was die sechziger Jahre bewegt hat. Anti-Psychiatrie, Befreiung des Körpers, Befreiung der Sinne, Anti-Politik, sexuelle Revolution, anti-bürgerlich, anti-faschistisch, anti-autoritär. Die haben die Konzepte des berühmten Living Theater fortgeführt. Das war die Abschaffung des Sprechtheaters, das war körperliches Bewegungstheater, wie seither nie wieder. Das war ein Gipfel des Avantgarde-Theaters.


Wie lief das Programm ab? Hatte das Theater einen seperaten Auftritt?

 

Peter Weibel: Nein, die waren mitten drinnen. Zwischen der Musik waren einzelne Lücken, wo die auftraten und unsere Aktionen stattfanden. Dann ist die Musik wieder weitergegangen und das Theater ist verschwunden. Das wechselte sich ab. Das war das Schöne. Da war Musik und während der Musik sieht man das Theater. Es ereignete sich etwas im Saal, wo man gar nicht gewusst hat, gehört das dazu oder ist es ein Aufstand des Publikums. Langsam ist das Ereignis dann auf die Bühne gekommen.


Peter Weibel bei der 'Underground Explosion'





Was haben sie zusammen mit Valie Export zum Programm beigesteuert?


Peter Weibel: Wir haben Aktionen gemacht, unter dem Titel “Kriegskunstfeldzug”. Zentral war dafür das Wort W.A.R.. Die Buchstaben standen für War, Art, Riot, auf deutsch: Krieg, Kunst, Aufruhr. Wir sind in München im Circus Krone vor 3000 Leuten aufgetreten, Sporthalle Köln 2000 Leute, Essen wieder eine Riesenhalle 1500 Leute. In Essen war es bereits ein Skandal, da hatte es eine Saalschlacht gegeben, so dass die Aufführung in Stuttgart nur unter der Bedingungen stattfinden konnte, dass Export und ich nicht auftreten. Ich war froh, denn unser Krieg gegen das Publikum war brutal eskaliert in Essen, so dass ich Angst vor Stuttgart hatte. 


Valie Export hat in Essen eine Bierflasche auf den Kopf bekommen. Wieso gab es solch extreme Publikumsreaktionen?


Peter Weibel: Unsere erste Aktion war das Tapp- und Tastkino, eine gemeinsame Aktion von Export und mir, die den Busenfetischismus ins Visier nahm, der damals im Kino seinen Höhepunkt hatte. Atom war damals noch ein Lobeswort, weshalb man von Atombusen sprach. Da waren die Busenstars von Gina Lolobrigida bis zu Sophia Loren.  Unsere Theorie war, dass der Staat das revolutionäre Potential der Sexualität darauf hinlenkte. Die Sexualität sahen wir als eine Kraft, die zerstört, auch viele Klassenschranken zerstört. Dass eine Prinzessin einen armen Schlucker heiratet, war wegen Liebe. Und dass man Rassenschranken überwindet - Romeo und Julia - ist wegen Liebe. In Wirklichkeit geht es immer um Sex. Also der Sex ist etwas, was die Klassenschranken sprengt. Der Staat weiss das natürlich und versucht das revolutionäre Potential vom Sex zu kanalisieren, indem er es ableitet auf Voyeurismus und Exhibitionismus. Sie zeigen Busen und du darfst ihn anschauen. Jetzt haben wir gesagt: um der Sexualität ihre Kraft zurückzugeben, geht es bei uns nicht um das Bild des Busens, sondern um wirklichen Busen. Solange der Staat euch mit Bildern  abspeist, solange gibt es keine wahre sexuelle Revolution. Aber bei uns habt ihr die Möglichkeit. Wir geben euch einen Kasten, einen Kinosaal, der so klein ist, dass nur zwei Hände darin Platz haben. In unserem Kino sieht man nichts, sondern man spürt den nackten Busen von Frau Export. 


Das war die Theorie. Wie sah die Praxis aus?


