Friday 7 July 2023

Scheibengericht 17: PJ Harveys neues Album

PJ Harvey: I Inside the old year dying



5 von 5 Sterne

Wenn jemand Künstler ist, bedeutet das, dass er eigenes schafft und nicht imitiert und dabei eine Schicht tiefer in das Mysterium vordringt, das wir Leben nennen. Wenn das also das Kriterium ist, dann fällt PJ Harvey eindeutig in diese Kategorie. 


Irgendwann in den 1990er Jahren war sie bei John Peel in seiner nächtlichen BBC-Radioshow zu Gast. Der legendäre DJ spielte ihr von der Trikont-CD „American Yodeling“ den „Arizona Yodeler“ von den verrückt, überkandidelten DeZurik Sisters vor und schickte die neckische Frage hinterher: „What about yodelling, Polly?“ Mit der kleine Provokation drückte Peel seine Hochachtung für Harvey aus, der er ganz offensichtlich einiges künstlerisch zutraute in ihren Exkursionen jenseits des Mainstreams. Diese Erwartungen hat die englische Rockmusikerin im Laufe ihrer inzwischen doch langen Karriere (sie ist Jahrgang 1969) voll erfüllt. 


2015 machte PJ Harvey durch eine Aktion Furore, die als Kunstinstallation bzw. Sound Sculpture konzipiert war: das sogenannte Hope Six Demolition Project. Bedeutete: Harvey nahm ein Album öffentlich auf, d.h. sie ließ die Öffentlichkeit am Aufnahmeprozeß teilhaben. Im Somerset House in London war eine "Box" als Studio eingerichtet, die auf einer Seite durch eine Spiegelglasswand einsehbar war, dahinter lief vier Wochen lang der normale Aufnahmeprozeß ab mit Musikern, Aufnahmetechniker, Produzenten. Für £15 konnte man 45 Minuten lang den Fortgang des Aufnahmeprozeß' beobachten.

 

In der Vergangenheit klang mir Harvey nicht selten zu schrill, zu brachial und zu laut – doch war sie immer interessant. Und manchmal konnte sie auch richtig wunderbar ruhige Songs singen, mit einprägsamen und doch geheimnisvollen Melodien, was sie 2007 mit dem Album „White Chalk“ unter Beweis stellte, das trotz des hauptsächlich akustischen Instrumentariums (Polly Jean spielte vor allem Piano, aber auch Zither) nicht weniger halluzinogen klang, wobei auf dem Titelsong sogar eine kleine Mundharmonika quäkte und Eric Drew Feldman von der Magic Band von Captain Beefheart Mellotron- und Synthesizer-Klänge lieferte. John Parish und Flood (alias Mark Ellis) waren damals schon in die Produktion involviert. Eine absolut magische Platte, die auch heute noch – wenn ich sie wieder hören – in keinster Weise abgegriffen klingt.




Ähnlich exzellent klingt die neue Einspielung „I Inside the old year dying“, ein äußerst verätseltes Album. Sieben Jahre hat sich Harvey dafür Zeit gelassen, falsch: Sie wurde von einer Art „music fatique“ befallen, die sie für längere Zeit außer Gefecht setzte. Harvey hatte das Interesse an Musik verloren, was ihr schwer zusetzte. Künstler zu sein ist ein schwieriges Handwerk, Existenzkrisen eingeschlossen. Sie wandte sich dafür der "Poetry" zu.




Jeder der zwölf Songs ist einem Monat des Jahres zugeordnet (wenn auch nicht in strikter Reihenfolge), und jeder wirkt wie ein beschwörender Zauberspruch. Im Booklet sind die Liedtexte abgedruckt und jeweils mit vielfältigen Worterklärungen versehen. Sie sind – wenn ich das richtig verstehe – mit altenglischen Vokabeln durchsetzt und im Dorset-Dialekt gehalten, der Gegend im Südwesten von England aus der Harvey stammt und wo sie sich immer noch zuhause fühlt. 


Meine Englischkenntnisse sowie meine Geduld für Lyrik reichen nicht aus, um mir einen Reim auf die Poesie von Harvey zu machen, wobei es einem "native speaker" – so schätze ich – nicht viel anders ergehen könnte, zu hermetisch erscheinen mir die Verse. Das ist Rilke-Verschlüsselungsniveau. 


Dieser blinde Fleck muß nicht unbedingt von Nachteil sein: Man hört einzelne englische Worte und Formeln, dreht sie auf der Zunge und dann im Kopf herum, und läßt seinen Assoziationen freien Lauf. Einmal wird Elvis Presley zitiert. Wie ich der Presse entnommen habe, erzählen die Songlyrics die Geschichte eines kleinen Mädchens – wohl Pollys Alter Ego –, das in der englischen Countryside groß wird mit allen damit verbundenen Verwerfungen und Verstörungen und sonstigen Implikationen.


Gesang und Musik wirken wie aus einem Guß, obwohl die Sounds manchmal so ineinander verschmolzen sind, dass einzelne Instrumente kaum noch zu identifizieren sind. Die Produktion ist auf Garagen-DIY-Niveau gehalten, es scheppert und rumpelt, das Schlagzeug klingt, als ob es mit einem billigen Tonbandgerät vor einem halben Jahrhundert aufgenommen worden wäre - wunderbar! Das bewährte Team aus John Parish und Flood hat die Arrangements ausgebrütet, Cecil (wer immer das ist) „field recording samples“ und „voice samples“ beigesteuert. Es ist Klangmusik im Songformat – absolut magisch. Und die Zaubersprüche entfalten ihre Wirkung.

 

PJ Harvey: I Inside the old year dying (Partisan Records)    

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