Wednesday, 30 June 2021

Review: Tom Rainey Obbligato

Aufmerksamkeit und Wachheit


Tom Raineys Bandprojekt Obbligato mit neuem Album




 

Tom Raineys Bandprojekt Obbligato ist als eine Art “party game” für Jazzmusiker und Jazzmusikerinnen konzipiert. Die Regeln lauten: Es werden bekannte Standards aus dem Great American Songbook wie etwa „Stella by Starlight“ oder „I Fall in Love Too Easily“ gespielt, die allerdings nur schemenhaft in ihrem harmonischen Grundgerüst anklingen, weil die Melodie nicht gespielt, sondern höchstens angedeutet und umkreist wird. Stattdessen improvisieren die fünf Beteiligten von Beginn an kollektiv über das jeweilige Thema, was ein verflochtenes polyphones Gruppenspiel ergibt, das der Spielauffassung des New Orleans-Jazz nahekommt, bevor das individuelle Solospiel im Jazz zu dominieren begann. 

 

Tom Rainey hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der meistgefragten Drummer der amerikanischen Jazzszene entwickelt, der inzwischen auf über 250 Alben für das rhythmische Rückgrat sorgt und sich auch im freien Jazz zu bewegen weiß. Der Schlagzeuger aus Brooklyn hat vier hochkarätige Instrumentalisten um sich geschart. Neben Ingrid Laubrock, die ihr Saxofon virtuos mit wunderbarem Einfühlsvermögen bläst, besteht die Combo aus Trompeter Ralph Alessi, Bassist Drew Gress, sowie Pianist Jacob Sacks, der auf dieser dritten Einspielung der Band für die reguläre Tastenmusikerin Kris Davis eingesprungen ist und sich mühelos ins Gruppengeschehen einfügt.


Foto: Jan-Gerrit Schäfer

 

Der Ansatz verlangt ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit und Wachheit aller Beteiligten, weil jeder Instrumentalist jeden Moment auf die Einfälle der anderen zu reagieren herausgefordert ist. Erst aus dem fortwährenden interaktiven Austausch von Ideen aus dem Augenblick heraus gewinnt die Musik ihre kreative Kraft. Dazu ist eine absolute Vertrautheit mit dem Material die unabdingbare Voraussetzung, weswegen es auch nicht verwundert, dass ein paar Titel präsentiert werden, die bereits auf den beiden Vorgängeralben enthalten waren.

 

Im Zentrum dieses „Live“-Albums, das 2018 vom WDR bei einem Konzert im Jazzclub Hannover mitgeschnitten wurde, steht das 17minütige Doppel-Stück „What’s New – There Is No Greater Love“, das die beiden Standards zusammenbindet und von einem Basssolo eingeleitet wird. Ein durchdachtes Schlagzeugsolo, das nie in die oft übliche Ratterei verfällt, gestaltet den Übergang von ersten zum zweiten Stück, wobei ein wunderbar relaxtes, loses Feeling die Atmosphäre bestimmt, das das gesamte Album durchzieht. In den melancholisch gefärbten Balladen, die mit kammermusikalischer Zurückhaltung in Szene gesetzt werden, hat die Musik ihre stärksten Momente und bring die große Musikalität der Beteiligten am deutlichsten zum Ausdruck.


Tom Rainey Obbligato: Untucked in Hannover (Intakt Records)


Sunday, 27 June 2021

KRAAN@50

Beste Freunde

 

Die bekannte Jazzrockgruppe Kraan feiert 50jähriges Jubiläum


 Foto: Lars Wege


 

cw. Im Fußball muß man elf Freunde sein – drei genügen in der Rockmusik: Hellmut Hattler (Baßgitarre), Peter Wolbrandt (E-Gitarre) und Jan Fride (Schlagzeug) gründeten 1970 die Jazzrockgruppe Kraan und traten im Mai 1971 in ihrer Heimatstadt Ulm zum ersten Mal auf – 50 Jahre später sind die drei immer noch beisammen. In diesem halben Jahrhundert haben sie Popgeschichte geschrieben und Kraan zu einer der profiliertesten und langlebigsten Formationen der deutschen Krautrockszene gemacht mit einem Sound, der bis heute nicht nach Mottenkiste klingt, sondern Jazz, Rock und Funk zu einer eigenständigen Fusionmusik verbindet.

 

In den 1970er Jahren hatten Kraan ihre große Zeit. Ein Jahr nach Woodstock von vier wildentschlossenen Schul- und Uni-Abbrechern ins Leben gerufen, spielte man zu Beginn Freejazz im Ulmer Jazzkeller “Sauschdall”. „Wir hatten dort Brötzmann und Schlippenbach gehört, was uns mächtig imponiert hat,“ erinnert sich Jan Fride. Allerdings entfaltete die Rockmusik bald eine noch größere Sogkraft. Kraan zogen nach Westfalen ins abgelegene Weidegut Wintrup, wo sie für ein paar Jahre mit Freundinnen, Manager und Roadies als Popkommune zusammenwohnten. Gleich hinter dem Hof begannen die Felder, dahinter erhob sich der Teutoburger Wald. Weit ab vom nächsten Dorf, konnten man hier Tag und Nacht Musik machen und die Verstärker aufdrehen, ohne dass es jemand gestört hätte. Regelmäßig schneiten befreundete Musiker herein, ob von Guru Guru, Exmagma oder Karthago, die auf dem Weg zum nächsten “Gig” ein Nachtquartier suchten. Dann wurde manchmal bis in die Morgenstunden gejammt. 

 

In den Wintrup-Jahren ließ Kraan mit einer Reihe exzellenter Schallplatten aufhorchen. “Keiner von uns hat damals an Karriere gedacht, das hat sich einfach so ergeben”, rekapituliert Fride die Entwicklung. Die LP “Andy Nogger” wurde 1974 im Studio des legendären Toningenieurs Conny Plank aufgenommen, der auch das folgende ‘Live’-Album produzierte. Auf den Einspielungen stachen Hellmut Hattlers treibende Bassläufen heraus, aber auch die elektrisch verzerrten Saxofonlinien von Johannes “Alto” Pappert, die melodischen bis schneidenden Gitarrensoli von Peter Wolbrandt und das groovende Schlagzeug von Jan Fride trugen ihren Teil zum typischen Kraan-Sound bei.  

 

Mehr als hundert Konzerte im Jahr absolvierte die Gruppe damals. Bei jedem Wetter ging es im Bandbus kreuz und quer durch die Bundesrepublik. “Im Winter war es manchmal saukalt, die Straßen spiegelglatt – Horrortrip”, erinnert sich Fride. Man spielte in Kulturzentren, Underground-Diskotheken, Jugendclubs und Festhallen und ließ kein Open Air aus, wobei der Auftritt beim legendären Roskilde-Festival in Dänemark 1975 einen Höhepunkt markierte. “Bei den Auftritten haben wir ein Stück angespielt und dann 20 Minuten drauflos improvisiert, wobei wir froh waren, wenn uns am Schluß das Thema  wieder eingefallen ist,” beschreibt Fride das Konzept der Band.

 

Allerdings zehrte das anstrengende Tourneeleben an den Kräften, und auch in der Bandkommune lief nicht alles reibungslos. “Es gab keine Vorschriften, kein Privateigentum,” schildert Hellmut Hattler die Situation. “Es gab keinen Spülplan und keinen Putzplan. Es war alles auf Freiwilligkeit angelegt, was nur mäßig funktionierte.“ Drogen trugen ihren Teil zum Chaos bei. Hellmut Hattler packte als erster die Koffer und kehrte mit Freundin nebst Säugling nach Ulm zurück, blieb jedoch in der Band. Dann quittierte Saxofonist “Alto” Pappert den Dienst, dessen vakante Stelle vom Keyboarder Ingo Bischof (von der Berliner Gruppe Karthago) eingenommen wurde. Nach etlichen Umbesetzungen, Stilwechseln, längeren Auszeiten und ein paar frischen Anläufen – zeitweise saßen Curt Cress oder Gerry Brown am Schlagzeug – war irgendwann Schluß. Kraan warfen das Handtuch.