Peter Weibel: Wir haben einen Kasten gebaut, vor sie hingestellt und haben die Leute hineingreifen lassen, damit sie den Busen spüren konnten. Man durfte nur 12 Sekunden hineingreifen, weil ja viele an den Busen greifen wollten. Also musste man demokratisch vorgehen und immer nach 12 Sekunden sagen: “Junge bzw. gnädige Frau - stop!” Ich bin dabei gestanden und habe obszöne Reden gehalten, in denen ich das alles erklärt habe. Da war ich ein Meister. Ich habe also mit einem unglaublichen Verstärker mit Mikrofon diese Reden gehalten, dass es nur so durch die Halle dröhnte. Meine obszönen Reden waren eine Mischung aus Verrücktensprache, Vulgärsprache und Wissenschaftssprache. Ich sagte etwa in einem hymnischen Ton: “Ihr seid die Partisanen der Partialtriebe. Der Wahn von Fut und Schwanz treibt uns durch die Welt.” Es war die gleiche Wirkung wie heute von diesem Sexual-Rap. Das war ein wahnsinniger Eindruck, musikalisch besser als die Doors. 


Zuerst haben wir das Tapp- und Tastkino am Münchner Stachus gemacht, dann wurde es Bestandteil der “Underground Explosion”-Tournee. Die Leute haben ekstatisch reagiert. Da gab es Menschentrauben, die da hineingegriffen haben.  Dann hat Valie Export sich zurückgezogen. Ich habe weitergeredet und eine Peitsche genommen und ins Publikum hineingepeitscht von der Bühne herunter. Das waren so 10 m lange Ochsenschwanzpeitschen. Damit habe ich das Publikum ausgepeitscht, richtig ausgepeitscht. Sie sind aggressiv geworden und haben angefangen, sich zu wehren. Dann hat das Publikum die Bühne gestürmt. 

Es hiess ja damals: Man muss viele Vietnam schaffen! Der Geruch von Napalm muss hier zu spüren sein! Deshalb haben wir gesagt: Der Krieg findet im Saal statt. Es gab ja den Satz: Die Kunst findet im Saal statt, also im Museum. Dagegen haben wir gesagt: Nein, weil wir revolutionär sind, findet der Krieg im Saal statt. Und jetzt seht ihr mal, was Krieg bedeutet. Das war die Idee. 


Wie macht man Krieg konkret deutlich? Wie lief das ab?


Peter Weibel: Valie Export und ich hatten Ballen aus Stacheldraht vorbereitet, die haben wir ins Publikum geschmissen, einfach ins Blinde hinein. Wir haben sie in die Hand genommen ohne Handschuhe und haben sie dann mit voller Kraft einfach ins Publikum geschleudert. Ich  schwitze heute noch, wenn ich dran denke. Da hätten ja schreckliche Dinge passieren können. Das hätte jemand ins Auge fallen können, das Auge auskratzen. Aber die Idee war damals abstrakt, wir bringen den Krieg in den Saal. Dazu kam das Peitschen. In Essen haben die Zuschauer die Bühne gestürmt und Valie Export eins auf den Schädel gehauen. Wir mussten praktisch durch den Bühneneingang fliehen. Deswegen gab es das Verbot, weil dauernd Krawall war. Darum durften wir beiden in Stuttgart nicht mehr auftreten. So lange es nur die Peitsche war ohne Stachendraht: Das war Sado-Maso! Da haben sich Teenagermädchen vor mich niedergekniet und nach meinem Geschlechtsteil gegriffen. Da habe ich gemerkt. Man kann eine Stimmung erzeugen nur durch solche Reden - durch die sexualle Gewalt der Sprache. Ich war selbst ganz erstaunt. Ich habe damit nicht gerechnet, dass Scharen von Leuten sich vor mich hinschmeissen und versuchen mir ans Geschlechtsteil zu fassen oder in meine Hose hineinzubeisen. ich habe sie abschütteln müssen. Es ware eine unvorstellbare Ekstase. Natürlich hochgekitzelt durch die aufpeitschende Musik, plus Alkohol und Drogen.


Limpe Fuchs mit Anima bei der 'Underground Explosion'





Wie kam eigentlich die Idee für das ganze Spektakel zustande?


Peter Weibel: Karl Heinz Heim aus München hatte die Idee. Er hat die Künstler ausgewählt, der hat das Programm zusammengestellt. Er hat die Tour auch organisiert, die Auftrittsplätze gefunden, Plakate drucken lassen. Großartige Kurator-Leistung! 


Welchen Einfluss hatten Drogen?


Peter Weibel: Auf die Rockbands sicher, obwohl man sagen muss, dass sie am Nachmittag - nur leicht angetörnt - besser spielten, als abends, wenn sie zugedröhnt waren. Wir haben nichts genommen. Wir mussten vollkommen klar sein. Ich musste ja die Reden halten, musste aufs Publikum eingehen, mich steigern. Ich musste die Gefahren sehen. Das heisst: Ich musste ganz nüchtern sein.


