Wednesday 20 September 2023

Gallionsfigur afroamerikanischer Rootsmusic: Rhiannon Giddens

Wie politisch soll Musik sein?

 

Die Singer-Songwriterin Rhiannon Giddens über ihr neues Album „You’re the one“


 

Interview: Christoph Wagner

 

Purlitzer-Preis- und Grammy-Gewinnerin Rhiannon Giddens ist zu einer Gallionsfigur der amerikanischen Rootsmusic-Szene geworden. Jetzt erscheint ihr drittes Album mit Band und ausschließlich eigenen Songs 

 

Ihr letztes Album, das sie mit einer Band einspielten, hieß “Freedom Highway“. Nach sechs Jahren legen sie nun ein neues Band-Album vor. Was ist anders?

 

Rhiannon Giddens: Viel! “Freedom Highway“ hatte eine Mission. Es war ein Album, das die afro-amerikanische Geschichte zum Inhalt hatte. Nur ein halbes Dutzend der Songs stammte von mir, die anderen waren Lieder aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Es war eine Bürgerrechts-Platte. Ich war Co-Produzentin und habe mit einer Handvoll Musikern gearbeitet. Das neue Album ist viel klangmächtiger, jeder Song stammt von mir, wobei nur ein einziges Lied dezidiert politisch ist.

 

Es ist also weniger politisch....

 

RG: Stimmt, jedoch habe ich meine Mission nicht aus den Augen verloren – im Gegenteil: Ich habe in den letzten Jahren an einer Oper gearbeitet, die sehr eng mit diesem Thema verbunden ist, habe gleichzeitig Filmdokumentationen über die Geschichte des schwarzen Banjos produziert und zwei Dokumentationen für die BBC gemacht, die um eine ähnliche Thematik kreisen. In den letzten zehn Jahre habe ich nichts anderes gemacht, als über diese Themen zu sprechen. Wieviel mehr kann man noch tun? Bei diesem Album musste ich allerdings meinem künstlerischen Kompass folgen. Es war schlicht die Platte, die ich in mir hatte.

 

Meine Bemerkung war nicht als Vorwurf gemeint – im Gegenteil: Ich habe heute eher das Gefühl, dass viele Künstler meinen, sich unbedingt politisch äußern zu müssen, weil die Welt in einem so verheerenden Zustand ist. Doch ist Politik die Aufgabe von Kunst? 

 

RG: Ja und nein. Für mich besteht die Aufgabe von Kunst darin, die soziale Situation ihrer Zeit zu kommentieren, weil das Soziale eng mit dem Politischen verbunden ist. Ich erzähle mit meinen Songs Geschichten, die mit der Realität zu tun haben, in der wir leben. Diese Aufgabe ist mir im letzten Jahrzehnt zugefallen – ich habe mich nicht darum gerissen. Allerdings bringe ich solche Liedgeschichten wie niemand sonst zum Klingen. Wenn es jetzt heißt, meine neue Platte sei weniger politisch und bestehe nur aus Popsongs, dann entgegne ich: Meine Songs sind keine Popsongs! Es gibt verschiedene Arten, Menschen mit Liedern und Musik soziale Sicherheit zu vermitteln, was meiner Ansicht nach die Aufgabe von Kunst ist: für die mentale Gesundheit unserer Gesellschaft zu sorgen. Es gibt unterschiedliche Wege, das zu tun. Allerdings mußte ich meinen Aktivismus zurückschrauben, sonst wäre ich ausgebrannt. Ich benötigte eine Pause und wandte mich deshalb anderen Themen zu, kramte alte Songs heraus, die einen persönlicheren Ton anschlagen, voller Freude sind und die Dinge von einer anderen Seite aus betrachten. Ich brauchte diesen Perspektivwechsel als Künstlerin.




Jack Splash, der u.a. mit Kendrick Lamar, Solange und Alicia Keysgearbeitet hat, hat das Album produziert. Wie war die Zusammenarbeit?

 

RG: Ich hatte ein Dutzend Songs, die in den letzten 14 Jahren entstanden sind. Ich schreibe nicht sehr schnell, geradezu langsam. Ich arbeite an einem Lied, lege es dann zur Seite, um später – manchmal nach Monaten oder Jahren – wieder darauf zurückzukommen. Ich hatte also diese Lieder, die für mich als Album Sinn machten, und war mir bewußt, dass diese Songs einen voluminöseren Sound benötigten. Ich wollte mich künstlerisch strecken und eine Platte machen wie nie zuvor. Wir hielten nach einem Produzenten Ausschau, der mit all den verschiedenen Klängen amerikanischer Musik arbeiten kann. Jack Splash war dafür der Richtige. Wir diskutierten ausführlich und entwickelten eine gemeinsame Vision. Er brachte seine Musiker mit und ich die meinen. Auf ein paar der Lieder spielen alle zusammen. Es ging darum, gemeinsam einen Gruppensound zu finden. „You Louisiana Man“ war der erste Song, den wir aufnahmen, alle zusammen, und es war überwältigend: Cajun-Akkordeon, elektrische Bässe, Orgel und italienische Tambourin-Rhythmen – fantastisch! Jack Splash lenkte die Session. So entwickelte sich die Musik.


Rhiannon Giddens – You Louisiana Man (Youtube)



 

Unterschiedliche Einflüsse finden sich auf dem Album: Cajun, Tin Pan Alley, Soul, Funk, frühes Minstrel-Banjo – welche Stilbezeichnung macht da noch Sinn?

 

RG: Ich nenne es amerikanische Musik, weil all diese Traditionen in den USA zusammenkamen und sich hier miteinander vermischten. Die Stilbegriffe wurden der Musik von der Musikindustrie später übergestülpt. In Wirklichkeit bediente sich jede soziale Gruppe bei der Musik anderer sozialer Gruppen. Dieses Criss-Crossing, dieser Mix fasziniert mich. Die Musiker auf meiner Platte habe alle diese Stile drauf. Wir vergaßen vollkommen, dass überhaupt Stile und Gattungen existieren.

 

Das steht quer zur Kritik an kultureller Aneignung. Was ist ihre Auffassung?

 

RG: Wenn die Kultur einer marginalisierten Gruppe von weißen Geschäftemachern zum reinen Geldmachen benutzt wird und kaum etwas zurückfließt, dann ist das kulturelle Aneignung, und die findet statt. Im Gegensatz dazu war jedoch vieles, was in den USA passierte, kultureller Austausch – soziale Gruppen borgten Musik von einander. Mein Ratschlag wäre also: Mach‘ die Musik, die du willst, aber spiele sie mit Respekt, Integrität und Wissen. Das kostet allerdings viel Zeit und Arbeit.

 

Rhiannon Giddens: You’re the one (Nonesuch)


Das Interview erschien im Heft 9/10 der Zeitschrift JAZZTHETIK (jazzthetik.de)

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