Avantgarde-Musik an der Straßenecke
Mike Westbrook über sein eindrucksvolles Lebenswerk, das sich über mehr als ein halbes Jahrhundert spannt und bis heute hohe Kunst mit großer Unterhaltung zu verbinden sucht – auf dem Seil zwischen U und E
Interview von Christoph Wagner
Sein ebenso umfangreiches wie originelles Werk macht Mike Westbrook (Jahrgang 1936) zu einem Giganten der britischen Jazzszene. Nie folgte der Komponist und Pianist den allerneusten Moden, sondern ging unbeirrt seinen eigenen Weg, der ihn so manch ungewöhnliche Abzweigung nehmen ließ – meistens Hand in Hand mit seiner Frau, der Vokalistin Kate Westbrook. Westbrooks Gruppen nahmen über die Jahre verschiedene Inkarnationen an: Jazzcombo, Bigband, Rockjazzgruppe, Blas-, Straßen- und Dorfkapelle, Film- und Theater-Ensemble, Tanzkapelle, Zirkusband und Orchester. Dazu kamen Soloauftritte, die Maßstäbe setzten und oft den Geist von Duke Ellington atmeten, eines seiner großen Vorbilder.
Förderte ihr familiäres Umfeld das Interesse an Musik?
Mike Westbrook: Alle in meiner Familie waren an den Künsten interessiert. Sie waren sehr musikalisch. Meine Mutter war eine diplomierte Klavierlehrerin, die an der Royal Academy studiert hatte. Meine Großmutter hielt einen Doktorgrad in Musik und arbeitete mit Chören. Aber meine Mutter konnte ihre musikalischen Ambitionen nie in der Weise folgen, wie sie es vielleicht gerne getan hätte, weil die familären Pflichten sie zu sehr in Anspruch nahmen. Sie hatte zwei Kinder im Krieg zu versorgen. Es ging hauptsächlich darum, über die Runden zu kommen.
Wo wuchsen Sie auf?
MW: In High Wycombe, im Umland von London. In den Vororten von London verbrachte ich meine Kindheit, bevor wir nach Südwest-England ans Meer zogen, nach Torquai in Devon. Neben der Musik spielte Theater eine große Rolle in meiner Familie. Meine Eltern waren beide leidenschaftliche Amateur-Schauspieler. Wenn die Zeiten anders gewesen wären, wären sie vielleicht professionelle Schauspieler geworden. Aber damals war es wichtig, einen richtigen Beruf zu haben.
Was arbeitete ihr Vater?
MW: Er war bei einer Bank. Aber seine echte Liebe galt dem Theater. Er verwendete seine ganz Freizeit darauf, Theaterstücke auf die Bühne zu bringen. Er führte Regie und gründete ein Amateurtheater. Er war sehr ambitioniert. Zwischen all diesen Aktivitäten wuchs ich auf. Mein Vater mochte Jazz und verwendete oft Jazznummern in seinen Theaterinszenierungen. Ein Stück von Duke Ellington bei einer Aufführung wurde für mich zum Schlüsselerlebnis. Mir fiel die Aufgabe zu, bei dieser Produktion die Musik zu liefern. Ich wurde hinter der Bühne mit zwei Plattenspielern positioniert und legte die entsprechenden Schellacks auf.
Sie begannen ihre musikalische Karriere also als DJ?
MW: So könnte man sagen. Eine der Scheiben war ‘Black and Tan Fantasy’ von Duke Ellington, was mich richtig begeistert hat. Mein Vater befeuerte mein Interesse, indem er mir ein Album kaufte, das die Ellington-Klassiker aus den 1940er Jahren enthielt. Die Schallplatte habe ich noch immer. Sie ist vom vielen Spielen inzwischen ziemlich zerkratzt und abgewetzt. Das war für lange Zeit die einzige LP, die ich besaß. Danach fing ich mit Musikmachen an. In dem Internat, das ich besuchte, gab es eine Musikabteilung. Mir wurde eine Trompete ausgehändigt. Aber – was man sich heute kaum vorstellen kann – Jazz war an dieser Schule verboten, was mir schon früh etwas über die subversive Natur des Jazz mitteilte, der von Teilen der Gesellschaft als Bedrohung betrachtet wurde. Es ist die Angst vor der Freiheit. Selbst heute noch gibt es diese Ressentiments, weil Jazz die Konventionen herausfordert. Ich spielte dann Trompete auf eine recht einfache Art und Weise. Erst als ich die Schule verließ, bekam ich ein paar Trompetenstunden.
Traten Sie einem Blasorchester bei?
MW: Nein, ich spielte nie in einer Band mit Ausnahme meiner eigenen Gruppen. Von da an war es ein langer Kampf, mir die Grundlagen des Trompetenspiels zu erarbeiten. Zudem hatten wir einen Flügel daheim, den ich immer noch habe. Auf dem versuchte ich mir das Klavierspiel beizubringen, das Notenlesen und das Improvisieren. Nach Jahren zeitigten meine Versuche Früchte. Aber ich hatte nie die Absicht professioneller Musiker zu werden. Ich machte verschiedene Jobs, dann den Wehrdienst, besuchte danach die Universität für ein Jahr, um anschließend auf die Kunsthochschule zu wechseln, was das Beste für mich war.
Sie gehören also zu jener englischen Spezies von Musikern, die Kunst studiert haben?
Westbrooks frühes Sextett
MW: Das war nicht unüblich in den 1950er und 1960er Jahren. An der Kunstakademie in Plymouth gründete ich meine erste Band. Wir waren eine Art Skiffle-Gruppe, in der ich auch Gitarre spielte und den Blues sang. Wir hatten einen sehr guten Posaunisten, und mit meiner Trompete und einer wechselnden Ryhthmusgruppe machte das damals unsere Gruppe aus. Dann kam ein Saxofonist dazu, und noch einer, der John Surman hieß. Auch unser Gitarrist Keith Rowe war ein Kommilitone. Wir spielte regelmäßig im Keller des Kunstzentrums von Plymouth, was der Ausgangspunkt für alle späteren Entwicklungen war. Wir hatten eine vierköpfige Bläsergruppe, was mich anregte, Arrangements zu schreiben, die ich am Klavier ausarbeitete. Ich entdeckte, dass ich Talent dafür besaß. Wir spielten nicht Dixieland, sondern modernen Mainstream-Jazz. Nach fünf Jahren war ich so versiert, dass ich für eine Band mittlerer Größe die Arrangements schrieb. Die Möglichkeiten einer Bigband inspirierten mich, wobei Ellington das große Vorbild war. Wir zogen dann nach London. Musiker wie der Saxofonist Mike Osborne kamen dazu. Ich war damals noch kein professioneller Musiker, aber die Band wurde ein ernsthafteres Unterfangen: Wir fingen an, Gigs zu spielen, dann Radiokonzerte. Allerdings war es nahezu unmöglich, eine 12-köpfige Band am Leben zu erhalten, weil man vom Enthusiasmus der Musiker abhängig war. Wir schrumpften dann auf Sextett-Größe, was meine erste professionelle Gruppe war. Wir traten beim Montreux Jazzfestival auf und wurden eine Art Hausband im Jazzclub von Ronnie Scott. Am Samstag spielten wir die ganze Nacht durch bis zum Sonnenaufgang. Über Jahre war diese Gruppe der Kern meiner Aktivitäten. Durch die Hinzunahme von Bläsern wurde daraus die Concert Band, mit der ich dann erste Schallplattenaufnahmen machte. Ich gab dann meinen Brotjob auf und konzentrierte mich vollkommen aufs Musikmachen, war dabei in die verschiedensten Projekte involviert.
Theatermusik war eines davon?
