Monday, 10 October 2022

Scheibengericht: Zwei neue Album von Günter Baby Sommer

SCHEIBENGERICHT 8:


Günter Baby Sommer plus




Günter Baby Sommer & The Lucaciu 3

Karawane

(Intakt Records)


Wertung: 4 von 5

 


Baby Sommer Kiecktett

Quiétude Fragile

(Neos Music)


Wertung: 4 von 5 

 

Die erste Platteneinspielung, an der er beteiligt war, stammt von 1965. Günter „Baby“ Sommer hat sich in seiner Karriere von den Radebeuler Tanzrhythmikern zu einem der profiliertesten Schlagzeuger des modernen Jazz entwickelt. Nächstes Jahr wird der Trommelveteran aus Dresden achtzig Jahre alt. 

 

Sommer ist ein klangbewußter Schlagzeuger mit einem Gespür für die melodischen Seiten des Instruments. Der Dresdener spielt kein Schlagzeug von der Stange, sondern eine höchstindividuelle Zusammenstellung spezieller Trommeln, Pauken, Becken und Gongs, auf denen er eine ganz eigene Diktion entwickelt hat. Vielleicht sollten man ihn eher als Perkussionisten betrachten, der mit Timbres, Klanggeweben und Akzenten arbeitet, die bis ins Geräuschhafte gehen können. 


Günter Baby Sommer & The Lucaciu 3 (Promo)


Für das Album „Karawane“ hat sich Sommer mit den Brüdern Antonio, Simon und Robert Lucaciu aus Leipzig zusammengetan und einen melodiestarken Jazz mit starkem rhythmischen Fundament entworfen, der manchmal fast hymnisch gerät und mit kurzen Abstechern in die Welt der Dur-Tonalität an das klassische Quartett von Keith Jarrett mit dem Saxofonisten Dewey Redman aus den 1970er Jahre erinnert. Ein Dutzend Titel enthält das Album, die von Sommer, aber auch von zwei der Lucaciu-Brüder stammen und ein weites stilistisches Feld abstecken, das von packenden Groove-Nummern im Shuffle-Beat über träumerische Balladen und raffinert verschachtelten Jazzminimalismus bis zu Ausflügen in Samba und Calypso reicht. Oft bilden Sommers Schlagmuster die Ausgangsbasis der Titel, über die Antonio Lucaciu mit seinem Altsaxofon ekstatische Linien bläst. Sein Bruder Simon antwortet mit luftigen Klavierakkorden und originellen Dissonanzen, während Robert Lucaciu am Baß für die nötige Erdung sorgt. Auf einem Stück verwandelt sich der Drummer in einem Oberdada, der selbstgestrickte Lautgedichte à la Hugo Ball oder Kurt Schwitters Ursonate rezitiert.


Günter Baby Sommer & Uli Kieckbusch (Promo)


Im Unterschied zu dieser „Boy Band“ ist Sommer‘s Kiecktett ein paritätisch besetztes Ensemble, in welchem Uli Kieckbusch Piano, Katharina Sommer Querflöte und Laura Strobl Bratsche spielt. „Comprovisationen“ nennen die vier ihr musikalisches Konzept, was bedeutet: Hier kann Auskomponiertes für sich alleine stehen, aber auch als Wegweiser fungieren, um dem freien Spiel eine Richtung zu geben und so Redundanzen zu vermeiden. Stimmungen und Atmosphären variieren. Die Kombination der Instrumente wird vielfältig genutzt, wobei manchmal nur zwei, manchmal drei der Beteiligten miteinander interagieren, dann aber auch wieder das ganze Ensemble zum Einsatz kommt. Mit der chinesischen Hulusi-Mundorgel, einem Instrument mit Messingzunge, gespielt von Katharina Sommer, kommt ein ganz anderer Klang ins Spiel, den Uli Kieckbusch mit der Mundharmonika flankiert, während Günter Sommer auf einer Marimbafon ein komplexes Schlagmuster unterlegt, was für weitere Abwechslung in dieser an Vielfalt und Originalität nicht armen Musik sorgt.  



