Eine Welt- und Zeitreise in Schellack auf den Spuren traditioneller Musikstile
cw. Die Erfindung der Schellackplatte und des Grammophons Ende des 19. Jahrhunderts bildete den Startschuss für einen Wettlauf um die Märkte der Welt. Da die jungen Unternehmen der neuen Phonobranche sowohl Schallplatten als auch Abspielgeräte herstellten und verkaufen wollten, entstand innerhalb kürzester Zeit ein enormer Bedarf an Musik aus allen Teilen der Welt, die in Schellack gepresst als Kaufanreiz für Grammophone dienten. Die Hersteller hatten die Erfahrung gemacht, dass die Plattenspieler mit Schallhorn nur dann gekauft würden, wenn ein attraktives Schallplattenangebot bestand mit Musikstilen, die vor Ort populär waren.
Diese Einsicht setzte eine Schar von Aufnahmeteams in Bewegung, die nun rund um den Globus reisten, um mit lokalen Musikern Einspielungen zu machen. Die Wachsplatten, auf denen die Musik „eingeritzt“ wurde, ließen nur Stücke mit einer Länge von ein bisschen mehr als drei Minuten zu, was vielen Musikstilen Beschränkungen auferlegte.
Die “recording trips”, ob in Afrika, Asien, der Karibik oder Lateinamerika, gingen selten reibungslos vonstatten. Fremde Sprachen und Gebräuche, andere Mentalitäten und Gepflogenheiten, extremes Klima, politische Wirren sowie Transportprobleme konnten die Aufnahmeexkursionen zu einem Alptraum werden lassen. Starke Nerven waren gefragt.
Bildmaterial: Sammlung C. Wagner
Neben der englischen Grammophone Company, aus der später His Master Voice (HMV) wurde, den amerikanischen Labels Victor und Columbia war die deutsche Firma Odeon aus Berlin einer der Hauptakteure auf dem neuen internationalen Phonomarkt. 1906 enthielt allein der Odeon-Katalog bereits 11000 Titel mit außereuropäischer Musik, was eine Ahnung von der explodierenden neuen Branche gibt.
Das amerikanische Schallplattenlabel Dust to Digital, hat sich seit seiner Gründung 1999 mit mustergültigen Wiederveröffentlichung historischer „Weltmusik“ einen exzellenten Ruf erworben, woran die aktuelle Veröffentlichung nahtlos anknüpft.
Die aus vier CDs bestehende Box ist unter dem Titel „Excavated Shellac“ erschienen, was ausgegrabenes oder geborgenes Schellack bedeutet. Sie enthält – bunt gemischt – hundert Titel aus aller Welt, aufgenommen zwischen 1907 und 1967, dem Zeitpunkt, als Schellackplatten nur noch in ein paar periphären Regionen in Gebrauch waren.
Jonathan Ward heisst der Sammler, aus dessen Kollektion die raren Schellacks stammen und der für die exzellente Zusammenstellung und die detaillierten Kommentare verantwortlich zeichnet. Eine bewundernswerte Fleißarbeit von höchster Qualität! Unter den einhundert Aufnahmen finden sich etliche Perlen, während man sich für ein paar Länder, etwa die Schweiz und Deutschland, musikalisch aufregendere Titel gewünscht hätte.
Die 4-CD-Box wird ergänzt von einem 185 Seiten dicken Booklet, das mit Plattenhüllen, Fotos und Plakaten wunderbare illustriert ist und gleichzeitig zu jedem Titel so viel Information liefert, wie man sich nur wünschen kann. Das verwandelt die Produktionen in eine musikalische Welt- und Zeitreise, eine spannende Abenteuerfahrt in abseits gelegene musikalische Gegenden und Regionen längst vergangener Epochen.
Excavated Shellac – An Alternate History of the World's Music (Dust To Digital)