Sunday, 24 February 2019

Auf dem Seil zwischen U und E: MIKE WESTBROOK

Avantgarde-Musik an der Straßenecke

Mike Westbrook über sein eindrucksvolles Lebenswerk, das sich über mehr als ein halbes Jahrhundert spannt und bis heute hohe Kunst mit großer Unterhaltung zu verbinden sucht – auf dem Seil zwischen U und E
 
Interview von Christoph Wagner

Sein ebenso umfangreiches wie originelles Werk macht Mike Westbrook (Jahrgang 1936) zu einem Giganten der britischen Jazzszene. Nie folgte der Komponist und Pianist den allerneusten Moden, sondern ging unbeirrt seinen eigenen Weg, der ihn so manch ungewöhnliche Abzweigung nehmen ließ – meistens Hand in Hand mit seiner Frau, der Vokalistin Kate Westbrook. Westbrooks Gruppen nahmen über die Jahre verschiedene Inkarnationen an: Jazzcombo, Bigband, Rockjazzgruppe, Blas-, Straßen- und Dorfkapelle, Film- und Theater-Ensemble, Tanzkapelle, Zirkusband und Orchester. Dazu kamen Soloauftritte, die Maßstäbe setzten und oft den Geist von Duke Ellington atmeten, eines seiner großen Vorbilder.

Förderte ihr familiäres Umfeld das Interesse an Musik?

Mike Westbrook: Alle in meiner Familie waren an den Künsten interessiert. Sie waren sehr musikalisch. Meine Mutter war eine diplomierte Klavierlehrerin, die an der Royal Academy studiert hatte. Meine Großmutter hielt einen Doktorgrad in Musik und arbeitete mit Chören. Aber meine Mutter konnte ihre musikalischen Ambitionen nie in der Weise folgen, wie sie es vielleicht gerne getan hätte, weil die familären Pflichten sie zu sehr in Anspruch nahmen. Sie hatte zwei Kinder im Krieg zu versorgen. Es ging hauptsächlich darum, über die Runden zu kommen.

Wo wuchsen Sie auf?

MW: In High Wycombe, im Umland von London. In den Vororten von London verbrachte ich meine Kindheit, bevor wir nach Südwest-England ans Meer zogen, nach Torquai in Devon. Neben der Musik spielte Theater eine große Rolle in meiner Familie. Meine Eltern waren beide leidenschaftliche Amateur-Schauspieler. Wenn die Zeiten anders gewesen wären, wären sie vielleicht professionelle Schauspieler geworden. Aber damals war es wichtig, einen richtigen Beruf zu haben. 

Was arbeitete ihr Vater?

MW: Er war bei einer Bank. Aber seine echte Liebe galt dem Theater. Er verwendete seine ganz Freizeit darauf, Theaterstücke auf die Bühne zu bringen. Er führte Regie und gründete ein Amateurtheater. Er war sehr ambitioniert. Zwischen all diesen Aktivitäten wuchs ich auf. Mein Vater mochte Jazz und verwendete oft Jazznummern in seinen Theaterinszenierungen. Ein Stück von Duke Ellington bei einer Aufführung wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Mir fiel die Aufgabe zu, bei dieser Produktion die Musik zu liefern. Ich wurde hinter der Bühne mit zwei Plattenspielern positioniert und legte die entsprechenden Schellacks auf.

Sie begannen ihre musikalische Karriere also als DJ?

MW: So könnte man sagen. Eine der Scheiben war ‘Black and Tan Fantasy’ von Duke Ellington, was mich richtig begeistert hat. Mein Vater befeuerte mein Interesse, indem er mir ein Album kaufte, das die Ellington-Klassiker aus den 1940er Jahren enthielt. Die Schallplatte habe ich noch immer. Sie ist vom vielen Spielen inzwischen ziemlich zerkratzt und abgewetzt. Das war für lange Zeit die einzige LP, die ich besaß. Danach fing ich mit Musikmachen an. In dem Internat, das ich besuchte, gab es eine Musikabteilung. Mir wurde eine Trompete ausgehändigt. Aber – was man sich heute kaum vorstellen kann – Jazz war an dieser Schule verboten, was mir schon früh etwas über die subversive Natur des Jazz mitteilte, der von Teilen der Gesellschaft als Bedrohung betrachtet wurde. Es ist die Angst vor der Freiheit. Selbst heute noch gibt es diese Ressentiments, weil Jazz die Konventionen herausfordert. Ich spielte dann Trompete auf eine recht einfache Art und Weise. Erst als ich die Schule verließ, bekam ich ein paar Trompetenstunden.

Traten Sie einem Blasorchester bei?

MW: Nein, ich spielte nie in einer Band mit Ausnahme meiner eigenen Gruppen. Von da an war es ein langer Kampf, mir die Grundlagen des Trompetenspiels zu erarbeiten. Zudem hatten wir einen Flügel daheim, den ich immer noch habe. Auf dem versuchte ich mir das Klavierspiel beizubringen, das Notenlesen und das Improvisieren. Nach Jahren zeitigten meine Versuche Früchte. Aber ich hatte nie die Absicht professioneller Musiker zu werden. Ich machte verschiedene Jobs, dann den Wehrdienst, besuchte danach die Universität für ein Jahr, um anschließend auf die Kunsthochschule zu wechseln, was das Beste für mich war.
                              
Sie gehören also zu jener englischen Spezies von Musikern, die Kunst studiert haben?
                                                                         Westbrooks frühes Sextett
MW: Das war nicht unüblich in den 1950er und 1960er Jahren. An der Kunstakademie in Plymouth gründete ich meine erste Band. Wir waren eine Art Skiffle-Gruppe, in der ich auch Gitarre spielte und den Blues sang. Wir hatten einen sehr guten Posaunisten, und mit meiner Trompete und einer wechselnden Ryhthmusgruppe machte das damals unsere Gruppe aus. Dann kam ein Saxofonist dazu, und noch einer, der John Surman hieß. Auch unser Gitarrist Keith Rowe war ein Kommilitone. Wir spielte regelmäßig im Keller des Kunstzentrums von Plymouth, was der Ausgangspunkt für alle späteren Entwicklungen war. Wir hatten eine vierköpfige Bläsergruppe, was mich anregte, Arrangements zu schreiben, die ich am Klavier ausarbeitete. Ich entdeckte, dass ich Talent dafür besaß. Wir spielten nicht Dixieland, sondern modernen Mainstream-Jazz. Nach fünf Jahren war ich so versiert, dass ich für eine Band mittlerer Größe die Arrangements schrieb. Die Möglichkeiten einer Bigband inspirierten mich, wobei Ellington das große Vorbild war. Wir zogen dann nach London. Musiker wie der Saxofonist Mike Osborne kamen dazu. Ich war damals noch kein professioneller Musiker, aber die Band wurde ein ernsthafteres Unterfangen: Wir fingen an, Gigs zu spielen, dann Radiokonzerte. Allerdings war es nahezu unmöglich, eine 12-köpfige Band am Leben zu erhalten, weil man vom Enthusiasmus der Musiker abhängig war. Wir schrumpften dann auf Sextett-Größe, was meine erste professionelle Gruppe war. Wir traten beim Montreux Jazzfestival auf und wurden eine Art Hausband im Jazzclub von Ronnie Scott. Am Samstag spielten wir die ganze Nacht durch bis zum Sonnenaufgang. Über Jahre war diese Gruppe der Kern meiner Aktivitäten. Durch die Hinzunahme von Bläsern wurde daraus die Concert Band, mit der ich dann erste Schallplattenaufnahmen machte. Ich gab dann meinen Brotjob auf und konzentrierte mich vollkommen aufs Musikmachen, war dabei in die verschiedensten Projekte involviert.

Theatermusik war eines davon?

MW: Ich leitete mit dem Theatermacher John Fox ein paar Jahre eine Musiktheatergruppe, die The Cosmic Circus hieß. Das war Straßen- und Aktionstheater mit Zirkusnummern. Wir traten damit bei großen Ereignissen auf. Das war eine Zeit lang sehr wichtig. Daneben schrieb ich Musik für ein Musical im Londoner Westend nach Texten von William Blake. Damals entwickelte sich meine Karriere in alle möglichen Richtungen. Aber ich hatte weiterhin eine Band, deren Besetzung sich natürlich veränderte. Meine Rockjazzgruppe Solid Gold Cadillac ging daraus hervor, und dann änderte sich alles relativ abrupt und wir machten Straßenmusik. Wir distanzierten uns von der Bigbandmusik, vom Jazz. Wir fingen noch einmal von vorne an und fragten uns: „Was können wir als Musiker machen, wenn wir hier auf der Straße stehen?“

Westbrooks Brassband
 
Was war die Idee dahinter? Wollten Sie den Elfenbeinturm der Kunst verlassen?

MW: Das würde bedeuten, wir hätten irgendwann eine bewußte Entscheidung getroffen. Das war aber nicht so! Wir machten immer nur dort weiter, wo sich eine Tür öffnete. Unsere Einstellung änderte sich durch die Arbeit als experimentelles Straßentheater. Wir fanden Musiker und Musikerinnen wie Phil Minton und meine Frau Kate Westbrook, die vielleicht politisch bewußter waren und denen der Elitismus des Jazz nicht behagte. Sie waren auf der Suche nach etwas Neuem: der Posaunist Paul Rutherford kam dazu sowie der Saxofonist Lol Coxhill, ein anderer freier Kopf, der sich gerne in neue Situation begab. Unsere Philosopie war, dass wir alles spielen würde, was jemand in der Band für würdig erachtete und wir würden überall auftreten, wo man uns haben wollte. Es war so einfach und doch so revolutionär! Wir traten in den verrücktesten Situation auf, ein paar Mal sogar bei riesigen Rockfestivals, wo wir eine Art Guerilla-Auftritt absolvierten, bevor die Hauptband auf die Bühne kam. Da wir akustisch spielten, waren wir mobil und flexibel. Wir spielten in Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen, auch in Gefängnissen oder auf der Straße. Das war ungeheuer befreiend und wir spielten alle Arten von Musik: populäre Lieder, Hymnen, alles, was den Leuten gefällt, dazu kamen viele Improvisationen.

Waren die Straßenkapellen von New Orleans ein Vorbild?

MW: Klar, und wir spielten sogar ein paar Stücke aus dem New Orleans Repertoire. Die Idee von „Music in the Community“, also einer Musik vor Ort, in der lokalen Gemeinde, daran glaube ich bis heute und ein Element davon ist in allem, was ich mache. Über die Jahre habe ich den Jazz auch so begriffen: eine kreative Musik, die für eine bestimmte „community“ von Bedeutung ist. Als Jazz noch Unterhaltung war, hatte er einen zentralen Platz im Leben vieler Leute. Es war Musik für religiöse Zwecke. Er wurde bei sozialen Zusammenkünften gespielt, bei Beerdigungen – der Jazz hatte also eine wichtige Funktion im sozialen Leben, was mir als seine wahre Aufgabe erscheint. Aber die Musik sollte immer kreativ sein, offen, nicht immer nach dem gleichen Muster gestrickt. Es sollte kreative, experimentelle und neue Musik sein, aber im öffentlichen Raum und nicht nur in Konzertsälen präsentiert werden. Warum keine Avantgarde-Musik an der Straßenecke? In den frühen 1970er Jahren war das völlig außergewöhnlich. Heute wird es viel häufiger praktiziert. Damals entfremdeten wir uns ziemlich von der Jazzwelt. Wir spielten kaum noch in Jazzclubs, dafür traten wir an allen möglichen anderen Orten auf. Die Jazzwelt vergaß uns. Aber wir entdeckten, dass es etwa in Frankreich, Italien oder der Schweiz ein Publikum für unsere Experimente mit Straßenmusik gab. Die Blaskapelle schaffte den Durchbruch beim Jazzfestival in Willisau 1977, wo wir täglich um die Mittagszeit in einem Zelt spielten so lange wir wollten. Das war ideal für unseren Ansatz.

Unser William Blake-Projekt besaß die größten Anknüpfungspunkte zur politischen Bewegung. Wir spielten das Blake-Programm 1978 beim Festival „Rote Lieder“ in Ostberlin in der DDR, wo Musiker aus Kuba und Südafrika anwesend waren. Aus der Arbeit mit der Blaskapelle entwickelte sich die Vision einer größeren Komposition, die das alles reflektieren sollte und die den Titel „The Cortège“ erhielt. Das war die Rückkehr zu einer größeren Formation.

Sie arbeiten oft thematisch…

MW: Richtig. Wir haben eine ganze Reihe thematischer Stücke realisiert, wenn wir allerdings „live“ auftreten, ist das meistens mit einer kleineren Band, wobei wir dann die Stücke spielen, die uns gerade interessieren. Das können Jazzstandards sein oder Songs oder auch unsere eigenen Kompostionen. So betrachtet, arbeiten wir wie jede andere Band. 

Wenn es zu thematischen Kompositionen kommt, hat das oft mit einem Kompositionsauftrag für einen besonderen Anlaß zu tun, wie unser Rossini-Programm, das für die Stadt Lausanne für ein „Wilhelm Tell“-Festival entstand. Unser „Off Abbey Road“-Programm entstand, weil wir in Italien an einem Festival teilnahmen, das der Musik der Beatles gewidmet war. Für eine Jazzband ist das eine Herausforderung. Ich hörte mir alles von den Beatles an und entschied dann, das „Abbey Road“-Album neu zu interpretieren. 

Duke Ellington scheint gleichfalls eine wichtige Inspiration zu sein…

MW: Bei ihm kommt alles zusammen: Jazz als hohe Kunst, die gleichzeitig große Unterhaltung ist. Jazz war ja Tanzmusik bis in die 1950er Jahre. Wo immer Leute sind, sollte auch Jazz sein! Natürlich ist es Showbusiness, aber es ist kreatives Showbusiness. Jazz gibt dem Publikum nicht nur, was es bereits kennt, sondern geht darüber hinaus. Natürlich ist es wunderbare Tanzmusik, aber gleichzeitig interessant und innovativ. Duke Ellington tanzte gekonnt auf dem Seil zwischen U und E. Er konnte beide Spähren zusammenbringen. Als er auf Tournee in England war, spielte er nicht in den großen Konzerthallen, sondern in Kinos und Varietés, also an Orten der Unterhaltung. Ein ähnlicher Schlüsselmoment war Sgt. Pepper 1967 für mich, als die Beatles Popmusik mit Avantgarde-Klängen verbanden. Das war ein Wendepunkt. Danach kam Abbey Road, das ebenso viele musikalische Elemente verarbeitete, die man nicht unbedingt der Popmusik zurechnet. Als wir mit dem Material von Abbey Road arbeiteten, damit experimentierten und darüber improvisierten, hatten wir das Gefühl, das wir es weiterspinnen würden, allerdings mit enormen Respekt vor dem Original. Man holt das Publikum da ab, wo es ist, und führt es an Plätze, wo es noch nie war, ohne dass man es verliert. Das ist die Herausforderung, um die es geht. 

Neuveröffentlichungen:
The Mike Westbrook Concert Band: The Last Night At The Old Place (Cadillac Records)
Mike Westbrook: Starcross Bridge (Hathut Records) 
Mike Westbrook Orchestra: Catania (Westbrook Records)
Mike Westbrook: In Memory of Lou Gare (Westbrook Records)


Das Interview erschien zuerst im in der Zeitschrift JazzPodium. 

Sunday, 10 February 2019

Stimmen Bayerns: MÜNCHEN

Zwischen Herzlichkeit und Größenwahn

Eine CD-Veröffentlichung spürt der Seele der bayerischen Landeshauptstadt München nach

Hans Söllner (Foto: Stefan Wiebel)

cw. Schon am Morgen war der Comics-Zeichner Robert Crumb bester Laune. München hatte es ihm angetan. „Weißwürste zum Frühstück  – wie gut ist das!“ schwärmte der Amerikaner, als er 2013 Stargast des Münchner „Comicfestivals“ war. Mit seiner Begeisterung für München ist Crumb sicher kein Einzelfall. Ob Touristen, Geschäftsreisende, Zugezogene oder Urmünchner – viele sind der Meinung, dass in der bayerischen Landeshauptstadt die Balance zwischen Weltläufigkeit und Bodenständigkeit, zwischen Gemütlichkeit und Betriebsamkeit noch im Lot ist. Herzlichkeit und Größenwahn halten sich die Waage. Trotz akuter Wohnungsnot, exorbitanter Mietpreisen und krassen sozialen Gegensätzen leben die meisten Münchner gerne in ihrer Stadt.

Das Münchner Trikont-Label hat nun seiner Heimatstadt ein Album gewidmet und in der Reihe „Stimmen Bayerns“ herausgegeben. Unter diesem Motto hat die Schallplattenfirma in den letzten Jahren bereits mehr als ein halbes Dutzend CDs mit Titeln wie „Der Tod“, „Die Liebe“ , „Der Rausch“, „Der Irrsinn“ oder „Die Freiheit“ veröffentlicht, auf denen eine Vielzahl von bayerischen Musikern, Literaten und Kabarettisten in Songs, Sketchen, Couplets, Gedichten und Soundcollagen den jeweiligen Inhalt umkreisten und zu erhellen versuchten.

Nun also München! Die älteste Aufnahme mit dem Titel „Der Zufall“ stammt aus der Schellack-Ära und wurde am 14. Juni 1928 von Karl Valentin und Liesl Karlstadt in München gemacht. Das Komikerpaar zählte damals zu den Stars des Münchner Volkssänger-Milieus, das in Vorstadtkneipen, Singspielhallen und Brettlbühnen allabendlich das Publikum bestens unterhielt und ordentlich zum Lachen brachte. Im Gegensatz zu solchen antiken Aufnahmen sind andere Titel der CD taufrisch: Maxi Pongartz’ Moritat vom „Elvis von Schwabing“ hat der Sänger von Kofelgschroa erst im Oktober 2018 mit Akkordeon eigens für diese Veröffentlichung eingespielt. 

                                                                                                 Bally Prell (1922-1982)
In der Zeitspanne von 90 Jahren zwischen Valentin und Pongartz fächert sich ein Panoptikum an feschen Liedern, tiefgründigen Essays, fetzigen Popsongs und Kurzgeschichten auf, das von Stars der populären Unterhaltung wie Bally Prell (1922-1982) bis zur Indie-Band F.S.K. reicht und vom Schriftsteller Franz Dobler bis zum Liedermacher Hans Söllner. Jeder wirft einen ganz eigenen Blick auf München, was in der Summe eine Art Charakterstudie der „Stadt am Isarstrand“ (Bally Prell) ergibt.

Münchner Charakteristika werden ins Visier genommen, Eigenheiten und Schrulligkeiten der Bayernmetropole ausgeleuchtet, dazu mit Mythen und Legenden aufgeräumt. Natürlich bekommt das Oktoberfest ordentlich Fett ab. Dennoch spiegeln sich in den Beiträgen eine Verbundenheit der Künstler mit der Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit wider, ja – fast könnte man sagen – eine Art Zuneigung, die im Eröffnungssong zu einer wahren Hymne gerinnt: „München, du bist unsere Stadt, wie schön, dass ich hier mein Zuhause hab,“ feiert Veronika Bittenbinder in schnodrigem Hochdeutsch die Bayernmetropole.

Es ist schon beeindruckend, was das Trikont-Label mit diesen Veröffentlichungen der „Stimmen Bayerns“ geleistet hat. Man fragt sich: „Warum gibt es so etwas im Südwesten nicht?“ Originelle Musiker wie MC Bruddaal (Titel: „Stuagert, Du bist mei Number One“) oder die Fantastischen Vier (Titel: „Bring it back the old Stuttgart Rap“), hintersinnige Schriftsteller (Thaddäus Troll) und witzige Komiker (von Willy Reichert über Uli Keuler bis Christoph Sonntag) gibt es doch auch in Schwaben nicht wenige. 

 Der Text erschien zuerst im Schwarzwälder Bote, große Zeitung in Baden-Württemberg

Saturday, 2 February 2019

TRÄUME AUS DEM UNTERGRUND in Metzingen

Reutlinger GENERALANZEIGER, 2.2.2019

Als Rockmusik die schwäbische Provinz eroberte

Konzertlesung – Christoph Wagner stellt in der Metzinger Festkelter begleitet von Livemusik sein neues Buch vor


VON JÜRGEN SPIESS


METZINGEN. Eine Reise in die 60er- und 70er-Jahre der südwestdeutschen Konzertszene: Das ist Thema des Buches »Träume aus dem Untergrund«, das der Balinger Autor Christoph Wagner am Donnerstag in einem Multimedia-Vortrag in der voll besetzten Metzinger Festkelter vorstellte. Die zum Teil kuriosen Geschichten und Begegnungen wurden zwischen den Lesepassagen mit psychedelischer Livemusik von Fritz Heieck (Keyboards) und Manfred Kniel (Schlagzeug) untermalt, die damals auch schon musikalisch aktiv waren.
Alles begann mit dem Jahr 1968: Eine Zäsur, ein Auf- und Umbruchjahr, das einer ganzen Generation den Namen gab und zum Signet für Aufruhr und Rebellion wurde. Die Schlagworte dieser Zeit lauteten: Nonkonformismus, Selbstbestimmung, Konsumverweigerung und sexuelle Revolution. Junge Leute gingen auf die Barrikaden, suchten nach neuen Lebensmodellen und wehrten sich gegen den Lebensplan, den die Gesellschaft für sie vorgesehen hatte. Ein neues Lebensgefühl verschaffte sich Ausdruck. Sein wichtigstes Verbreitungsmittel war die Rockmusik: »Das Rockkonzert war ein utopischer Ort«, erinnert sich Christoph Wagner, »an dem sich das Anderssein der Subkultur manifestierte.«

In Kellern und alten Fabriken
Die Szene im Ländle traf sich in Jugendzentren, Kellern, alten Fabrikanlagen und Jugendinitiativen der Region. Schließlich entstanden subkulturelle Clubs, allen voran der Club Voltaire in Stuttgart, der Club Bastion in Kirchheim und die Manufaktur in Schorndorf, die auf den Konzert-Zug aufsprangen und die heimische Subkultur förderten.
Der gebürtige Balinger, der seit Jahren in England lebt, berichtet von einer lebendigen Musikszene im Südwesten, die neue Trends begierig aufnahm und das erstarrt-autoritäre System kräftig aufmischte. Beat-, Rock-, Jazz- und Folkmusik kamen nicht nur in Gestalt bekannter Stars wie Pink Floyd, Jimi Hendrix, The Doors oder The Who auf heimische Bühnen, sondern auch mit hiesigen Bands. Wolfgang Dauners Et Cetera, Guru Guru, Nine Days’ Wonder, Gila, Kraan, Exmagma, Eulenspygel oder Schwoißfuaß waren zu der Zeit überaus präsent.
Wagner berichtet etwa von der »Nackt-Performance« des Aktionskünstlers Otto Mühl in der Bastion Kirchheim oder von der allerersten Deutschlandtournee der damals noch unbekannten Hardrockband Black Sabbath, die Ozzy Osbourne und seine Mannen im Dezember 1969 nach Schwäbisch Hall, in die kaufmännische Berufsschule in Göppingen und in die Manufaktur Schorndorf führte. Auch in Reutlingen schloss sich Ende der 60er-Jahre eine Non-Profit-Initiative aus Studenten zusammen, die die Rockmusik als Vehikel zur Veränderung der Gesellschaft begriff. GIG, so der Name des Vereins, verstand sich als Alternative zum kommerziellen Popbetrieb und fungierte als nicht-kommerzielle Tourneeagentur für englische und deutsche Rockbands.
So holten GIG etwa Kraftwerk in die Neue Mensa Tübingen. Bei einem Konzert von U.F.O. ebendort kam es im Mai 1972 zum Eklat, weil die britische Band zu spät kam und dann auch noch die Fans körperlich attackierte.
Christoph Wagner hat mit vielen solchen Anekdoten eine 180-seitige Bibel der heimischen Konzertszene der 60er- und 70er-Jahre geschaffen, die zeigt, dass der Südwesten seinerzeit rockte. (GEA)

Christoph Wagner: Träume aus dem Untergrund, 180 Seiten, 24,90 Euro, Silberburg Verlag, Tübingen.