 

 

Tuesday, 4 October 2022

Country-Rebellin Loretta Lynn (1932 – 2022) verstorben

Gegen den Strom

 

Zum Tod der Countrymusik-Legende Loretta Lynn, "The Hillbilly Feminist" 



 

cw. Jack White von den White Stripes war es, der sie 2004 ins Rampenlicht zurückbrachte. „Van Lear Rose“ hieß das Album, vom amerikanischen Rockstar produziert, das Loretta Lynn erstmals einem Poppublikum bekannt machte, welches sich möglicherweise nicht einmal bewußt war, in der älteren Dame von 72 Jahren die Königin der Countrymusik vor sich zu haben. Denn nichts weniger war Lynn: neben Dolly Pardon die bekannteste Countrysängerin der Welt. Ihr letztes Album, das 60ste, erschien vor einem Jahr und enthielt noch einmal, mit erstaunlich fester Stimme intoniert, viele der Songs, die sie einst berühmt gemacht hatten. Jetzt ist Loretta Lynn im Alter von 90 Jahren im Schlaf auf ihrer Ranch in Tennessee verstorben. 

 

Lynn musste sich nicht wie andere Countrysängerinnen (etwa Patsy Montana) eine Biographie zusammendichten. Sie kam wirklich aus dem amerikanischen Süden und zwar aus der kleinen Bergarbeitersiedlung Butcher Hollow in Kentucky, im Herzen der Appalachen gelegen, und war wirklich in ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Ihr Vater war Minenarbeiter und hatte Mühe die vielköpfige Familie durchzubringen, weshalb er nebenher noch eine kleine Landwirtschaft betrieb, wobei es selbstverständlich war, dass die Kinder mitarbeiteten. Das Holzhaus der Familie war ohne Strom und fließendes Wasser mit Ziehbrunnen im Garten. 



 

Noch keine sechzehn Jahre alt, heiratete Lynn und zog – hochschwanger – mit ihrem 22jährigen Ehemann 4000 Kilometer nach Nordwesten in ein kleines Holzfäller-Kaff im Bundestaat Washington. Hier kam das erste von sechs Kindern zur Welt. Nach drei weiteren Geburten kaufte die 21jährige eine Gitarre und begann mit der Band The Trailblazers in den Bars und Tavernen der Umgebung aufzutreten, meistens nur für den Applaus und ein paar Drinks. Ihr Ehemann, der sich als ihr Manager versuchte, überzeugte den Countrystar Buck Owens sie in seiner Fernseh-Show auftreten zu lassen, was zum Durchbruch führte. Loretta Lynn bekam einen festen Platz in der samstäglichen Talentshow und jede Woche eine Gage von 5 Dollar. 

 

Ein Geschäftsmann, der sie im Fernsehen sah, finanzierte 1960 ihre erste Studioaufnahme und brachte die Single auf seinem eigens dafür gegründeten Label heraus. Der Song war im modernen Honky-Tonk-Stil gehalten, verwendete elektrische Gitarren und Schlagzeug, und wurde zum Erfolg. 

 

Um nahe am Geschehen zu sein, zog Lynn nach Nashville, Tennessee, der Hauptstadt der Countrymusik, wo sie 1962 in die legendären Radioshow „The Grand Ole Opry“ aufgenommen wurde. Eine lange Reihe von Hits folgte, die sie selbst schrieb und in den 1970er Jahren im Duo mit Conway Twitty sang.

 

Loretta Lynn ließ sich nicht vom männlichen Musikgeschäft herumschubsen. Mit etlichen ihrer Songs schlug sie einen neuen Ton an, vor allem was die Texte betraf, die sich kritisch mit der Männerwelt und deren Macho-Eskapaden auseinandersetzten. Lieder wie „The Squaw is on the Warpath“ und “I wanna be free” gaben inhaltlich die Richtung vor. Mit dem Song „The Pill“ schockierte die Rebellin dann die konservative Fangemeinde vollends, da das Lied zum ersten Mal das Tabu der Geburtenkontrolle anpackte, was etliche Radiostationen veranlaßte, den Song aus dem Programm zu kippen.