Zum Abschluss haben sie das Publikum mit einem Wasserwerfen beschossen?


Peter Weibel: Das ist richtig. Ich hatte mir einen eigenen Wasserwerfer gebaut. Den kannte man ja von den Straßenschlachten. Der Plastiker Wolfgang Ernst hat mir ein modernes Modell gebaut. Er sah aus wie ein Raketenwerfer mit fünf Kanonen. Den haben wir volle Pulle ins Publikum gehalten. In  Essen hat sich deswegen ein Handgemenge ergeben. Ich konnte mich lange mit der Peitsche wehren, aber dann war schon ein Haufen auf mir und ich musste sehen, dass ich davonkommen. Es hat immer eskaliert. In Zürich war es schlimmer denn je. Da sind links und rechts an den Bühneneingängen ganze Horden von Polizisten gestanden - vor mir das Publikum, das ich gerade traktiert hatte, auch meine Feinde. Ich war umzingelt. Ich bin dagestanden nackt und hab’ gedacht: “Jetzt ist es vorbei!” Ich wußte: Wenn ich hier den offenen Kampf führe, verliere ich - keine Frage. Meine einzige Chance bestand darin, kein Angst zu zeigen und meinen Feinden zu signalisieren: “Wenn ihr mich anrührt, verliert ihr!” Also habe ich ihnen kühl den Rücken zugedreht, gelassen meine Unterhose angezogen, ein Handtuch umgehängt, so dass keiner auf die Idee kam, ich wollte fliehen. Ich bin dann mit Valie Export auf die Leute zumarschiert. Die waren verdutzt und haben wohl gedacht: “Jetzt kommt noch eine viel schlimmere Aktion. Was führt der im Schilde?”

Wir sind dann so durch die Feinde durchmarschiert. Kaum waren wir draussen, sind wir sofort ins Auto hineingesprungen und sind  halbnackt durch Schnee und Nebel über die Grenze von Zürich nach Österreich gefahren. Es war drei Uhr früh.  


Guru Guru Groove, 1969





Sie nannten Teile der Show “extented cinema”. Gab es noch mehr Visuelles?


Peter Weibel: Ja, wir hatten noch eine riesige Plastikleinwand, die war durchsichtig. Das war eine auto-generative Tonleinwand, also eine Leinwand, die den Ton selbst erzeugt, die ich “Das magische Auge” genannt habe. Der Film wird auf der Leinwand zu Ton. Wir befestigten daran Licht abhängige Widerstände. Mit befreundete Ingenieure hatten wir ein Gerät gebastelt, das Licht in Ton verwandelt, also so eine Art primitiver Synthesizer. Die Lichtquellen werden in Schallwellen verwandelt. Dunkles Licht bedeutet dunkler Ton, helles Licht heller Ton. Ich hatte einen Film, der war von Kurt Kren, Op-Art - also schwarz-weiße Muster: ideal! Das war ein richtiger psychedelischer Film, der flackerte, aber nicht immer nur die ganze Fläche, sondern auch Teilflächen. Dadurch ist eine extrem heulende elektronische Musik entstanden mit Tempo und Rhythmus in hoher Lautstärke mit Tausende von Watt - eine Art frühe Techno-Musik.

