Mary Halvorson (Gitarre) und Sylvie Courvoisier (Piano) zählen zu den herausragenden Persönlichkeiten der New Yorker Jazzszene. 2017 haben sie bereits ein gemeinsames Album eingespielt, an das sie jetzt anknüpfen. Bone Bells besteht aus acht Kompositionen, von denen jeweils vier von den beiden Beteiligten stammen. Die Musik bewegt sich entlang den avancierten Rändern des zeitgenössischen Jazz, greift gelegentlich in atonales Terrain aus und bezieht Elemente der Minimal Music und der avantgardistischen E-Musik ein.
Wenig wird dem Zufall überlassen. Disziplin und Präzision prägen das Geschehen. Die Kompositionen sind bis ins Kleinste durchgeplant, selbst die Improvisationen scheinen genauen Vorgaben zu folgen. Dabei gelingt es dem Duo, einen Klangraum zu schaffen, der ganz und gar ihr eigener ist.
Sylvie Courvoisier & Mary Halvorson: Bone Bells (youtube)
Die Musik ist von äußerst quirliger Natur, sprudelt vor Übermut und kühnen Ideen, die nicht selten eine überraschende Wendung nehmen. Halvorson wartet mit eine paar raffinierten Saiten-Tricks auf, während Courvoisier ab und zu im Inneren des Pianos agiert, um andere Klangfarben zu erzeugen. Im „Nags Head Valse“ kommt sogar eine Portion Humor ins Spiel, wenn die beiden in schalkhafter Manier mit dem Walzer Schabernack treiben, während das Album sie insgesamt im Zenit ihres kreativen Schaffens zeigt.
Die Bassklarinette ist im Jazz nicht gerade ein gebräuchliches Instrument. Eric Dolphy hat ihr in den 1960er Jahren zum ersten Mal zu Prominenz verholfen. Dann trug Anfang der 1970er Jahre ihr spezieller Klang, gespielt von Bennie Maupin, auf Herbie Hancocks “Sextant”-Album zum eigenständigen Sound seines Mwandishi-Sextets bei. Danach ließ Ned Rothenberg in den 1980er Jahren mit ein paar beachtlichen “mehrstimmigen” Bassklarinetten-Titeln aufhorchen, während sich heute Improvisatoren wie Rudi Mahall fast vollständig der Bassklarinette verschrieben haben.
Chris Cundy ist ein Musiker aus Großbritannien, der nunmehr bereits sein drittes Album ausschließlich mit Solomusik auf der Bassklarinette vorgelegt hat. Einst fand der Holzblattbläser durch Eric Dolphy zu dem Instrument. Wem Solomusik zu speziell erscheint oder zu spartanisch (wegen der fehlenden Band), sollte seine Resentiments zurückstellen und Cundy eine Chance geben, denn seine Bassklarinetten-Musik ist weder spröde noch abstrakt, sondern schwebt auf wunderbare Weise zwischen Melodie, Sinnlichkeit und Imagination.
Sein Klang ist warm, selbst wenn er in die Oberton-Lagen des Instruments geht. Und dann erst die Tiefenzonen, die Basstöne – sie lassen den Klang des Instruments noch sonorer als sonst in Erscheinung treten. In ihrem natürlichen Fluß, ihrer Verschlungenheit und Vielschichtigkeit erinnern manche von Cundys Stücken entfernt an die barocken Solowerke von Johann Sebastian Bach, in der Art wie er Motive anspielt, kontrapunktisch weiterführt und weiterdenkt, um dann wieder aufs Anfangsthema zurückzukommen. Das ist stimmig und zeigt einen Künstler mit eigenem Kopf und von beachtlicher Reife.
Chris Cundy: Of All The Common Flowers (ear to the ground ETG)
Zweimal hab ich ihn zum Interview getroffen – einmal in London, ein andermal in Halifax, als er mit den Two Pale Boys dort ein Konzert gab. Beim ersten Mal in den 1990er Jahren bekam ich vorab vom Management ein Fax zugeschickt, auf dem die Regeln für das Interview festgeschrieben waren. Eine hieß: keine Fragen zu Glaube und Religion, weil er – wie das Gerücht damals ging – sich den Zeugen Jehovas angeschlossen hätte. Eine andere Regel lautete: "Don't call him Dave". Ich habe mich dran gehalten. Wie sich im Gespräch mit ihm herausstellte, war David Thomas ein Intellektueller von höheren Graden, der viel Interessantes zu sagen hatte. Als sein Lieblingsalbum und beste LP der Rockgeschichte überhaupt nannte er "Smile" von den Beach Boys, das Album, das nie erschienen ist – so könne es sich jeder als die schönste Musik imaginieren, die man sich nur vorstellen kann. Jetzt ist der Sänger und Frontmann von Pere Ubu im Alter von 71 Jahren gestorben.