 

Die Verfilmung ihrer Autobiographie „Coal Miner‘s Daughter“ mit Oscar-Auszeichnung machte Loretta Lynn endgültig zur Legende und gleichzeitig zum Vorbild einer jüngeren Generation von Countrysängerinnen, die sie als Pionierin verehrten, wobei es sich Reba McEntire, Carrie Underwood, Tanya Tucker und Margo Price nicht nehmen ließen, auf dem letzten Album mit ihrem Idol im Duett zu singen – als Verneigung vor einer ganz Großen der Countrymusik.


Loretta Lynn & Jack White 'live', 28. Januar 2015 (youtube)


 


Monday, 3 October 2022

'In C' von Terry Riley elektronisch interpretiert von The Young Gods

Elektronische Abenteurer

 

The Young Gods spielen die Ursonate der Minimalmusik

 

The Young Gods (Promo / Charlotte Walker)

 

cw. Als Popband sind sie eine Institution: The Young Gods aus Fribourg sind vielleicht die international einflussreichste Schweizer Rockgruppe. Pop-Größen wie David Bowie, Mike Patton (Faith No More) oder The Edge von U2 haben sich von ihrer Musik inspirieren lassen. Seit 37 Jahren befindet sich die Band auf einer musikalischen Odyssee, die sie von Post-Punk und Industrial Rock über akustische Klänge und Ambient-Sounds zu den Songs von Kurt Weill und des Woodstock-Festivals führte. Solche Abstecher wurden meistens durch Impulse von außen angestoßen, von Personen, denen die Musiker begegneten, oder durch Musik, die ihnen gefiel. „Dadurch hat sich unsere Fahrtrichtung immer wieder geändert,“ stellt Bandleader Franz Treichler fest.

 

The Young Gods wurden seit Ende der 1980er Jahre vor allem durch ihre Arbeit mit Samplern berühmt. Die Instrumente, die auf ihren Platten zu hören sind, wurden nicht wirklich gespielt, sondern aufgenommen, um sie mittels Keyboard abzurufen. Auch wenn die Band zu Beginn noch nicht durch und durch elektronisch klang, kamen doch alle Sounds vom Sampler, egal ob Natur- oder Umweltgeräusche, Gitarre, Geige oder Baß. „The Young Gods entstanden wegen der Technologie, davor habe ich in einer anderen Band Gitarre gespielt,“ erklärt Treichler. „Als der erste erschwinglicher Sampler auf den Markt kam, veränderte das vollkommen meine musikalische Praxis. Mit den Young Gods begann mein elektronisches Abenteuer.“  

 

Die kreative Arbeit mit dem Sampler, der inzwischen vom Laptop abgelöst wurde, ist ein sehr persönlicher Prozeß: Ideen werden gesammelt, Klänge und Geräusche aufgenommen und bearbeitet. Dann treffen sich die drei Bandmitglieder im Proberaum zu Jam-Sessions, bei denen improvisiert und mit dem Klangmaterial gespielt wird, bis sich Strukturen, Melodien oder Riffs herausschälen. „Jeder bringt Ideen ein,“ beschreibt Schlagzeuger Bernard Trontin die Arbeitsweise. „Ich steuere nicht nur Drum-Beats bei, sondern komme auch mit Sounds daher, die ich gesampelt habe, oder elektronischen Loops, die mir interessant erscheinen.“ Während der Jam-Sessions entwickeln sich die Arrangements, wobei Trontin versucht, jeder Nummer einen speziellen Rhythmus maßgerecht auf den Leib zu schneidern.




Gerade haben The Young Gods ein Album eingespielt, das von dieser bewährten Praxis abweicht. Sie haben die Komposition „In C“ von Terry Riley aufgenommen, das Stück, das als Initialzündung der amerikanischen Minimalmusik gilt. Die Ursonate des Minimalismus erlebte im November 1964 in San Francisco ihre Uraufführung, bei der viele, der später tonangebenden Minimalisten und Elektroniker als Musiker mitwirkten, von Steve Reich über Pauline Oliveros bis zu Morton Subotnick. Phil Lesh, der Bassist der psychedelischen Rockband The Grateful Dead, schaute öfters bei den Proben vorbei. 