Das war natürlich für damals ein Hammer: Nach der psychedelischen Rockmusik von Amon Düül und Guru Guru kommt da nochmals so ein Gejaule daher. Die ganze “Underground Explosion”-Show war weit besser als “Plastic inevitable”, die Multimedia-Show von Andy Warhol. Wir waren um einiges weiter und viel härter. Bei Warhol waren das Projektionen auf Leinwände. Wir haben dagegen gesagt: Gegen die Projektion, für die Wirklichkeit. Bei uns war alles echt, bei Warhol abgefilmt. Diese Mischung aus Rockmusik, Avantgarde, Kunst, Sexualität und neue Theaterformen hat die Jugend damals richtig unterstützt und gewollt. Die Jugendrevolte hat eine Öffnung gebracht, die solche Formen möglich machte, dass sie akzeptiert worden sind, sowohl in der Musik wie in der Kunst. Jugendrevolte, Poprevolte und Avantgarde-Kunst kamen hier zusammen. Das war nur möglich in diesem Zeitfenster. Plötzlich kamen da tausende von Zuschauer. Noch 1967 mussten wir die Leute bitten, in unsere Performances zu kommen. 1968 kamen sie von allein - in Massen. Das geschah durch die Unterstützung der Rockkultur. Wir hatten plötzlich eine riesige mediale Aufmerksamkeit. es war Teil der Revolte. Ein paar Jahre später wäre es nicht mehr möglich gewesen. Das unterscheidet es auch von Jugenkultur heute, wie etwa Rap, die scheinbar die schmutzigen Reden übernommen haben, in Wirklichkeit aber eine Industrie geworden ist, vom Staat lizensiert: Die Fetischischierung von Materialismus! Deshalb kann man sie auch nicht ernst nehmen. Hier werden die subversiven Bedürfnisse der Jugendlichen komplett ausgebeutet. Sie sind Sklaven der Industrie. Die Protestkultur von damals hat in einen Zustand der Versklavung der jungen Leuten geführt. Die Söhne von Mannheim bis nach Berlin - das ist alles schon von Anfang an Industrie-Ramsch. Das dient nur der Ausbeutung der subversiven Träume der Jugendlichen. Die Träumen von der Revolte auszubeuten, ist heute die Hauptfunktion der Industrie ist. Und das tun sie jetzt. Wenn man damals einen Skandal gemacht hat, ist man garantiert bei der Polizei gelandet, heute bekommt man eine Sendung im Fernsehen. Heute sagen sie: Bitte einen Skandal. Nur so kommen wir in die Medien. Die Logik der Massenmedien hat die Logik der Avantgarde übernommen. Exzess, Übertreibung, Enthemmung! Damit sind das für die Kunst untaugliche Mittel geworden, was bedeutet, dass sie möglicherweise schon damals nicht wirklich gute Mittel waren, wenn man sie so vereinnahmen kann. Die Avantgarde-Kunst hat diese Skandalkultur vorbereitet und die Massenmedien haben sich deren bedient.


Ein Kapitel meines Buchs 'Klang der Revolte – die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Undergrounds' (Schott) ist der 'Underground Explosion' gewidmet

Saturday, 18 February 2023

Yoko Ono zum 90sten


Klang der Dunkelheit

Yoko Ono: von Fluxus über die Beatles und darüber hinaus 



cw. Yoko Ono bellt Urlaute heraus. Ihre Stimme überschlägt sich, Sie klingt so schrill, exaltiert und durchdringend wie der Gesang im japanischen Noh-Theater. Stöhnen, Heulen und Seufzen kommen dazu. Dissonante Akkorde und Rückkopplungen verdichten sich. Gitarrensaiten werden gedehnt und gezogen. Die amerikanische Vokalistin ist in ihrem Element und schöpft die ganze Bandbreite ihrer Stimmkunst aus.

Ihr Album “YokoKimThurston” hat Yoko Ono mit zwei “guten Freunden” eingespielt. Damit sind die Rock-Avantgardisten und Ex-Eheleute Kim Gordon und Thurston Moore von Sonic-Youth gemeint, der  alternativen Rockband, die seit den 80er Jahren stilprägend gewirkt hatte und sich vor zehn Jahren aufgelöst hat. Mit der Einspielung kehrt Ono zu ihren Anfängen zurück: den radikalen Experimenten in der Untergrund-Szene von Downtown Manhattan, als sie sich mit Schrei-Performances und Konzept-Kunst einen Namen machte. Yoko Ono ruft damit eine mehr als 60jährige Erinnerung wach, die Anfang der 60er Jahre unter dem Stichwort “Fluxus” begann.



September 1962. Im städtischen Museum in Wiesbaden findet unter der Überschrift “Fluxus - Internationales Festival Neuster Musik” ein großes Tohuwabohu statt. Das Ereignis bringt zum ersten Mal die extremsten Avantgardisten und Kunstrebellen aus der ganzen Welt zusammen. In 14 Konzerten werden alle Register der Anti-Kunst gezogen und die Vorstellungen konventioneller Ästhetik auf den Kopf gestellt. Es geht um Schock, Provokation und Skandal. Als Höhepunkt wird ein Klavier zertrümmert, was einen Reporter zu der Schlagzeile veranlasst: “Die Irren sind los!”