Hier ein Text, den ich 2007 für den Schwarzwälder Boten über ihn verfasst habe.
Der Frauenfresser
David Thomas verwandelt Rockmusik in absurdes Theater
David Thomas & Pere Ubu, 2006 (Promo)
Nicht nur wegen seiner Körperfülle ist der amerikanische Rocksänger David Thomas eine imposante Erscheinung. Sein Gesang hat ebenfalls Volumen. Im exzentrischen Tremolo seiner Stimme drückt sich sein überspanntes unberechenbares Wesen aus, das so berühmt wie berüchtigt ist. Mehr als einmal hat der amerikanische Rockvokalist einen Auftritt aus Zorn und Frustration abgebrochen, weil ihm irgend etwas nicht passte. Dann knallt er den Mikrophonständer in eine Ecke und giftet seine Mitmusiker, die Soundleute oder das Publikum an. Dämonen scheinen in seinem Inneren zu wüten.
Seit mehr als 30 Jahren ist David Thomas Chef und Frontmann der amerikanischen Rockgruppe Pere Ubu, die heute in der alternativen Szene Kultstatus genießt. Wie Mark E. Smith von The Fall zählt er zu den “bösen Jungs des Rock”, die immer wieder für negative Schlagzeilen sorgen, aber trotzdem unbeirrbar ihrem eigenen künstlerischen Kompass folgen. Sie verwandeln Rockmusik in ein ernstzunehmendes künstlerisches Medium, ohne ihr den Stachel zu ziehen.
Mit Pere Ubu schmiedet David Thomas die explosive Wildheit von Rock ‘n’ Roll, Punk und New Wave in ein Ausdrucksmittel um, das selbst Avantgardisten aufhorchen läßt. Die Songs kommen mit einer brachialen Wucht daher, die Rhythmen sind unnachgiebig hart. Dazu skandiert er Texte, die literarische Qualität besitzen. In ihnen hat der Wahnsinn Freigang.
Trotz Kritikerlob ist die Band immer eine Außenseiterformation geblieben, obwohl sie wegen der rauschhaften Poesie und ungestümen Stimmeskapaden für Kenner als eine der besten Rockgruppen der Welt gilt. “Landschaften und ihre Menschen sind für meine Songs wichtig”, erklärt Thomas. “Ich möchte wissen, wie sie einander gegenseitig prägen. Was mich an Leuten interessiert, sind ihre Unterschiede, ihre verschiedenen Mentalitäten, die teilweise aus der Kultur kommen und mit dem Platz zu tun haben, wo sie leben.” Für David Thomas ist Cleveland in Ohio dieser magische Ort, wo er die wichtigste Zeit seines Lebens verbracht hat. Hier in der Industriemetropole am Eriesee im amerikanischen Mittelwesten hat er seine Wurzeln, obwohl er schon seit längerem in Großbritannien lebt.
In Cleveland wurde Pere Ubu 1975 aus der Taufe gehoben. Die erste Single führte zu einem Plattenvertrag, dem Album auf Album folgten. Obwohl die Presse jubelte, brach die Band 1979 auseinander, zermürbt von Tourneestress und inneren Spannungen. Frisch verheiratet, siedelte Thomas nach London über, wo er mit einer kleinen Begleitformation weitermachte, aber auch etliche Soloalben veröffentlichte, auf denen er sich gelegentlich von ehemaligen Ubu-Mitgliedern begleiten ließ. Dem zermürbenden Rockgeschäft enthoben, konnte Thomas Spontaneität und Kreativität zurückgewinnen und neue Horizonte erschließen. 1987 waren die Blessuren soweit abgeklungen, dass ein zweiter Anlauf möglich war. Das 1995 zum zwanzigjährigen Bandjubiläum erschienene Album ‘Ray Gun Suitcase’ wurden zu einem Meilenstein der Rockgeschichte.
Heute haben die Konzerte der Band wieder den Intensitätsgrad der Anfangszeit erreicht, wobei auf der Bühne die Funken nur so sprühen. Verse werden wie im Delirium gelallt, Worte geröchelt und gekeucht, Silben bis zur Unkenntenlichkeit zerkaut. Die Gitarre kreischt dazwischen. Das Schlagzeug hämmert eine unerbittlichen Beat. In den Songs spielt das Unterbewußtsein mit dem Verstand Katz und Maus, verschwimmt die Wirklichkeit in Trugbilder und Albträume.
