Sunday 16 June 2013

Hans-Jürgen Linke über "DER KLANG DER REVOLTE"


Neue Musikzeitung (nmz)

Die wichtigsten Fragen aus dem Untergrund

Christoph Wagners große reflektierende Erzählung vom Klang der Revolte



nmz. Wie konnte es passieren, dass Musik so wichtig wurde? Wenn man Chris­toph Wagners Buch über die Achtundsechziger-Revolte liest, liegt plötzlich der Gedanke nahe, dass es nicht der politische Diskurs der Zeit war, sondern die vielstimmige, multiidiomatische Musik, die den Geist der Revolte ab Mitte der Sechzigerjahre am genauesten und radikalsten auszudrücken vermochte. Das kann damit zusammenhängen, dass Wagner die so genannte Studentenbewegungszeit aus der Perspektive eines Menschen sieht, der in den Siebzigern  tief verstrickt war in die aufregenden musikalisch geprägten Subkulturen jener Zeit. Es kann aber auch damit zusammenhängen, dass die innere Debatten-, Streit- und Abgrenzungskultur der Bewegung im Laufe weniger Jahre ein
enorm zersetzendes, blockierendes Potenzial entfaltet hat, während der kulturelle Dissenz mit der älteren Generation, das Neue und der Aufbruch in der Musik und ihren sozialen Rahmenbedingungen am kompromisslosesten abgebildet waren.
                                                                                                            Popfestival, 1972

Christoph Wagners Buch ist in einem überaus angenehmen Sinn ein Geschichtsbuch. Es hat starke erzählerische Anteile und ist durchzogen von einer intensiven und kenntnisreichen Anteilnahme sowie einer empathischen Wärme, aus der das Anliegen des Buches heraus scheint. Es besteht nicht allein in Quellenstudium und Chronisten-Selbstverpflichtung. Wagner will alles noch einmal rückblickend durchlebbar machen, verknüpft mit der nach all den Jahren umso erstaunter gestellten Frage, was da eigentlich alles passiert ist und wie das passieren konnte.

Seine Berichte aus der Zeit des großen Urknalls der Rock-und-Pop-Revolte in der westlichen Hemisphäre und ganz besonders in Deutschland nehmen stets ihren Ausgang von musikalischen Phänomenen und behandeln nebenbei deren subkulturelle Verlaufsformen, ihre politischen Beimengungen und Auswirkungen. Er macht das so geschickt, dass man nach einiger Lesezeit nicht mehr weiß, was die Beimengung oder Auswirkung wovon war. Ursachen und Wirkungen, Politik und Musik, Ökonomie und Verblendung finden von Kapitel zu Kapitel näher zueinander. Das lässt dem Gegenstand seine Fülle und seine nach wie vor schwer entwirrbare Komplexität.


















                                                        Ton Steine Scherben                                                           
Es ist also im engeren Sinne keine Chronik und auch keine soziologische Bestandsaufnahme, was Wagner leistet, es ist eine Art gewissenhafter Nacherzählung, eine postume Behandlung von Fragen, die damals mitten im Raum standen – in jenem Raum, in dem Rockmusik oder freier Jazz oder psychedelische Klanggebilde oder endlos minimalistisches Getrommele zu hören war und Haschischwolken dufteten. Fragen wie die: warum das Englische zwangsläufig die Sprache der Revolte war und über welche Umwege deutsche Sprache schließlich doch hier und da relevant wurde. Wie es zur Entwicklung des zeitgenössischen Popfestivals kam und wie schwierig diese Entwicklung in Deutschland verlief. Warum und für wen plötzlich das Tonstudio ein mythischer Ort der populären Musik wurde. Wie die Verhältnisse von Deutschrockern, Freejazzern, Straßenmusikern sich gestalteten. Ob Drogen wirklich so enorm wichtig waren. Worin die unverwechselbaren Eigenständigkeiten der bundesdeutschen Szene bestanden, warum die Revolte also merkwürdigerweise durchaus eine nationale Angelegenheit war, obwohl Internationalismus eine geradezu unverzichtbare Forderung in all den parallel verlaufenden nationalen Revolten war. Es sind nach wie vor die eigentlich spannenden Fragen, die aus dieser Zeit übrig geblieben sind.
Spannend ist auch die verdichtete Zusammenstellung des Materials. Wagner schreibt in porträthaft abgeschlossenen und darüber hinaus eng miteinander zusammenhängenden Kapiteln die Geschichte der Essener Songtage, des Waldeck-Festivals sowie der deutschen Popfestivals, auf denen es Anfang der siebziger Jahre Mode wurde, dass ein Teil des Publikums sich im Sturm gratis den Eintritt verschaffte. Er zeichnet die Entwicklung alternativer Lebens- und Musikkonzepte anhand so divergierender Gruppen wie Ton Steine Scherben, Embryo, Kraan, Can oder Paul und Limpe Fuchs nach. Er vergisst nie die tiefgreifenden sozialen Ablösungsprozesse, die in Deutschland am Ende der sechziger Jahre die jüngere Generation miteinander verbanden, und er richtet reflektierende Seitenblicke auf die politischen Spaltungsprozesse der Szene nach Minimaldifferenzen und ideologischen Bornierungsmerkmalen.
Christoph Wagners Buch über die Revolte der sechziger und siebziger Jahre und ihre Klangwelten lässt ahnen und nachvollziehen, wie das alles passieren konnte.

Christoph Wagner: Der Klang der Revolte. Die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Underground (edition neue zeitschrift für musik), Schott, Mainz 2013, Hg: Haus der Geschichte Baden-Württemberg; 388 S., Abb., € 24,95, ISBN 978-3-7957-0842-9


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