Frauen sind in der Fluxus-Szene eine verschwindende Minderheit. Yoko Ono liefert einen der wenigen weiblichen Beiträge zum Wiesbadener Festivalprogramm. Ein paar ihrer Werke werden aufgeführt, darunter “Ein Stück, um den Himmel zu sehen.” Ono, die später als Gattin des Beatle John Lennon zu Weltruhm gelangt, hatte sich mit radikalen Kunstaktiviäten für das Ereignis empfohlen. In ihrem New Yorker Loft-Studio hatte sie seit 1960 die “Chambers Street Concerts” veranstaltet, wo etwa die “Smoke Paintings” zu sehen waren, brennende Gemälde, die sich in Rauch auflösten.



“Ich spielte eine Reihe von Konzerten mit La Monte Young,” erinnert sich Ono. “John Cage überredete all diese tollen Leute, zu unseren Konzerten zu kommen: Peggy Guggenheim, Duchamp, Max Ernst.” Bei einer anderen Aktion namens “Painting To Be Stepped On” wurde eine Leinwand auf den Fußboden ausgebreitet, wobei sich durch die Schuhabdrücke der Besucher allmählich ein abstraktes Bild ergab. Und dazwischen immer wieder die “Cry Pieces” – Schrei-Stücke: “Mit solchen Geräuschen und Gefühlen wollte ich arbeiten: der Klang der Angst und der Dunkelheit,” kommentierte Ono ihre Aktionen.

1933 geboren, stammt Yoko Ono aus einer vermögenden Tokioer Bänkersfamilie. Mit dem Reichtum ging eine profunde musikalische Ausbildung einher. Ono erhielt privaten Musikunterricht, nahm Gesangstunden und übte  “German Lieder”. Als Onos Vater zum Leiter der Bank of Tokyo in New York befördert wird, kommt sie in den 50er Jahren in die USA, um an einer Eliteuniversität Philosophie und Komposition zu studieren. Einer ihrer Mitstudenten ist George Maciunas, der später zum Initiator und Namensgeber der Fluxus-Bewegung wird und Ono in seiner New Yorker Galerie ausstellt.

Die  Geschäfte mit avantgardistischer Kunst gehen schlecht. Gläubiger sind Maciunas auf den Versen. 1961 setzt er sich nach Deutschland ab, wo er für die US-Armee in Wiesbaden als Grafikdesigner arbeitet. Rasch knüpft er Kontakte zu Künstlern wie Joseph Beuys und Avantgarde-Komponisten wie Karlheinz Stockhausen. Maciunas sorgt wohl auch dafür, dass Onos Konzept-Stücke beim Fluxus-Event in Wiesbaden zur Aufführung kommen.

Neben Wiesbaden ist Wuppertal ein anderes Zentrum der neo-dadaistischen Bilderstürmerei. Hier finden in der Galerie Parnass Ausstellungen mit neuer Kunst und auch erste Fluxus-Happenings statt. “In einer Ausstellung präsentierte Nam June Paik seine präparierten Klaviere und ähnliche musikalischen Apparaturen, die vom Publikum bespielt werden konnten. Ich hing in der Galerie rum, wenn etwas geboten war, und half Paik,” erinnert sich der angehende Freejazz-Saxofonist und damalige Student an der Wuppertaler Werkkunstschule Peter Brötzmann. “Jede Tag oder jeden anderen Tag ging ich mit meinen Freunden Tomas Schmit und Manfred Montwe in die Galerie, um die zumeist sehr fragilen Instrument-Installationen, manche mit Plattenspielern, Tonbandgeräten oder Ferseh-Monitoren, wieder herzurichten, wenn sie in Mitleidenschaft gezogen worden waren.”

Brötzmann begleitete Paik zu einem 2-tägigen Fluxus-Event nach Amsterdam. “In einem alten Kino wurde ein Flux-Fest von der Galerie Amstel 47 veranstaltet. Ich war als Akteur dabei und an einigen von Paiks Stücken beteiligt,” erinnert sich der Saxofonist. “Yoko Ono habe ich erst einige Zeit später getroffen, ebenfalls in Holland bei einem Event, den Anita Schoonhoven organisiert hatte, deren Mann Jan Schoonhoven ein maßgeblicher Künstler der Zero-Gruppe war. Anita war vom neuen Jazz angetan. Sie organisierte Konzerte, und auf einem tanzte Yoko Ono herum. Ich habe nicht gedacht, dass es von großer Bedeutung war, was sie gemacht hat – eigentlich nur ein bisschen nackt und ein bisschen bemalt. Dennoch war sie neben Charlotte Moorman, Mary Bauermeister, die mit Stockhausen liiert war, und Alison Knowles eine der wenigen Frauen, die sich überhaupt in diesem Umfeld künstlerisch behaupteten.”