Auf der Bühne läßt David Thomas seinen inneren Monstern freien Lauf. “Why I hate Women” (Glitterhouse) heißt das aktuelle Album der Band, wobei offen bleibt, ob der Titel ernst oder ironisch gemeint ist. Wahrscheinlich: beides! Nicht ohne Grund hat sich die Band den Erfinder des absurden Theaters Alfred Jerry als Patron gewählt. Sein bekanntestes Stück heisst Pere Ubu.
Die doch recht unscheinbare Hohenzollernstadt Hechingen bei Tübingen ist nicht gerade als Jazzmetropole bekannt. Ende der 1960er Jahre wurde sie jedoch für ein paar Jahre zu einem Brennpunkt der Jazzpublizistik. Organisiert vom Kunsthistoriker und Jazzautor Dr. Carl Gregor Herzog zu Mecklenburg, der in der Villa Silberburg im Hechinger Fürstengarten wohnte und viel in der Zeitschrift Jazzpodium publizierte, außerdem etliche Bücher u.a. über Blues und Jazz veröffentlicht hatte, fanden dort einmal im Jahr die HECHINGER JAZZGESPRÄCHE statt. Sie zogen Fachleute von Rang an wie Dr. Ekkehard Jost oder Gerhard Kubik aus Wien, ein Musikethnologe und Kenner afrikanischer Musik. Bei den Jazzgesprächen 1970 stand der Freejazz im Zentrum der Diskussion.
Carl Gregor Herzog zu Mecklenburg bei seiner Geburtstagsfeier zum 80sten im Jahr 2013
Thärichens Tentett mit mächtigem Sound beim Jazzclub Singen im Kulturzentrum Gems
Fotos: C. Wagner
Wer heute im Jazz noch eine Bigband betreibt, muß ein verwegener Hasardeur sein. So könnte man das sehen, denn die Zeit der großen Jazzorchester ist längst vorbei. Heute dominieren kleinere Ensembles in der Jazzszene, was vor allem wirtschaftliche Gründe hat. Außer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten kann sich heute kaum noch jemand den Unterhalt einer Jazzbigband leisten, weil das Publikum schlicht zu klein ist. Als Lionel Hampton mit seinem Orchester 1958 auf dem Stuttgarter Killesberg gastierte, strömten 4.000 Fans zu seinem Auftritt. Heute bringt keine Bigband auch nur annährend eine solche Zuschauermenge auf die Beine.
Ein paar wenige Bandleader stemmen sich gegen den Trend, so der Berliner Pianist, Komponist und Arrangeur Nicolai Thärichen (Jg. 1969), der es auf erstaunliche Weise fertig gebracht hat, eine kleine Bigband aus zehn Musikern 25 Jahre lang am Leben zu erhalten. Dem alleine schon gebührt Respekt – Chapeau!
Thärichens Tentett, das am Samstag beim Jazzclub Singen zu Gast war, besteht aus Musikern aus der ersten Liga des deutschen Jazz, alles Könner von beträchtlichem Format, die sowohl im punktgenauen Notenblattspiel glänzten, als auch in den Improvisationen punkten konnten. Für ein konsistentes Konzertprogramm sorgte der Bandleader, der dafür jeweils ein bestimmtes Thema wählt. Gemäß dem Titel „Liebe, Glück und Einsamkeit“ des neusten Albums der Band kamen Songs zur Aufführung, die diese Thematik von verschiedenen Seiten beleuchteten. Dazu gesellten sich Nummern aus früheren Alben, darunter der Beatles-Hit „Paperback Writer“, was insgesamt eine bunte Vielfalt aus Swing, Funk, Rock, modernem Jazz und Pop ergab. All das kam in der Gems zum Zuge und noch vieles mehr: Das Stück „Oh Solitude“ des englischen Renaissance-Komponisten Henry Purcell, das die Vorzüge der Einsamkeit preist, hat Thärichen ebenfalls für Jazzensemble eingerichtet. Außerdem diente ihm das Gedicht „Keepsake Mill“ des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson (1850-1894), Autor der „Schatzinsel“, für einen Liedtext.
Mit einem solch vielfältigen Programm gelang es Thärichens Tentett, die Vorzüge eines großen Jazzensembles voll zur Geltung zu bringen. Die Arrangements schillerten in vielen Farben und machten dabei von einer breiten Palette von eher ungebräuchlichen Instrumenten Gebrauch – von der Baßklarinette über die Alt-Querflöte bis zum Baritonsaxofon. Dazu kam die ungeheure Wucht, die ein voller Bläsersatz entfalten kann, wenn er unterstützt von einer formidablen Rhythmusgruppe in Aktion tritt. Diese Qualitäten sorgten für Begeisterung unter den zahlreichen Zuhörern und bescherten dem Jazzclub Singen ein weiteres hervorragendes Konzert.
