Im Zen des hohen Alters
Jazzveteran Marshall Allen nimmt mit hundert Jahren sein erstes Soloalbum auf
Foto: Hans Kumpf
Jungen Jazzmusikern kann es heute oft nicht schnell genug gehen, ein eigenes Album zu veröffentlichen. Dagegen schlägt Marshall Allen ein anderes Tempo an. Der Saxofonist hat hundert Jahre gebraucht, um seine erste Platte unter eigenem Namen aufzunehmen. Der Afroamerikaner mit Zottelbart und Baseball-Mütze, der immer noch gerne eine raucht, gilt als ältester aktiver Musiker auf der internationalen Jazzszene. Nach dem Tod seines Bandleaders Sun Ra übernahm er vor 30 Jahren die Leitung des legendären Arkestras, dem er sich Ende der 1950er Jahre angeschlossen hatte. Seither hat er mit der Gruppe zahllose Konzerte überall auf dem Globus gegeben und zig Einspielungen gemacht, doch nie ein eigenes Album vorgelegt.
Allen kam 1924 in Louisville, Kentucky zur Welt, in einer Zeit, als Bluesmusiker noch auf der Straße sangen, Louis Armstrong im Radio spielte und Boogie-Woogie-Pianisten in der Kneipe um die Ecke. All das hat ihn geprägt. „Die erste Jazzband, die ich live hörte, war Fletcher Henderson, die bei einer Tanzveranstaltung im Gemeindesaal unserer Stadt auftrat,“ erinnert sich Allen. „Sie war der Grund, warum ich mich für Jazz begeisterte.“
Der Teenager lernte Saxofon und kam 1948 mit einer Militärkapelle nach Paris, um Konzerte in halb Europa zu geben. In der Schweiz nahm er damals ein Album mit Saxofonstar James Moody auf. Zurück in den USA ließ sich Allen in Chicago nieder. Dort hörte er von einer Combo, die sonderbare Musik machte. Sie wurde von einem Esoteriker geleitet, der vorgab, vom Planeten Saturn auf die Erde gekommen zu sein. Allen war fasziniert, nahm Kontakt zu Sun Ra auf und wurde nach einer schier endlosen Probezeit aufgenommen.
Sun Ra & His Intergalactic Arkestra mit Marshall Allen (links), Donaueschingen, 1971 (Foto: Jörg Becker)
Nicht lange und das Sun Ra Arkestra zog nach New York, mitten hinein in die brodelnde Musikszene. „Als Musiker konnte man überall Arbeit finden. Ich trat zeitweise mit Perez «Prez» Prado auf, dem «King of the Mambo». Auch Highlife-Bands haben mich engagiert, obwohl ich gleichzeitig bei Sun Ra spielte,“ erzählt Allen. „Ich musste Geld verdienen und arbeitete mit jedem zusammen, der mich bezahlte.“
Sun Ra ging mit der Zeit. Avantgarde-Klänge hielten Einzug, es wurde frei improvisiert und gleichzeitig weiterhin der alte Bigbandstil gepflegt. 1968 zog die Gruppe nach Philadelphia, wo Allen bis heute mit anderen Bandmitgliedern in einem gemeinsamen Haus wohnt.
Marshall Allen – New Dawn; Promovideo Youtube
In der Vielfalt der Stile hat Sun Ra Spuren auf Allens Soloalbum hinterlassen. Die Platte hat der Veteran mit Gästen aufgenommen, von denen der Bassgitarrist Jamaaladeen Tacuma, einst Weggefährte von Ornette Coleman, und die Sängerin Neneh Cherry, Tochter des Jazztrompeters Don Cherry, die prominentesten sind. Allerdings wäre es von einem so Hochbetagten etwas viel verlangt, den Finger immer noch am Puls der Zeit zu haben. Vielmehr gleicht das Album einem Schnelldurchlauf von Allens nahezu 80jähriger Karriere. Es beginnt mit dem Zirpen von Sun Ras Sonnenharfe, dann geht es mit einem handfesten Jumpblues zurück in die Jugend. Auch der Bigbandsound darf nicht fehlen, so wenig wie ein Latin-Stück. Manchmal wird frei improvisiert, dann wieder balladenhaft musiziert, bisweilen schon fast schnulzig.
Natürlich spielt man in einem solchen Alter nicht mehr mit dem Feuer der Jugend. Ab und zu schwächelt Allens Ansatz, die Finger laufen nicht mehr so flink. Aus dem Handicap hat der Senior eine Tugend gemacht, indem er bedächtiger, singbarer und ruhiger spielt. Marshall Allen ist im Zen des hohen Alters angekommen.
Marshall Allen: New Dawn (Mexican Summer)
Der Artikel erschien zuerst in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ)