Monday, 21 November 2016

Neue Akkordionmusik aus Portugal: Zwischen Tradition und Moderne

Okkulte Tänze

Einst war es das häßliche Entlein unter den Musikinstrumenten - heute ist das Akkordeon fast schon ein Hipster-Instrument. Durch die portugiesische Gruppe Dancas Ocultas erhält es neue Impulse


cw. Das Akkordeon gilt nicht gerade als genuines Jazzinstrument. Eher verbindet man es mit anderen Stilen: Cajun , Zydeco, TexMex, Musette oder Vallenato. Nach Art van Damme in den 1950er Jahren machte es im modernen Jazz erst wieder In den 1990er Jahren von sich reden. Damals schoben sich Musiker wie Richard Galliano und Jean-Louis Matinier in den Vordergrund, deren Impulse später von Vincent Peirani, Luciano Bondini oder Ted Reichman vom Claudia Quintett aufgegriffen und weitergeführt wurden. Außerdem meldete sich Kimmo Pohjonen lautstark, klanggewaltig und experimentierfreudig zu Wort.

Doch das Ensemble, das dem Akkordeon den meisten Respekt verschaffte, war Accordion Tribe, ein Quintett vom New Yorker Guy Klucevsek initiiert, das fünf Virtuosen des Akkordeons zusammenbrachte und eindrucksvoll demonstrierte, welches ungehobene Potenzial in dem lange verpönten Instrument noch steckt. Jetzt hat eine Gruppe aus Portugal den Faden aufgegriffen: Dancas Ocultas ist ein Quartett, das ebenfalls ausschließlich aus Akkordeonisten besteht, aber nicht wie Accordion Tribe im Experimentellen beheimatet ist, sondern die traditionelle Musik Portugals in die Moderne überführt.

In der portugiesischen Volksmusik spielt das diatonische Akkordeon seit dem 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Vor allem in der traditionellen Musik des Nordens gehört es zur Grundausstattung. Ein paar Pluspunkte zeichnen die Ziehharmonika aus: Sie ist relativ einfach zu spielen, kann sich selbst im Freien Gehör verschaffen und ist eine One-Man-Band. Das machte das Instrument bei Dorffesten und Hochzeiten unverzichtbar. Sogar bei der Weinherstellung kam es zum Einsatz. Wie alte Fotographien aus Portugal vom Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen, wurden die gesammelten Trauben in einem riesigen Bottich von den Dorfbewohnern barfuß zu Saft gestampft, in Trab gehalten von den Klängen eines Akkordeons.

Aus diesen populären Traditionen zieht die Gruppe Dancas Ocultas ihre Inspiration. Wohl spielt das Akkordeon-Quartett vor allem eigene Kompositionen, doch sind diese stark von traditioneller Musik beeinflußt. Statt simpler Tanzrhythmen sind die Stücke oft in ungeraden Metren gehalten, dazu werden Melodien und Gegenmelodien raffiniert ineinander verflochten. “Das diatonische Instrument gilt normalerweise als relativ beschränkt, weil es nicht über alle Halbtöne verfügt und sein Klang als wenig wandelbar gilt,” erklärt Artur Fernandes, der Leiter von Dancas Ocultas, der heute an der Musikhochschule in Porto Komposition unterrichtet. “Doch das macht für uns gerade den Reiz aus. Die Beschränkung besteht vor allem im Kopf. Diese scheinbaren Grenzen haben uns animiert, seine Möglichkeiten stärker auszuloten und vielleicht sogar zu überschreiten.”   

Alle vier Musiker von Dancas Ocultas stammen aus der Gemeinde Águeda, 60 km südlich von Porto gelegen. Und jeder von ihnen spielte bereits als Kind Ziehharmonika – traditionelle und populäre Melodien, wo immer Musik gefragt war. Später gingen die vier aufs Musikkonservatorium, um noch andere Instrumente zu erlernen und sich im Ensemblespiel zu üben. Artur Fernandes studierte Saxofon und spielte klassische Musik in einem Saxofonquartett, was ihn auf eine verwegene Idee brachte: eine Gruppe ausschließlich aus Akkordeonisten zusammen zu stellen.

Das war vor 27 Jahren. Die Vision von Dancas Ocultas hat sich seither kaum verändert und trägt bis heute: neuartige Musik für das Instrument zu erwerfen, die einerseits zeitgemäß und trotzdem die Tradition nicht aus den Augen verliert. Ein wichtiger Anstoß erhielt Fernandes vor Jahren vom italienischen Akkordeonmeister Riccardo Tesi, der dem Portugiesen die Augen öffnete: “Tesi erzählt mir von all diesen tollen Akkordeonisten: Marc Perrone aus Frankreich, Kepa Junkera aus dem Baskenland. Mein Horizont explodierte förmlich. Ich besorgte mir ihre Schallplatten und plötzlich entdeckte ich überall auf dem Planeten fantastische Akkordeonmusik.”

Diese Öffnung ging mit einer gleichzeitigen Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln einher, was in Portugal in den frühen 1980er Jahren einsetzte, als eine folkloristische Bewegung die traditionelle Musik neu entdeckte. Aus beiden Bewegungen speist sich Dancas Ocultas.
 
Die vier Akkordeonisten verstanden sich nicht als eine Ansammlung von Solisten, sondern wollten explizit als Gruppe Musik machen, wodurch sie sich von Accordion Tribe absetzten, das zweifellos ein Solistenensemble war.

Weniger virtuos, dafür medodiefreundiger, tänzerischer und klangverliebter präsentieren Dancas Ocultas ihre Musik. Kunstvoll werden die verschiedenen Stimmen übereinandergelegt und mit wuchtigen Baßlinien verwoben, wobei auf dem aktuellen Album “Amplitude” noch eine andere Klangfarbe ins Spiel kommt. Das Album entsprang einer Kooperation mit dem Orquestra Filarmonia das Beiras, einem Sinfonieorchester aus der Heimatregion der Akkordeonisten, das die Musik samtweich mit wohligen Streicherklängen unterlegt oder ein anderes Mal kraftvoll verstärkt. Dabei gelingt das Kunststück, die beiden Pole - hier Volksmusik, da Kunstmusik - auf einfühlsame Weise zu verbinden.


Dancas Ocultas & Orquestra Filarmonia das Beiras: Amplitude (Uguru) 

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