Zum Tod des einzigartigen Singer-Songwriters Michael Hurley
Foto: Patrick Bunch/Promo
cw. Hinter dem Schnauzbart, den ausgebleichten Haaren und dem verwitterten Gesicht verbarg sich ein schüchternes Wesen: der amerikanische Folksänger Michael Hurley war ein Eigenbrötler mit sanftem Gemüt. Reden tat er nicht viel und machte kein großes Aufhebens um seine Person. Lieber schraubte er daheim auf dem Land in Oregon an verbeulten PKWs
herum, als sich im Applaus der großen Bühnen zu sonnen. Am 1. April 2025 ist Michael Hurley im Alter vom 83 Jahren verstorben.
Der Rückzug ins Private fiel Hurley immer schwerer, seit ihn eine junge Generation von Folk- und Rockmusikern entdeckt hatte: Cat Power, Hiss Golden Messenger und Yo La Tengo – sie alle haben Songs von ihm gecovert, Devendra Banhart und Will Oldham haben sich als Fans geoutet und die Folk-Chanteuse Josephine Foster sang sogar auf seinem letzten Album mit.
Es ist fast 60 Jahre her, als Hurley zum ersten Mal mit seiner Gitarre in den Folkclubs von New York auftrat, wo er mit den Holy Modal Rounders jammte, den Erfindern des psychedelischen Folk. Er lernte weitere Instrumente: Mandoline, Banjo und Fidel. “Mir gefällt alles, was Saiten und einen Resonanzkörper hat,” sagte er mir in einem Unterview. In den siebziger Jahren nahm er für Warner Brothers zwei Alben auf – ein kurzer Flirt mit der großen Plattenindustrie. Immer wieder nahm er Brotjobs an, ob als Kinoputzer, Bretzelverkäufer oder Automechaniker, um sich nicht als Popmusiker verkaufen zu müssen.
Michael Hurley – Oh my stars (youtube)
Vom neuerlichen Rummel um seine Person blieb seine Musik völlig unberührt. Sie klang immer noch so hausgemacht wie vieles in seinem Leben: Hurley braute sein Bier und seinen Most selber, baute sein eigenes organisches Gemüse an samt Hanf und malte, wenn er Zeit und Lust hatte, verschrobene Karikaturen oder skurrile Aquarelle, die auch die Cover seiner Alben schmückten.
Seine Musik war die uneitelste, die man sich denken kann. Vollgesogen mit Blues, Cajun- und Hillbilly-Melodien war sein Stil ein wunderbarer Mix aus den verschiedenen Folktraditionen des alten Amerika: verhalten, locker gespielt, und unprätentiös kam sie daher: Hurley spuckte keine großen Töne! Seine Lieder wirkten so gemächlich wie das Leben, das er führte, während sich die Texte um Dinge drehten, die einem die Welt gelegentlich als einen etwas freundlicheren Ort erscheinen ließen, was einen Sinn für die Tiefen der Existenz nicht ausschloß. Ernsthaftigkeit und Charme prägten die Songs, auch ein verschmitzter Humor blitzte manchmal auf: Michael Hurley eben – der letzte seiner Art.
Das Duo von Aki Takase und Daniel Erdmann beim Jazzclub Singen in der Gems
Fotos: C. Wagner
Neben Louis Armstrong und Miles Davis ist Duke Ellington (1899–1974) eine der Gallionsfiguren des Jazz. Der amerikanische Pianist, Komponist und Bandleader wird von Traditionalisten wie Avantgardisten gleichermaßen geschätzt. Ehrerbietungen an den Meister gibt es viele. Eine stammt von der Pianistin Aki Takase, die 2012 Ellington ein Album widmete und jetzt mit dem Saxofonisten Daniel Erdmann dem Jazzheiligen abermals huldigte.
Eigentlich gelten Takase und Erdmann als Modernisten, aber wie werden sie Stücke angehen, die noch aus einer Zeit stammen, als Jazz Tanzmusik war? Mit Respekt vor den Originalen, ohne vor Ehrfurcht zu erstarren, lautete die Antwort, die sie im Konzert beim Jazzclub Singen in der Gems vor gutgefüllter Kulisse gaben. Ellington wurde nicht zerhackstückelt oder musikalisch massakriert, sondern als „Remix“ mit akustischen Instrumenten neu belebt, wobei es Takase und Erdmann mit Witz und Charme gelang, neue Funken aus den alten Kompositionen zu schlagen.
