Wednesday, 11 August 2021

Die Mundharmonika@200

Domäne des Blues

 
Die Mundharmonika wird 200 Jahre alt – einst war sie das populärste Musikinstrument der Welt  

Bob Dylan

cw. Bob Dylan, die Beatles und Rolling Stones, Stevie Wonder, Bruce Springsteen und Neil Young hießen die Popgrößen, mit denen die Mundharmonika in den 1960er und 1970er Jahre noch einmal im Rampenlicht stand – ein letztes Mal! Seither verlor sie kontinuierlich an Attraktivität und wurde mehr und mehr an den Rand der populären Musik gedrängt. Nur in den Reservaten des Blues und in den Domänen von Country und Folk hat sie ihren Platz behauptet. Natürlich taucht heute die Mundharmonika weiterhin ab und zu im Pop auf, etwa auf Taylor Swifts Album „Folklore“ von 2020, doch ist das kaum mehr als das punktuelle Aufklingen einer Tradition, die sonst in der populären Musik nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Denn – Hand aufs Herz: Welcher Teenager läßt sich im Zeitalter von iPhone und iPad noch von einer Harmonika begeistern?
 
Der Bedeutungsverlust ist deshalb so gravierend, weil die Mundharmonika einst das beliebteste Musikinstrument der Welt war. Als erstes Instrument aus industrieller Fertigung strahlte sie eine enorme Faszination aus. Sie war klein, also mobil, und jederzeit einsatzbereit, weil immer gestimmt. Als Inkarnation des Fortschritts verkörperte die „Mundorgel“ das utopischen Versprechen einer demokratischen Musikkultur, die niemand mehr ausschloß. 



Die Mundharmonika war ein Musterbeispiel für Teilhabe und Inklusion. Durch sie war nun jeder in der Lage, selber Musik zu machen, denn selbst Habenichtse konnten sich eine Harmonika leisten. Dabei war der „Goschenhobel“ nicht nur unter der männlichen Jugend verbreitet, auch Mädchen spielten „Mundharfe” und zwar recht häufig. Unter Sennerinnen in den Alpen war das Instrument besonders beliebt, weil es auf den einsamen Almen oft die einzige musikalische Unterhaltung bot.

 
Die Mundharmonika war zu Beginn der 1820er Jahre in Wien entstanden und wurde anfangs als Novität auf Jahrmärkten und von Hausierern verkauft. Das Verbreitungstempo war enorm. Ein paar Jahre danach war das Instrument schon in England und den USA anzutreffen, während es in Deutschland bereits als „gebräuchliches Instrument der älteren Schuljugend” galt. Die Mundharmonika war begehrter Modeartikel – der Inbegriff von „cool“.

Mit raffinierten Werbemethoden stimulierten die Hersteller den Absatz. Das Design und die Verpackung wurden jeweils den neusten Moden und Trends angepasst. Es gab ein „Wandervogel“-Modell für die Jugendbewegung um die Jahrhundertwende, eine „Turner-Harmonika“ für die aufkommende Sportbewegung. Mit Marken wie „Helvetia Harmonica“ wurde patriotische Gesinnung zur Umsatzsteigerung genutzt, während ein Hersteller mit einem Instrument in Form einer Granate um 1914 von der grassierenden Kriegsbegeisterung zu profitieren versuchte. 

Harmonika-Schachtel (Sammlung: Harmonikamuseum Trossingen)

Die Verkaufsstrategie ging auf. Auf dem Höhepunkt des Harmonikabooms vor ca. hundert Jahren exportierte allein die Firma Hohner aus Trossingen Instrumente in über einhundert Länder. Die Umsatz explodierte geradezu. Hatte Hohner im Jahr 1877 neunzigtausend Harmonikas hergestellt, so betrug der Verkauf zehn Jahr später schon eine Million, um zur Jahrhundertwende jährlich auf vier Millionen anzuwachsen. Und damit war noch lange nicht das Ende des Wachstums erreicht. Ungläubig betrachteten selbst die Fabrikanten die Unersättlichkeit des Marktes. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung verließen jährlich ungefähr 50 Millionen Stück die Fabrikhallen der Firmen Hohner, Koch , Weiss, Hotz, Böhm oder Rauner in Trossingen und Klingenthal (Sachsen), und viele landeten in Amerika: Schiffsladungsweise ging die „Mouth Organ“ in die Vereinigten Staaten.

Werbeplakat (Sammlung: Harmonikamuseum Trossingen)
 
In den USA forderten Filmstars wie Buster Keaton von Plakatwänden herab zum Kauf einer Harmonika auf. Vorspielwettbewerbe und Meisterschaften sorgten für Aufmerksamkeit, und „Mundharmonika-Weltmeister“ gaben Vorführungen. Besonders erfolgreich arbeiteten die „Instrukteure”, die für die großen Harmonikahersteller unterwegs waren. Ihr Auftrag: überall Mundharmonika-Orchester zu gründen. Systematisch wurden Schulen und Vereine abgeklappert – und viele bissen an. Ende der 1920er Jahre waren in den USA mehr als viertausend Jugendorchester registriert. Larry Adler (1914 – 2001), einstiger Harmonikastar, hat in einem Mundharmonikaorchester seine Karriere begonnen. Zum 200. Geburtstag des Instruments hat die Bundespost eine Briefmarke mit seinem Konterfei zu Ehren der Mundharmonika herausgegeben.
Die Harmonika schlug vor allem Wurzeln im Blues, weil ihre Heultöne bestens zum Gesang aus dem Mississippi-Delta passten. „Du kannst alles machen mit einer Harmonika: Einen dünnen Flötenton oder Akkorde oder eine rhythmische Melodie,“ schrieb John Steinbeck in seinem Roman „Früchte des Zorns“. „Du kannst die Musik formen mit deinen gewölbten Händen, kannst sie heulen und weinen lassen.“ „Blues Harp“-Spieler wie Sonny Boy Williamson gingen noch weiter und ahmten einen fahrenden Zug nach oder das Hundegebell bei Fuchsjagden. Akrobatische Show-Einlagen sorgten für staunende Gesichter, wenn er das Instrument zwischen die Lippen klemmte und freihändig spielte, wobei die Finger den Rhythmus schnippten. Oder Sonny Boy Williamson blies auf der Harmonika, indem er sie wie eine Zigarre in den Mund steckte. Als Höhepunkt seines „Acts“ ließ er die Tröte sogar ganz im Mund verschwinden, ohne mit dem Spielen aufzuhören, was seinem Gesicht ein exzentrisches Aussehen gab.

Sonny Boy Williamson
 
Die Phase als Show-Instrument hat die Mundharmonika längst hinter sich gelassen. Heute sind Mundharmonikaspieler darauf aus, als seriöse Instrumentalisten zu gelten. Während der Jazzmusiker Toots Thielemans den Grundstein legte, haben Virtuosen wie Howard Levy maßgeblich zur Imageverbesserung beigetragen. Einer der gefragtesten Harmonikaspieler im internationalen Jazz ist im Moment der Genfer Grégoire Maret, der seit Jahren in New York lebt. Die Referenzliste der Schwergewichte, mit denen Maret gearbeitet hat, ist so eindrucksvoll wie lang und reicht von Pat Metheny über Cassandra Wilson bis zu Herbie Hancock. 

Grégoire Maret
 
Maret, der mit 18 Jahren nach Amerika ging, um in New York Musik zu studieren, spielt seine Mundharmonika so geschmeidig wie ein Saxofon. Und da es heute nur wenige Spitzenmusiker auf dem Instrument gibt, wird der Schweizer immer herangezogen, wenn bei einer Studiosession Harmonikaklänge benötigt werden.
 
Auf seiner aktuellen Einspielung – mit einer Grammy-Nominierung dekoriert – umkreist er die vielfältigen „Roots Music“-Stile, die in den USA unter dem Stichwort „Americana“ (so auch der Titel seines Albums) firmieren. Maret entwirft eine imaginäre Folkmusik, die Country, Blues und Gospel zu einer pastoralen Kleinstadt-Klangidylle verdichtet. Während Bill Frisell mit wolkigen Gitarrentönen die Weite des amerikanischen Hinterlands beschreibt oder mit der Slidegitarre und dem Banjo den Klang des alten Südens beschwört, zeichnet Marets Mundharmonika melodische Linien in den grenzenlos erscheinenden Himmel. Man meint Tom Sawyer in der Ferne zu erblicken, wie er durch die Uferlandschaft des Mississippi schlendert und dabei verträumt auf einer Mundharmonika bläst. Selbstverständlich hatte die Firma Hohner in den 1930er Jahren auch ein „Tom Sawyer“-Modell im Angebot.
 
Info:
Eine weltweit einmalige Sammlung von Mundharmonikas und Akkordeons sind im Deutschen Harmonikamuseum Trossingen zu besichtigen, nebst kulturhistorischen Erläuterungen sowie den Geschichten einzelner Harmonikahersteller. Das Museum ist auf dem ehemaligen Areal der Harmonikafirma Hohner untergebracht: www.harmonika-museum.de

Buch: 
Christoph Wagner: Die Mundharmonika - ein musikalischer Globetrotter. Transit:Verlag; Berlin 1996. 214 Seiten, zahlreiche Abbildungen.