Volles Gebläse
Virtuoser Bläserjazz mit Ray Anderson’s Pocket Brass
Band in Esslingen
Foto: Manuel Wagner
cw. Sie gelten als die Geburtshelfer des Jazz: Aus Blasorchestern
und Blechkapellen ging vor mehr als hundert Jahren in New Orleans der swingende
Stil hervor. Der amerikanische Bandleader und Posaunist Ray Anderson greift das
Format wieder auf, allerdings in Westentaschen-Ausgabe. Im Unterschied zu
einer richtigen “Marching Band”, die ja
normalerweise aus ein bis zwei Dutzend Musikern besteht, ist seine Pocket Brass
Band nur ein Quartett. In der Jazzkonzert-Reihe im Kulturzentrum ‘Dieselstraße’
in Esslingen war die New Yorker Spitzencombo am Wochenende zu Gast und bewies,
dass sich Blech in musikalisches Gold verwandeln läßt.
Da es der Gruppe an Masse fehlt, muß es die Qualität
bringen, ein Anspruch, den die Musiker virtuos einlösen: Sie liefen zu absoluter
Topform auf! Anderson, ein Star der modernen
Jazzposaune, hat seine Band mit fulminanten Könnern besetzt, die in der Lage sind,
jede musikalische Pirouette eindrucksvoll in Szene zu setzen. Altmeister Lew
Soloff, der Ende der sechziger Jahre mit der Gruppe Blood Sweat & Tears den
Jazzrock erfand, ist ein Feuerspucker auf der Trompete. Der Routinier besitzt
einen glasklaren schneidenden Ton, kann aber auch sein Instrument lyrisch
summen lassen. Leicht und flüssig spielt Matt Perrine das als schwerfällig
geltende Sousaphon (eine gewundene Tuba) und entlockt dem klobige Monster die
atemberaubensten Töne. Dazu trommelt Schlagzeuger Eric McPherson einen elastischen
Beat mit furiosem Drive und brilliert daneben in solistischen Ausflügen.
Ray Anderson breitet ein breites Spektrum an Stilen
und Stimmungen aus. Auf ein zupackendes
Eröffnungsstück folgt eine sanfte Ballade mit samtweichem Klang. Danach pendelt
die Musik zwischen freien Improvisationen und knackigen Funknummern, oder es
wird eine gospelhafte Hymne in der Manier der kirchlichen “Trombone Shout
Bands” angestimmt.
Im zweiten Teil des Konzerts tauchte das Quartett in eine
mehrteilige Komposition ein, die Andersons Geburtsstadt Chicago aus
verschiedenen musikalischen Blickwinkeln portraitierte. Als am Schluß noch eine
Zugabe verlangt wurde, verwandelte sich die Gruppe wieder in eine echte
“Marching Band” und marschierte blasend und trommelnd durch die begeisterten Zuschauerreihen,
um das alte New Orleans für kurze Zeit noch einmal auferstehen zu lassen. So furios
und vielfältig kann Blasmusik heute klingen!
Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Boten.
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