Den Werken von Ellington sowie einer Referenz an den Meister von Charles Mingus (Titel: „Duke Ellington’s Sound of Love“) stellten Takase und Erdmann ihre eigenen Stücke gegenüber, die oft allerneusten Datums waren und sich manchmal mehr, manchmal weniger und manchmal überhaupt nicht auf Ellington bezogen. Solche Eigenkompositionen fielen um einiges radikaler aus und tummelten sich nicht selten in atonalen Gefilden, wobei Takase dann die Tasten des Flügels mit den Fäusten oder dem Ellbogen traktierte, während Erdmann Spalttöne produzierte und sich in Überblastechnik erging. Mit Heftigkeit und ungestümer Kraft wurden die Klänge herausgeschleudert, doch uferten solche freien Improvisationen nie aus, sondern fanden immer wieder zielgenau zum Wesenskern des jeweiligen Stücks zurück.
Einer der bekanntesten Titel von Duke Ellington ist „Caravan“ auf dem Jahr 1936, eine der meist gecoverten Jazznummern überhaupt, den Takase und Erdmann in Passagen fast schon ruppig angingen. Dem gegenüber traten ruhigere Stücke, die balladenhaft eine melancholisch-versonnene Atmosphäre verbreiteten. Mit solchen Stimmungswechseln sorgten die beiden für ein fein ausbalanciertes Konzert zwischen den Polen sanft und ungestüm. Als Zugabe brachte der Ragtime „I Let A Song Go Out Of My Heart“ aus dem Jahr 1938 zusätzlich noch eine Portion Humor ins Spiel. Der Ellington-Song veranlaßte Takase und Erdmann, sich untergehakt, ausgelassen und singend im Tanzschritt über die Bühne zu bewegen, was vom Publikum mit stürmischem Applaus quittiert wurde.
Takase & Erdmann spielen „I Let A Song Go Out Of My Heart“ / youtube
Jazzveteran Marshall Allen nimmt mit hundert Jahren sein erstes Soloalbum auf
Foto: Hans Kumpf
Jungen Jazzmusikern kann es heute oft nicht schnell genug gehen, ein eigenes Album zu veröffentlichen. Dagegen schlägt Marshall Allen ein anderes Tempo an. Der Saxofonist hat hundert Jahre gebraucht, um seine erste Platte unter eigenem Namen aufzunehmen. Der Afroamerikaner mit Zottelbart und Baseball-Mütze, der immer noch gerne eine raucht, gilt als ältester aktiver Musiker auf der internationalen Jazzszene. Nach dem Tod seines Bandleaders Sun Ra übernahm er vor 30 Jahren die Leitung des legendären Arkestras, dem er sich Ende der 1950er Jahre angeschlossen hatte. Seither hat er mit der Gruppe zahllose Konzerte überall auf dem Globus gegeben und zig Einspielungen gemacht, doch nie ein eigenes Album vorgelegt.
Allen kam 1924 in Louisville, Kentucky zur Welt, in einer Zeit, als Bluesmusiker noch auf der Straße sangen, Louis Armstrong im Radio spielte und Boogie-Woogie-Pianisten in der Kneipe um die Ecke. All das hat ihn geprägt. „Die erste Jazzband, die ich live hörte, war Fletcher Henderson, die bei einer Tanzveranstaltung im Gemeindesaal unserer Stadt auftrat,“ erinnert sich Allen. „Sie war der Grund, warum ich mich für Jazz begeisterte.“
Der Teenager lernte Saxofon und kam 1948 mit einer Militärkapelle nach Paris, um Konzerte in halb Europa zu geben. In der Schweiz nahm er damals ein Album mit Saxofonstar James Moody auf. Zurück in den USA ließ sich Allen in Chicago nieder. Dort hörte er von einer Combo, die sonderbare Musik machte. Sie wurde von einem Esoteriker geleitet, der vorgab, vom Planeten Saturn auf die Erde gekommen zu sein. Allen war fasziniert, nahm Kontakt zu Sun Ra auf und wurde nach einer schier endlosen Probezeit aufgenommen.
Sun Ra & His Intergalactic Arkestra mit Marshall Allen (links), Donaueschingen, 1971 (Foto: Jörg Becker)
Nicht lange und das Sun Ra Arkestra zog nach New York, mitten hinein in die brodelnde Musikszene. „Als Musiker konnte man überall Arbeit finden. Ich trat zeitweise mit Perez «Prez» Prado auf, dem «King of the Mambo». Auch Highlife-Bands haben mich engagiert, obwohl ich gleichzeitig bei Sun Ra spielte,“ erzählt Allen. „Ich musste Geld verdienen und arbeitete mit jedem zusammen, der mich bezahlte.“
Sun Ra ging mit der Zeit. Avantgarde-Klänge hielten Einzug, es wurde frei improvisiert und gleichzeitig weiterhin der alte Bigbandstil gepflegt. 1968 zog die Gruppe nach Philadelphia, wo Allen bis heute mit anderen Bandmitgliedern in einem gemeinsamen Haus wohnt.
Marshall Allen – New Dawn; Promovideo Youtube
In der Vielfalt der Stile hat Sun Ra Spuren auf Allens Soloalbum hinterlassen. Die Platte hat der Veteran mit Gästen aufgenommen, von denen der Bassgitarrist Jamaaladeen Tacuma, einst Weggefährte von Ornette Coleman, und die Sängerin Neneh Cherry, Tochter des Jazztrompeters Don Cherry, die prominentesten sind. Allerdings wäre es von einem so Hochbetagten etwas viel verlangt, den Finger immer noch am Puls der Zeit zu haben. Vielmehr gleicht das Album einem Schnelldurchlauf von Allens nahezu 80jähriger Karriere. Es beginnt mit dem Zirpen von Sun Ras Sonnenharfe, dann geht es mit einem handfesten Jumpblues zurück in die Jugend. Auch der Bigbandsound darf nicht fehlen, so wenig wie ein Latin-Stück. Manchmal wird frei improvisiert, dann wieder balladenhaft musiziert, bisweilen schon fast schnulzig.
Natürlich spielt man in einem solchen Alter nicht mehr mit dem Feuer der Jugend. Ab und zu schwächelt Allens Ansatz, die Finger laufen nicht mehr so flink. Aus dem Handicap hat der Senior eine Tugend gemacht, indem er bedächtiger, singbarer und ruhiger spielt. Marshall Allen ist im Zen des hohen Alters angekommen.
Marshall Allen: New Dawn (Mexican Summer)
Der Artikel erschien zuerst in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ)
Manchmal trifft einen die Nachricht vom Tod eines Bekannten mit unvermuteter Wucht, obwohl man ihn gar nicht wirklich richtig gekannt hat. Der Wiener Walther Soyka ist so ein Fall, der jetzt im Alter von nicht einmal 60 Jahren einem Krebsleiden erlegen ist.
Ich habe Soyka kennengelernt, als ich um 1990 für mein Akkordeonbuch "Das Akkordeon – eine wilde Karriere" recherchierte und mit ihm Kontakt aufnahm, um mehr über die Geheimnisse der Schrammelharmonika zu erfahren. Soyka spielte damals bei den Extremschrammeln von Roland Neuwirth, für die ich extra einmal von Balingen nach München gefahren bin, um sie zu hören und Neuwirth und Soyka zu interviewen. Walther Soyka spielte so geschmeidig, biegsam und einfühlsam auf dem Knopfakkordeon, das es in den hohen Lagen fast psychedelisch klang, ähnlich wie die Orgel von Al Kooper bei Bob Dylans Aufnahme von "Like a Rolling Stone" 1965. Und niemand spielte so wie Soyka. "Als ob ein Chor von Engeln die Wiener anstrudeln wollte,” so hatte einst ein Kritiker die Musik der Gebrüder Schrammel in ihren Anfängen beschrieben. Wenn man Soyka spielen hörte, glaubte man zu ahnen, was mit dem Satz gemeint war.
Später hatte wir immer wieder einmal mit einander zu tun, etwa als ich 2015 eine Sendung für den SWR2 über die Tradition der Wiener Schrammelmusik machte. Soyka, der zeitweise sein eigenes Label betrieb, war immer eine gute Quelle, dazu freundlich und hilfsbereit. Er machte eine Aufnahme von seinen Antworten auf meine Fragen, die ich in Ausschnitten in die Sendung einbaute und die zum Verständnis des Wesens der Schrammelmusik Wesentliches beitrugen. Er war eben ein Kenner der Tradition, mit Wissen beschlagen.
Molden/Resetarits/Soyka/Wirth auf Youtube:
Größere Popularität erlangte Soyka im Quartett mit Ernst Molden, (Gesang, Gitarre), Willi Resetarits (Gesang, Ukulele, Mundharmonika) und Hannes Wirth (Gitarre, Gesang). Eher bescheidener – was die Popularität nicht die Musik betraf – fiel dagegen sein Duo mit der Geigerin Martina Rittmannsberger (1966 – 2023) aus, obwohl niemand sonst die alten "Weana Tanz" so wunderbar anstimmen konnte wie die beiden.
Ich habe dann mit dem Gedanken gespielt, dieses Duo einmal zu unserem Schlachthof-Festival nach Sigmaringen einzuladen und habe deswegen auch mit Walther telefoniert. Irgendwie kam es nicht zustande. War es zu weit, zu mühsam oder zu wenig lukrativ für nur einen Auftritt von Wien nach Sigmaringen zu kommen? Ich weiß es nicht mehr. Später dann, bei einem Auftritt der Neuen Wiener Concert Schrammeln in Sigmaringen, der vom SWR2 mitgeschnitten wurde, hätte er dabei sein sollen, wurde aber von einem Kollegen vertreten. Schade, dass ich Walther Soyka damals nicht treffen konnte. Jetzt ist er – nicht einmal 60 Jahre alt – in Wien verstorben.