MW: Ich leitete mit dem Theatermacher John Fox ein paar Jahre eine Musiktheatergruppe, die The Cosmic Circus hieß. Das war Straßen- und Aktionstheater mit Zirkusnummern. Wir traten damit bei großen Ereignissen auf. Das war eine Zeit lang sehr wichtig. Daneben schrieb ich Musik für ein Musical im Londoner Westend nach Texten von William Blake. Damals entwickelte sich meine Karriere in alle möglichen Richtungen. Aber ich hatte weiterhin eine Band, deren Besetzung sich natürlich veränderte. Meine Rockjazzgruppe Solid Gold Cadillac ging daraus hervor, und dann änderte sich alles relativ abrupt und wir machten Straßenmusik. Wir distanzierten uns von der Bigbandmusik, vom Jazz. Wir fingen noch einmal von vorne an und fragten uns: „Was können wir als Musiker machen, wenn wir hier auf der Straße stehen?“
Westbrooks Brassband
Was war die Idee dahinter? Wollten Sie den Elfenbeinturm der Kunst verlassen?
MW: Das würde bedeuten, wir hätten irgendwann eine bewußte Entscheidung getroffen. Das war aber nicht so! Wir machten immer nur dort weiter, wo sich eine Tür öffnete. Unsere Einstellung änderte sich durch die Arbeit als experimentelles Straßentheater. Wir fanden Musiker und Musikerinnen wie Phil Minton und meine Frau Kate Westbrook, die vielleicht politisch bewußter waren und denen der Elitismus des Jazz nicht behagte. Sie waren auf der Suche nach etwas Neuem: der Posaunist Paul Rutherford kam dazu sowie der Saxofonist Lol Coxhill, ein anderer freier Kopf, der sich gerne in neue Situation begab. Unsere Philosopie war, dass wir alles spielen würde, was jemand in der Band für würdig erachtete und wir würden überall auftreten, wo man uns haben wollte. Es war so einfach und doch so revolutionär! Wir traten in den verrücktesten Situation auf, ein paar Mal sogar bei riesigen Rockfestivals, wo wir eine Art Guerilla-Auftritt absolvierten, bevor die Hauptband auf die Bühne kam. Da wir akustisch spielten, waren wir mobil und flexibel. Wir spielten in Schulen, Krankenhäusern und Altenheimen, auch in Gefängnissen oder auf der Straße. Das war ungeheuer befreiend und wir spielten alle Arten von Musik: populäre Lieder, Hymnen, alles, was den Leuten gefällt, dazu kamen viele Improvisationen.
Waren die Straßenkapellen von New Orleans ein Vorbild?
MW: Klar, und wir spielten sogar ein paar Stücke aus dem New Orleans Repertoire. Die Idee von „Music in the Community“, also einer Musik vor Ort, in der lokalen Gemeinde, daran glaube ich bis heute und ein Element davon ist in allem, was ich mache. Über die Jahre habe ich den Jazz auch so begriffen: eine kreative Musik, die für eine bestimmte „community“ von Bedeutung ist. Als Jazz noch Unterhaltung war, hatte er einen zentralen Platz im Leben vieler Leute. Es war Musik für religiöse Zwecke. Er wurde bei sozialen Zusammenkünften gespielt, bei Beerdigungen – der Jazz hatte also eine wichtige Funktion im sozialen Leben, was mir als seine wahre Aufgabe erscheint. Aber die Musik sollte immer kreativ sein, offen, nicht immer nach dem gleichen Muster gestrickt. Es sollte kreative, experimentelle und neue Musik sein, aber im öffentlichen Raum und nicht nur in Konzertsälen präsentiert werden. Warum keine Avantgarde-Musik an der Straßenecke? In den frühen 1970er Jahren war das völlig außergewöhnlich. Heute wird es viel häufiger praktiziert. Damals entfremdeten wir uns ziemlich von der Jazzwelt. Wir spielten kaum noch in Jazzclubs, dafür traten wir an allen möglichen anderen Orten auf. Die Jazzwelt vergaß uns. Aber wir entdeckten, dass es etwa in Frankreich, Italien oder der Schweiz ein Publikum für unsere Experimente mit Straßenmusik gab. Die Blaskapelle schaffte den Durchbruch beim Jazzfestival in Willisau 1977, wo wir täglich um die Mittagszeit in einem Zelt spielten so lange wir wollten. Das war ideal für unseren Ansatz.