Die Künstlerin Mary Bauermeister organisierte zu der Zeit in Köln im kleinen ‘Theater am Dom’ frühe Fluxus-Aktionen, sei es mit eigenen Arbeiten oder Kompositionen von Stockhausen. “John Cage und David Tudor waren einmal da, ebenso Nam June Paik,” erzählt Brötzmann. “Das Dreieck Wuppertal, Köln und Düsseldorf war ein Zentrum solcher Aktivitäten. Joseph Beuys war in Düsseldorf, den ich damals mit Paik in seinem Studio besucht habe und der auch Interesse an Musik zeigte und ein paar Mal zu unseren Aktionen in Wuppertal kam. Grenzen zwischen bildender Kunst und Musik gab es damals nicht.”

1964 kam es zum Eklat. Als Stockhausens experimentelles Musktheaterstück “Originale” in New York von u.a. Mary Bauermeister, Allen Ginsberg und Nam June Paik aufgeführt wurde, protestierten die Fluxus-Mitglieder George Maciunas, Tony Conrad und Henry Flynt vor dem Konzerthaus gegen die Veranstaltung, wobei Flynt in einem Pamphlet Stockhausens Ablehnung von außereuropäischer und populärer Musik als “kulturellen Imperialismus” brandmarkte. Damit war der Split vollzogen. Politisch linksgerichtete Fluxus-Mitglieder attackierten ihre eher individualistischen und politisch indifferenten Kollegen, die wiederum die stramme politische Ausrichtung als “Agit Prop” ablehnten. Das Schisma ging als der “erste Tod” von Fluxus in die Annalen der Kunsthistorie ein. “Verräter, du hast Fluxus verlassen!” hieß es auf einer Postkarte, die Maciunas an Paik schickte.

1966 stellte Yoko Ono ihre Installationen in einer kleinen Galerie in London aus, wo sie John Lennon von den Beatles traf. Bald galt das Paar als unzertrennlich und sorgte mit spektakulären Aktionen wie dem Amsterdamer “Bed-In”-Happening gegen den Vietnam-Krieg für Schlagzeilen.  Beatles-Fans waren auf Yoko Ono nicht gut zu sprechen: Ihr wurde die Trennung der Fab Four angelastet. Mit Lennon nahm Ono einige radikale Schallplatten auf, die eine Verbindung zwischen Fluxus und Rock ‘n’ Roll anstrebten, was dem Beatle den Fluxus-Ritterschlag vom Flux-Erfinder George Maciunas höchstpersönlich einbrachte, aber auch viele Verrisse, Spott und Hohn.

Nach dem Mord an Lennon im Jahr 1980 führte Yoko Ono die musikalischen Aktivitäten fort, oft im Gespann mit ihrem Sohn Sean Lennon, wobei sie von Jazzfunk über experimentellen Rock bis zu Electronica und Remixes immer wieder musikalisches Neuland betrat, getrieben von einer scheinbar unerschöpflichen kreativen Neugier.

Die Fluxus-Ära bildet neben den Jahren mit Lennon das Kernstück einer Biographie, die der Journalist Nicola Bardola über Yoko Ono verfasst hat. Bienenfleißig hat er die ganze Ono- und Lennon-Literatur durchforstet, dabei viele Fakten zusammengetragen, die er nun flüssig referiert. Allerdings fehlt ihm neben der Sachkenntnis und dem Vokabular, auch das theoretische Handwerkszeug, um Yoko Ono im Kontext der Fluxus-Bewegung kunsthistorisch kompetent einzuordnen.

Weil Bardola mit Ono selbst kein Interview führen konnte, hat er alle Fakten aus der umfänglichen Sekundärliteratur und diversen Online-Quellen destilliert. Ebenso wenig hat der Autor alte Weggefährten konsultiert, wie etwa den Minimalisten La Monte Young, der immerhin einmal Onos Lover und Fluxus-Kompagnon war, oder den politischen Fluxus-Aktivisten Henry Flynt. Beide hätten sicherlich Erhellendes z.B über den Konflikt zwischen der politischen und apolitischen Fluxus-Fraktion beitragen können und Onos Haltung dazu.

                                                                                                             John Tchicai

Der Mangel an “First-Hand-Information” erweist sich auch bei der Behandlung des Albums “Unfinished Music No 2 – Life with the Lions” als Handicap. Wie Bardola schreibt, spielen auf der Live-Aufnahme “Cambridge 1969” mit Lennon und Ono “noch ein Saxofonist und ein Schlagzeuger.” Hätte er den Saxofonisten John Tchicai, immerhin ein maßgeblicher Neuerer im Jazz seit den 60er Jahren, befragt, wäre ihm wenig Schmeichelhaftes über seine Heldin zu Gehör gekommen: “Auf Tantiemen warteten wir vergeblich. Ich schrieb Briefe an Yoko Ono, um meinen Anteil zu reklamieren, bekam aber keine Antwort,” weiß Tchicai über die Multirmillionärin zu berichten. “Das ist Diebstahl und eine Schande, dass Leute so tief sinken, Musiker, die sowieso wenig verdienen, um ihre Ansprüche zu prellen.” In der Hagiographie von Bardola hätten solche Fakten das Heiligenbild nur gestört.


                                                                                                                                    Foto: Lester Cohen

Yoko Onos Album ist da von größerer Qualität, das auf ihrem eigenen Chimera-Label erschienen ist. Die Bandbreite der weitgehend improvisierten Titel reicht von entrückten Gesangsstücken mit verzerrten Gitarrensounds über Gedichtrezitationen in verteilten Rollen bis zur Nummer “Mirror Mirror”, die das Grimm’sche Märchen “Schneewittchen” variiert. Gegenüber den jüngeren Begleitmusikern fällt die Fluxus-Oma nicht ab – im Gegenteil: Selbstbewußt gibt sie die Richtung vor. Immer steht Onos Stimme im Vordergrund. Wie ganz zu Beginn ihrer Karriere lotet sie die Möglichkeiten ihres Gesangsorgans in allen Schattierungen aus. “Ich habe meine ganze Energie in dieses Album gesteckt, um die Welt damit aufzuwecken,” sagt die Künstlerin, die jetzt 90 Jahre alt geworden ist.

Buch:
Nicola Bardola: Yoko Ono. Eine Biographie. LangenMüller. 288 Seiten, 24 SW-Fotos. 

CD:
Yoko Ono / Kim Gordon / Thurston Moore: YokoKimThurston (Chimera Music)





Saturday, 21 January 2023

JAZZTRENDS: Tom Skinner auf den Spuren von Tony Williams

Der Drummer gibt die Richtung vor

 

Als Schlagzeuger der Sons of Kemet wurde er bekannt, jetzt veröffentlicht Tom Skinner ein Album unter eigenem Namen – Shabaka Hutchings und Nubya Garcia sind mit von der Partie

 

Tom Skinner (Foto: C. Wagner)


 

cw. Tom Skinner wirkt immer leicht gehetzt. Es ist auch nicht einfach in der Metropole London, ein Leben als junger Familienvater von zwei Kleinkindern mit dem Beruf eines professionellen Schlagzeugers und Komponisten zu vereinbaren. Da hastet man dann doch öfters von einer Bandprobe, einer Session oder einem Studiotermin schnell nach Hause, um den Nachwuchs pünktlich vom Kindergarten abzuholen. 

 

Hektik zeichnet Skinners Alltag aus, noch mehr, wenn er auf Tour ist, wobei die Sons of Kemet in den letzten zehn Jahren die Band war, mit der er am häufigsten unterwegs war. Aber auch Gruppen wie Melt Yourself Down sowie Musiker und Musikerinnen wie Mulatu Astatke, Alexander Hawkins, Eska oder Matthew Herbert haben seine Dienste in Anspruch genommen, aus dem einfachen Grund: Skinner gilt als einer der besten Drummer der britischen Szene. Das haben wohl auch Thom Yorke und Jonny Greenwood von Radiohead erkannt, die mit ihm zusammen vor zwei Jahren die Gruppe The Smile ins Leben riefen. 

 

Im Frühjahr 2020 hatte Skinner auf einmal etwas, was er sonst nie hatte: Zeit! Die Pandemie brachte alle Aktivitäten zum Erliegen. Und nun – was tun? Glücklicherweise hatte er ein Plattenprojekt in der Mache, das bereits aufgenommen war. Skinner verwendete die Auszeit, um sich intensiv dem Abmischen der Aufnahmen zu widmen. Zwei Tage pro Woche nutze er das kleine Studio eines Bekannten, um den Einspielungen den letzten Schliff zu geben. Das Endergebnis ist das Album „Voices of Bishara“, das gerade auf Gilles Petersons Brownwood-Label erschienen ist.