Zum Hören Rittmannsberger / Soyka Duo auf youtube:
LAUTyodeln heißt ein Festival, das – initiiert von der Volksmusik-Abteilung des Münchner Kulturreferats – letztes Jahr zum dritten Mal in der bayerischen Landeshauptstadt stattfand und bisher immer auf einer CD dokumentiert wurde. Gerade ist nun das Album mit den „Live“-Aufnahmen von 2024 erschienen, das – wie schon die beiden Vorgänger – das Jodeln in seiner ganzen Vielfalt zeigt. Dabei kommen diese Mal vor allem Gruppen zum Zuge, die den überschlagenden Gesang in aktuelle populäre Musikstile integrieren.
Als echte Überraschung erweist sich das A-Capella-Ensemble Stimmreise.ch, das aus vier hochkarätigen Schweizer Vokalistinnen besteht. In beeindruckender Manier spannt das Quartett den Bogen von traditionellen Jodelliedern zu modernen Vokalstilen, wobei die Symbiose mit ungeheurer Akkuratesse und viel Kreativität und Fantasie gelingt.
Ernst Molden, begleitet von Maria Petrova am Schlagzeug, setzt andere Akzente. Der Gitarrist ist die österreichische Version eines amerikanischen Singer-Songwriters. Er gibt mit viel Witz, Charme und großer Fabulierkunst einige Jodel-Songs aus der Schatztruhe des amerikanischen Südens zum Besten. Ob Klassiker wie „St. James Infirmary“ oder „Yodeling Songs“ des Hillbilly-Sängers Jimmie Rodgers, in Moldens freien Übertragungen erleben die Songs eine geglückte Wiederauferstehung im „Weaner“ Dialekt.
Ernst Molden und Maria Petrova (Foto: C. Wagner)
Nicht aus der Großstadt, sondern aus den Bergen, kommt die Gruppe Ganes der Schwestern Elisabeth und Marlene Schuen. Begleitet von Violine, Gitarre, Tuba und Schlagzeug, singen die beiden ihre feingewobenen Lieder in ladinisch, einer alten Sprache aus den Dolomiten. Der Titel „La Stria“ entführt in verwunschene Bergwelten, wo Fabelwesen hausen. Mit dem „Hiatamadl“-Lied beweist die Gruppe allerdings auch, dass sie ziemlich kompetent zu jodeln vermag.
Vor Vitalität strotzt Opas Diandl aus Tirol, ein Quintett, dessen Musik von großer Originalität zeugt. Am deutlichsten kommt diese Eigenart der Gruppe im mehrstimmigen Gesang und der kraftvollen Begleitung durch die Saiteninstrumente zum Ausdruck, was einem Jodel-Song wie „Honde N-Da-Da“ einen ziemliche Wucht verleiht.
Eingerahmt wird das Ganze von zwei Songs der Gruppe Vue Belle, einem Ensemble von Geflüchteten, das zusammen mit der Vokalistin Anna Veit den Brückenschlag zwischen afrikanischem Highlife-Musik und alpinem Gesang wagt, wobei sich das Jodeln abermals als äußerst flexibles musikalisches Medium erweist.
1979 trug ein Album von Michael Rother (Kraftwerk, Neu!, Harmonia) diesen Titel. Im Englischen gibt es den Begriff nicht, dort ist von "Rough Music" die Rede – "a rude cacophony". In Frankreich wird das Phänomen "Le Charivari"genannt. Der Historiker Edward P. Thompson hat darüber einen längeren Essay geschrieben. Er beschreibt darin die "Rough Music" als ein Mittel der sozialen Kontrolle in einer agrarischen Gesellschaft, mit der einst Leute sanktioniert wurden, die gegen die Normen und Bräuche verstießen. In Bayern gibt es ähnliche Rituale, die dort als "Haberfeld-Treiben" bezeichnet werden.
1993 schrieb der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel eine Besprechung meines Buchs „DAS AKKORDEON – EINE WILDE KARRIERE“, die in der Literaturbeilage der WOCHENPOST Nr. 50 vom 9. Dezember 1993 erschien. Jetzt ist Bichsel im Alter von fast 90 Jahren verstorben.