„In C“ wurde als Sensation gefeiert und machte Terry Riley über Nacht zu einem Star der Subkultur. The Who widmete ihm das Stück „Baba O’Riley“ und die progressive Rockgruppe Curved Air benannte sich nach seiner Komposition „A Rainbow in Curved Air“. Bis heute erfreut sich „In C“ anhaltender Beliebtheit in der Popszene. In London waren Musiker von Stereolab vor ein paar Jahren an einer Aufführung beteiligt, wofür sie eigens das Notenlesen lernten. Der Gitarrist von Portishead Adrian Utley präsentierte das Stück 2013 mit einen „Guitar Orchestra“, während Blur-Sänger Damon Albarn ein Jahr später nach Mali reiste, um mit der Gruppe Africa Express eine Version mit Balafonen, Kalimbas, Koras und Djembe-Trommeln einzustudieren.

 

Und jetzt The Young Gods. Gekonnt verwandeln sie „In C” in ein elektronisches Wunderwerk, bei dem Beats und Loops in aufregender Manier ineinandergreifen. Wieder kam der Anstoß von außen und von ungewöhnlicher Seite. Benedikt Hayoz, der junge Dirigent des hochkarätigen Fribourger Blasorchesters Landwehr, dessen Geschichte mehr als 200 Jahren zurückreicht, brachte die Young Gods auf die Idee. Treichler kannte das Stück, hatte aber nie in Betracht gezogen, es selber einmal zu spielen. „Als uns Benedikt Hayoz eine Kooperation vorschlug, stellte ich mir das Stück gespielt von hundert Bläsern und den Young Gods vor,“ so Treichler. „Eine reizvolle Vision.“ 

 

Proben wurden anberaumt, die Spielregeln der Partitur erläutert und einstudiert. Langsam nahm das Projekt Gestalt an. Dann präsentierten die Young Gods mit dem Landwehr-Blasorchester das Stück etliche Male „live“. „Es gefiel uns so gut, dass wir Lust bekamen, die Komposition als elektronisches Powertrio aufzunehmen,“ erinnert sich Treichler. Nach etlichen weiteren Aufführungen mit einem Tanzensemble, ging es ins Studio, wo ein halbes Dutzend Versionen aufgezeichnet wurden und dann die beste ausgewählt. „Nie ist es das gleiche Stück, obwohl es Vorgaben gibt, die aber so flexibel sind, dass es jedesmal anders klingt,“ erklärt Drummer Bernard Trontin.


The Young Gods play Terry Riley 'In C' / part 1 (youtube) 


 

Für ihn stellte die Komposition eine besondere Herausforderung dar. Weil in der Partitur kein Schlagzeug vermerkt ist, musste Trontin seinen eigenen Part erfinden. Aus den 53 vorgegebenen musikalischen Modulen, von denen manche nur aus drei Noten bestehen, entwickelte er individuelle Trommelrhythmen. „Ich übersetzte jede Sektion in ein spezielles Schlagmuster,“ erzählt der Drummer. „Dann musste ich äußerst genau hören, was zwischen den beiden elektronischen Instrumenten passierte, um schnell darauf reagieren zu können.“ 

 

Das Ergebnis ist eine knapp 60minütige, vor Spannung und Elektrizität knisternde Version des Ursprungswerk der Minimalmusik, knapp 60 Jahre nach seiner Geburt. Jetzt sind die Young Gods gespannt, was Komponist Terry Riley dazu sagen wird.

 

The Young God play Terry Riley In C (Two Gentlemen Records)


Dazu meine Radio-Sendung auf SWR Kultur:

https://www.swr.de/swrkultur/musik-jazz-und-pop/die-ursonate-der-minimal-music-in-c-von-terry-riley-100.html