Im Fantasieraum der Klänge
Das Duo von Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor feiert mit einem neuen Album zehnjähriges Bestehen
Foto: Ralph Feiner
cw. Die Minimalbesetzung aus Klavier und Schlagzeug ist eine Besonderheit auf der aktuellen Jazzszene. Unbelastet von einer übermächtigen Tradition, bietet sie eine Vielzahl an Möglichkeiten. Vera Kappeler (Piano) und Peter Conradin Zumthor (Schlagwerk) bilden seit zehn Jahren ein solch ungewöhnliches Gespann, wobei es nicht hinderlich zu sein scheint, dass die beiden auch privat ein Paar sind. „Laß uns noch eine Stunde proben,“ ist ein Satz, der im gemeinsamen Haushalt häufig fällt und die Zusammenarbeit recht unkompliziert macht.
Trotzdem gibt es natürlich Vorgänger. Don Pullen und Milford Graves waren die ersten im Jazz, die 1966 als Klavier-Schlagzeug-Duo auftraten und damit einen Präzedenzfall schufen, auf den sich ein Jahrzehnt später in Europa Misha Mengelberg und Han Bennink sowie Alexander von Schlippenbach und Sven Ake Johannson bezogen. 1979 kam es zur Begegnung der Giganten, als Cecil Taylor und Max Roach mit einem Auftritt aufhorchen ließen. Damit war ein Modell etabliert, das bis heute in verschiedenen Spielarten freier Improvisation immer wieder auflebt. „Eine Partie Tischtennis“, nannten dann auch Mengelberg und Bennink eine ihrer Schallplatten. Ping-Pong als Metapher für Freejazz im Reiz-Reaktion-Modus? Dem können Kappeler und Zumthor schon lange nichts mehr abgewinnen. Das einzige Ping-Pong, das die beiden noch spielen, ist das an der Tischtennisplatte im Garten ihres Hauses in Haldenstein bei Chur. Musikalisch gingen sie von Anfang an andere Wege.
Seit Beginn basteln die beiden an einer Konzeption, die man sogar als Gegenentwurf zur freien Improvisation begreifen könnte: eine Musik, die weder spontan, noch ungebunden ist, sondern durchdacht und ausgeklügelt, dazu über Jahre gereift und auf das Allernotwendigste reduziert.
Fixiertes und Vorgedachtes tritt an die Stelle des Stegreifspiels, anstatt exaltierter Verausgabung herrscht kontrollierte Disziplin. Was Struktur, Rhythmus, Tempo, Klangfarben und Schattierungen anbelangt, sind die meisten der Kompositionen auf dem neuen Album „Herd“ aufs Präziseste ausgearbeitet. Und sie sind kurz: Ohne Umschweife geht es zur Sache. Die Stücke zielen nicht ins Ungefähre, überlassen kaum etwas dem Zufall, sondern sind auf die Vermeidung von Planlosigkeit und Geschwätzigkeit bedacht. Das bedeutet keineswegs, dass die Musik keine Freiräume kennt, nur sind deren Vorgaben genauestens definiert. Mit „Disziplin und Präzision“ hat Sun Ra einmal die Merkmale seiner Musik auf den Punkt gebracht. Die Kurzformel könnte auch für das Duo aus Haldenstein gelten, „wobei das Musizieren immer auch Spaß machen muß“, so Zumthor.
Viel Träumerisches, Verklärtes, auch Wehmütiges kommt in den kleinen Melodien zum Ausdruck, die sich durch die meisten der Kompositionen ziehen. Diese „Miniaturen“ (Vera Kappeler) können nach einer Spieldose oder einem Kinderkarusell klingen bzw. an Erik Saties „Gymnopedies“ bzw. die „Geistervariationen“ von Robert Schumann erinnern und werden allein durch das Schlagzeug in die Gegenwart geholt. Bezeichnenderweise nennt Peter Conradin Zumthor die späten Klavierwerke von Franz Liszt als Einfluß. Für die Entdeckung der Langsamkeit werden dagegen Bohren & der Club of Gore und Howe Gelbs Giant Sand haftbar gemacht, für die aufbrausende Heftigkeit Igor Strawinsky.
Neben einem Trauermarsch leuchtet einmal sogar die alpenländische Ländlertradition auf – in einem schleppenden Dreivierteltakt. Das ist ein sachter Hinweis darauf, dass die beiden in der Südostschweiz zuhause sind. Von Bergen, Fels und Stein umgeben, ist es kaum verwunderlich, dass sich ihre Musik durch eine gewisse Kargheit und Spröde auszeichnet.
Das Kontrastmittel zu Empfindsamkeit und Fragilität bilden Stücke, bei denen es handfester zur Sache geht, die unbändig daherkommen oder bei denen die Töne so dicht und kaskadenhaft wie in Conlon Nancorrows „Player Piano“-Stücken niederprasseln. Dazu gesellen sich Maskeraden und Verkleidungen: Das Vexierspiel mit klanglichen Täuschungen zieht die beiden in den Bann, fasziniert von Klängen, die ineinander verschwimmen und bei denen nicht klar ist, ob sie vom Klavier, von Metallstäben oder von leicht verstimmten Klangschalen stammen.
Als die Pandemie im März 2020 das Konzertgeschehen lahmlegte, beschlossen die beiden, die Auszeit zu nutzen und ein neues Album in Angriff zu nehmen, das eigentlich längst überfällig war, da die letzte Einspielung „Babylon-Suite“ sieben Jahre zurücklag. Zuerst ging es darum, das Repertoire zu durchforsten, um geeignete Stücke ausfindig zu machen, die im Kontext eines Albums Sinn machen würden. Gegebenenfalls galt es neue Kompositionen zu entwerfen, auszuarbeiten und einzustudieren. Das erfordert viel Zeit, da jedes neue Stück erst in den langen Stunden im Proberaum seine endgültige Form gewinnt. Da wird dann ausgiebig experimentiert, immer wieder neue Ideen und Klangkombinationen ausprobiert, die dann entweder verworfen oder für so gut empfunden werden, dass die Weiterarbeit lohnt, bis man schließlich zu einer befriedigenden Lösung findet.
Das Ergebnis von Monate langer Arbeit ist das Album „Herd“, in zweieinhalb Tagen in den Hardstudios in Winterthur eingespielt und mit einer Botschaft versehen, die stumm die Geschichte eines Alpendorfs in Graubünden erzählt, das 1955 einem Stausee weichen musste, was ein großes Fragezeichen hinter ein Phänomen macht, dass sich bis heute „Fortschritt“ nennt.
Vera Kappeler / Peter Conradin Zumthor: Herd (Intakt)
Der Text erschien zuerst im Musikmagazin JAZZTHETIK