In einer Ausstellungen in den Barbara-Hepworth-Gallery im Wakefield (Nordengland) begegnete ich – geistweise – zu meiner großen Überraschung einem alten Bekannten, dem englischen Sopransaxofonisten Lol Coxhill, den ich früher immer wieder mal in London besucht hatte und der 2012 verstorben ist. Coxhill war eine der führenden Figuren der Londoner Impro-Szene, der sich in den frühen 1970er Jahren im Umkreis der sogenannten Canterbury-Szene bewegte hatte und in der Band Whole World von Kevin Ayers spielte (mit einem gewissen Mike Oldfield an der Bassgitarre).
Lol Coxhill in seiner damaligen Bleibe im Künstlerhaus Digswell House, Welywn Garden City, Hertfordshire im August 1983, wo auch Elizabeth Fritsch wohnte
Die Keramikerin Elizabeth Fritsch (Jahrgang 1940), deren Ausstellung in Wakefield zu sehen war, gilt als bedeutende britische Kunsttöpferin, die in den 1970er Jahren die Keramik als Kunstform revolutionierte durch ihre Vasen und Gefäße, die so angelegt sind, das diese dreidimensionalen Tonskulpturen dem Betrachter als zweidimensional erscheinen.
Elizabeth Fritsch
Mitte der 1970er Jahre begegnete Fritsch, die zuerst Musik (Harfe) studiert hatte, bevor sie zur Töpferei fand, Lol Coxhill und ließ sich von dessen spontanem, freien Improvisationsspiel für ihre Tonkunst beeinflussen. Eines ihrer "außerweltlichen Gefäße" – so der Titel ihrer Ausstellung – trägt den Titel "Jazz Piano Pot I".
Auf meinen gelegentlichen Exkursionen durch die Labyrinthe der Historie bin ich neulich in der BADISCHEN PRESSE vom 31. Juli 1925 auf einen interessanten Hinweis gestoßen. Er hat mich an das ewiglange Stück von Erik Satie "Vexations" erinnert, das vor ein paar Monaten in der Tübinger Stiftskirche aufgeführt wurde – zwölf Stundenlang immer die gleiche Melodie, die 840 Mal wiederholt wurde, wobei sich die Pianisten abwechselten.
Vor hundert Jahren waren offenbar die Klavierspieler noch aus anderem Holz geschnitzt, wie der BADISCHE PRESSE zu entnehmen ist. Dort kündigt der Engländer Albert Kemp (in einer anderen Werbeanzeige wird er Kenys genannt) einen Auftritt im DAUERKLAVIERSPIEL in Karlsruhe in der Kellerwirtschaft Hoepfnerbräukeller an: zwölf (in Zahlen: 12) Stunden ohne Unterbrechung. Vielleicht haben solche Marathonmusiker Erik Satie einst auf die Idee für "Vexations" gebracht?
Daraus entspann sich ein internationaler Wettbewerb um den Weltrekord im Dauerklavierspiel, der am 24. April 1929 im Karlsruher Tagblatt gewürdigt wurde, als der Pianist Geza Ledofsky in Wien den Weltrekord von Alber Kemp, der jetzt als Deutschamerikaner bezeichnet wurde, übertraf.
Die Sache nahm 1950 eine Fortsetzung mit einem Weltmeisterschaftsversuch in Heidelberg, wie die Ettlinger Zeitung vom 16. Juni 1950 berichtete. Der Düsseldorfer Heinz Arntz wollte 125 Stunden Dauerspielen. Jetzt hatten sich allerdings die Regularien verändert. Der Pianist konnte pro 24 Stunden 60 Minuten Pause machen.
Ein Versuch, den Rekord zu brechen, wurde ein paar Monate später unternommen – ohne Erfolg, wie im Offenburger Tagblatt vom 22. Juli 1950 zu lesen war: Der Herausforderer schlief nach 61 Stunden Dauerspiel am Klavier ein.
Und der Rekord wurde immer mehr nach oben geschraubt, wie das Heidelberger Tagblatt vom 4. September 1950 berichtete.
Einen Monat später nahm die Sache noch einmal eine neue Wendung mit dem Eintritt von Heinz Rodenbusch in die Rekordjagd, der nicht nur im Klavierdauerspiel einen neuen Rekord aufstellen wollte, sondern den Rekord mit dem Dauerspiel auf sechs Instrumenten brechen wollte, darunter das Akkordeon und die singende Säge. Badische Neuste Nachrichten 3.10.1950:
Ein Artikel aus der Badischen Allgemeinen Zeitung vom 8. März 1951 gibt Einblick in die Lebensumstände des Weltmeisters im Dauerklavierspiel, der sich nicht als Pianist, sondern als Artist bezeichnete. Seit 1929 hatte er aus der Rekordjagd ein Geschäftsmodell gemacht, mit dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, weil das Spektakel bei jedem neuen Rekordversuch Massen von Schaulustigen anzog.