Unser William Blake-Projekt besaß die größten Anknüpfungspunkte zur politischen Bewegung. Wir spielten das Blake-Programm 1978 beim Festival „Rote Lieder“ in Ostberlin in der DDR, wo Musiker aus Kuba und Südafrika anwesend waren. Aus der Arbeit mit der Blaskapelle entwickelte sich die Vision einer größeren Komposition, die das alles reflektieren sollte und die den Titel „The Cortège“ erhielt. Das war die Rückkehr zu einer größeren Formation.
Sie arbeiten oft thematisch…
MW: Richtig. Wir haben eine ganze Reihe thematischer Stücke realisiert, wenn wir allerdings „live“ auftreten, ist das meistens mit einer kleineren Band, wobei wir dann die Stücke spielen, die uns gerade interessieren. Das können Jazzstandards sein oder Songs oder auch unsere eigenen Kompostionen. So betrachtet, arbeiten wir wie jede andere Band.
Wenn es zu thematischen Kompositionen kommt, hat das oft mit einem Kompositionsauftrag für einen besonderen Anlaß zu tun, wie unser Rossini-Programm, das für die Stadt Lausanne für ein „Wilhelm Tell“-Festival entstand. Unser „Off Abbey Road“-Programm entstand, weil wir in Italien an einem Festival teilnahmen, das der Musik der Beatles gewidmet war. Für eine Jazzband ist das eine Herausforderung. Ich hörte mir alles von den Beatles an und entschied dann, das „Abbey Road“-Album neu zu interpretieren.
Duke Ellington scheint gleichfalls eine wichtige Inspiration zu sein…
MW: Bei ihm kommt alles zusammen: Jazz als hohe Kunst, die gleichzeitig große Unterhaltung ist. Jazz war ja Tanzmusik bis in die 1950er Jahre. Wo immer Leute sind, sollte auch Jazz sein! Natürlich ist es Showbusiness, aber es ist kreatives Showbusiness. Jazz gibt dem Publikum nicht nur, was es bereits kennt, sondern geht darüber hinaus. Natürlich ist es wunderbare Tanzmusik, aber gleichzeitig interessant und innovativ. Duke Ellington tanzte gekonnt auf dem Seil zwischen U und E. Er konnte beide Spähren zusammenbringen. Als er auf Tournee in England war, spielte er nicht in den großen Konzerthallen, sondern in Kinos und Varietés, also an Orten der Unterhaltung. Ein ähnlicher Schlüsselmoment war Sgt. Pepper 1967 für mich, als die Beatles Popmusik mit Avantgarde-Klängen verbanden. Das war ein Wendepunkt. Danach kam Abbey Road, das ebenso viele musikalische Elemente verarbeitete, die man nicht unbedingt der Popmusik zurechnet. Als wir mit dem Material von Abbey Road arbeiteten, damit experimentierten und darüber improvisierten, hatten wir das Gefühl, das wir es weiterspinnen würden, allerdings mit enormen Respekt vor dem Original. Man holt das Publikum da ab, wo es ist, und führt es an Plätze, wo es noch nie war, ohne dass man es verliert. Das ist die Herausforderung, um die es geht.
Neuveröffentlichungen:
The Mike Westbrook Concert Band: The Last Night At The Old Place (Cadillac Records)
Mike Westbrook: Starcross Bridge (Hathut Records)
Mike Westbrook Orchestra: Catania (Westbrook Records)
Mike Westbrook: In Memory of Lou Gare (Westbrook Records)
Das Interview erschien zuerst im in der Zeitschrift JazzPodium.