 

Der Ursprungsimpuls reicht bis ins Jahr 2018 zurück. Skinner bekam damals das Angebot, einen Abend im Londoner Club „Brilliant Corners“ (nach dem berühmten Album von Thelonious Monk benannt) zu bestreiten, in einer Reihe, die unter der Überschrift „Played Twice“ läuft. Die Spielregeln lauten: Jeweils ein Musiker kuratiert einen Abend und wählt dafür ein klassisches Album aus, das in der besten Vinylpressung, die aufzutreiben ist, in der ersten Hälfte der Veranstaltung auf einer hochwertigen Stereoanlage in Gänze gespielt wird. Danach reagiert dann eine vom Kurator zusammengestellte Band auf das soeben gehörte.

 

Skinners Wahl fiel auf das Album „Life Time“ von Tony Williams, das 1964 bei Blue Note erschienen ist. Es war die erste Einspielung des damals 19-jährigen Drummers unter eigenem Namen. Mit Sam Rivers (Tenorsaxofon), Herbie Hancock am Piano und Bobby Hutcherson (Vibrafon), dazu abwechselnd Richard Davis, Gary Peacock oder Ron Carter am Bass entwarf Williams einen modernen Jazz, der sich kompositorisch und improvisatorisch in Neuland vortastete, sich dabei sogar  in die Zonen des freien Jazz vorwagte. 

 

Die Band, die Skinner für den Gig zusammenrief, war ein fünfköpfiges Ensemble, das auf der einen Seite aus den Bläsern Shabaka Hutchings (Tenorsaxofon und Baßklarinette) und Nubya Garcia (Tenorsaxofon und Querflöte) bestand, auf der anderen die Streich- und Zupfmusiker Tom Herbert (Kontrabaß) und Kareem Dayes (Cello) umfasste, mit dem Bandleader in der Mitte, der als Drummer und Perkussionist die Richtung vorgab. Der Abend verlief so vielversprechend, dass Skinner über eine Fortführung des Projekts nachdachte. 

 

Er entwarf ein halbes Dutzend Stücke, komponierte Melodien, dachte über Strukturen und Formen nach, um die ausnotierten Passagen und die Improvisationen in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen. Unter dem Titel „Red 2“ wurde auch eine Komposition von Tony Williams interpretiert – das Eröffnungsstück „Two Pieces Of One: Red“ vom „Life Time“-Album.

 

Nachdem das Konzept stand, buchte Skinner ein Studio. Dort wurden sechs Titel eingespielt, wobei ein spiritueller Jazz zu hören war, der den Geist der 1960er Jahre atmete, dabei eine Gratwanderung zwischen themenbasierter Improvisation, freiem Spiel und auskomponierten Teilen unternahm, wobei er die gelegentlich eruptiven Ausbrüche als hymnische „fire music“ zelebrierte. 


Tom Skinner Voices of Bishara: The Journey (Youtube)



 

Mit diesem Material machte sich Skinner pandemiebedingt an die Post-Produktion. „Da wir die Musik live im Studio eingespielt hatten, ließ das nicht viel Spielraum für größere Eingriffe,“ erklärt der Drummer. „Ich habe behutsam hier ein bisschen Hall hinzugefügt, dort den Klang ein bisschen räumlicher gestaltet oder die Balance der Instrumente verändert, auch ein paar deutlichere Cuts vorgenommen, um Kontraste zu schaffen.“    

 

Als im Frühjahr 2022 die Sons of Kemet den „kollektiven Entschluß“ (Tom Skinner) fassten, die Band aufzulösen, verringerte das den Streß in Skinners Alltag etwas und machte neue Aktivitäten möglich: Der Drummer fasste ein paar Auftritte mit dem „Bishara“-Ensemble ins Auge, wobei er nicht an die Originalbesetzung dachte, da Shabaka Hutchings und Nubya Garcia in der Zwischenzeit zu internationalen Stars geworden waren, mit einem Terminkalender, der wenig Spielraum für anderes läßt. Aus diesem Grund hat Skinner bereits zwei andere Holzbläser einbezogen: den Saxofonisten und Klarinettisten Robert Stillman sowie die Tenorsaxofonistin und Flötistin Chelsea Carmichael. Mit ihnen wurden erste Auftritte absolviert, was Lust auf weitere machte. Gut möglich, dass aus der ad-hoc-Band doch noch ein festes Ensemble wird. 

 

Tom Skinner: Voices of Bishara (Brownwood)