Friday, 1 February 2019

Zwischen Pop und Folk: Black Sea Dahu


Folk in zeitgemäßem Gewand

Die Zürcher Indie-Gruppe Black Sea Dahu im Tübinger Sudhaus
            

cw. Folkmusik hört sich heutzutage anders an, als es Bob Dylan in den 1960er Jahren vorgemacht hat. Heute geben Gruppen wie Mumford & Sons oder Alt-J den Ton an, die Folk mit neuen Einflüssen aus Pop und Rock vermischen und den akustischen Stil damit erneut populär gemacht haben. Die Züricher Band Black Sea Dahu folgt dem gleichen Stern: Ein verträumter Indie-Folk ist ihr Metier. Dass diese feinfühlige und melodische Musik einen Nerv der Zeit trifft, zeigte das Konzert der Gruppe im Tübinger Sudhaus, das vor einer begeisterten Zuschauerkulisse stattfand. Ohne Zugabe ließ das Publikum die sechs Musiker und Musikerinnen nicht von der Bühne.

Die Band um Singer-Songwriterin Janine Cathrein gibt es seit sieben Jahren. Anfangs machte sie unter dem Namen Josh Straßenmusik. Damals verdiente Cathrein ihren Lebensunterhalt als Fahrrad-Kurierin. Erst die Namensänderung und ihr zweites Album „White Creatures“, das letztes Jahr erschien, brachten den Erfolg. Mittlerweile gilt die Schweizer Band als einer der heißesten Tips der Szene zwischen Folk und Pop. Die lange Tournee durch Deutschland, die sie im Moment absolvieren, ist ein untrügliches Zeichen, dass es aufwärts geht.

Black Sea Dahu (Dahu ist der Name eines Schweizer Fabelwesens mit verschieden langen Beinen) besticht durch einen attraktiven Sound, der sanft und einfühlsam daherkommt und meist in gemächlichem Tempo gehalten ist. Die Songs – Bandleaderin Janine Cathrein nennt sie ironisch „Schnulzen“ – werden mit Cello, E-Gitarre und Keyboards in wohlige Arrangements gepackt, wobei das Schlagzeug mit erdigen Beats für rhythmischen Fluß sorgt und das Baßspiel für ein solides Fundament. Oft erklingen die Melodien oder der Refrain eines Songs in perfektem Harmoniegesang, was eine Stärke der Gruppe ist. Crosby, Stills, Nash & Young lassen aus den 1960er Jahren grüßen.

Sängerin Janine Cathrein bildet mit ihrer akustischen Gitarre den unbestrittenen Mittelpunkt auf der Bühne. Bei ihr laufen alle Fäden zusammen: Sie macht die Ansagen zwischen den Stücken und erklärt den Inhalt der Verse, die in Englisch gesungen werden. Assistiert wird sie dabei von ihrer Schwester Vera, die zweite Stimme singt, dazu zwischen E-Gitarre und Baßgitarre wechselt. Der Bruder ist auch mit von der der Partie: Er spielt Cello, Glockenspiel und läßt ebenfalls seine Stimme erklingen. Zur Hälfte ist das Sextett also ein Familienensemble! 

Der Keyboarder bringt mit einem altertümlichen Tonbandgerät vorgemischte experimentelle Sounds ins Geschehen ein, die er manchmal als Grundtöne einem ganzen Song unterlegt. Darüber entfalten sich dann Lieder über enttäuschte Liebe und andere Mißlichkeiten, die einem das Leben so auftischt. Die Botschaft der Songs ist klar: „Lasst euch nicht verbiegen, folgt euren eigenen Träumen!“ Black Sea Dahu macht das auf eindrucksvolle Weise vor. 

Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Bote, große Tageszeitung im Südwesten.