 

Jedoch waren die freundschaftlichen Bande so stark, dass man immer wieder einmal einen Neustart versuchte, der aber nie richtig an Fahrt gewann, weil Soloprojekte in die Quere kamen. Erst um die Jahrtausendwende begann die zweite kontinuierliche Etappe in der Bandgeschichte. Jetzt war man abermals als Quartett mit Keyboarder Ingo Bischof unterwegs, der allerdings nach ein paar Jahren endgültig ausschied. Seitdem sind die drei Freunde wieder unter sich, die einst als Klassenkameraden in der Ulmer Waldorfschule durch die Musik zusammenfanden. 

 


Letztes Jahr ist Kraans aktuelles Album “Sandglass” erschienen, das die einzelnen Musiker Corona-bedingt im Overdub-Verfahren unabhängig von einander in ihren jeweiligen Heimstudios aufgenommen haben. Knackige Bassläufe, facettenreiche Melodien, funkelnde Akkordflächen, feindosierte Soli und messerscharfe Unisono-Passagen verzahnen sich gekonnt zu entspannten Songs oder abgehangenen Instrumentalnummern, welche die Krautrock-Veteranen als Meister ihres Fachs zeigen. Jetzt hoffen die drei nur noch, dass sie sich zum 50jährigen Bandjubiläum bald wieder zu Auftritten treffen können.  

 

Aktuelles Album:

Kraan –  Sandglass (36Music)

 

 

Friday, 25 June 2021

'Geistertöne'-Besprechung in 'Hinterland'

Geistertöne im Hinterland

Miche Hepp über 'Geistertöne'

Jaki Liebezeit (Can) beim Konzert mit Hans-Joachim Irmler (Faust) im Hof des Sigmaringer Kulturzentrums 'Alter Schlachthof', Sommer 2014 (Foto: C. Wagner)


Der Journalist und
Fotograf Miche Hepp betreibt seit Jahren die immer exzellent informierte und hochkompetente website "Hinterland – Musikmagazin für Oberschwaben und 
überall". Die Internetseite kündigt vor allem Konzertauftritte und Festivals im Südwesten von Deutschland an bis ins Grenzland zur Schweiz hinein. Sie ist eine äußerst wichtige Institution und Informationsquelle für die regionale Szene von Hardcore Rock über Jazz bis Folk. Eine Rubrik der Internet-Seite unter der Überschrift 'Lesestoff' ist Buchbesprechungen gewidmet. Hier hat Hepp gerade mein ‘Geistertöne'-Buch rezensiert:



John Tchicai (1936-2012) zu Gast im Faust-Studio in Scheer, 2008 (Foto: C. Wagner)



Thursday, 17 June 2021

Podcast-Serie: Accordion Talks

ACCORDION TALKS


Vor einiger Zeit hatte ich das Vergnügen, von zwei jungen, hochmotivierten Damen in Balingen interviewt zu werden, die mehr über meine Akkordeon-Recherchen wissen wollten. Laura Eigbrecht und Tina Feddersen haben jetzt eine Podcast-Serie unter dem Titel "Accordion Talks" gestartet, in der sie einmal im Monat mit unterschiedlichen Akkordeon-Repräsentaten über das Instrument sprechen, dabei Einblicke in sein Milieu, seine Geschichte und Kultur gewähren – unbedingt hörenswert! Nach Saso Avsenik habe ich die Ehre im zweiten Podcast dabei zu sein. 

Hört mal rein:

https://anchor.fm/accordion-talks