Friday, 17 December 2021

My personal Best of 2021

DAS WAR 2021 

 Borderland Trio


Bestes Konzert

Embryo & Brthr (Sigmaringen, Schlachthof)

Graindelavoix: Forget De Monte (Online-Konzert)

 

Meine persönlichen Favoriten

Michael Hurley: The Time of the Foxgloves (No Quarter)

Benoit Delbecq: The Weight of Light (Pyroclastic Records)

Kappeler / Zumthor: Herd (Intakt)

Borderland Trio (Stephan Crump, Kris Davis, Eric McPherson): Wandersphere (Intakt)

  

Aus fernen Zeiten und Weltgegenden

Graindelavoix: Josquin The Undead (Glossa / Platinum)

Geoff Muldaur: His Last Letter (Moon River Music)

 

Entdeckungen

Phantasm: Johann Sebastian Bach –The Weill-Tempered Consort Vol. 2 (Linn)

Les inAttendus: Johann Sebastian Bach – The Art of Fugue (Harmonia Mundi)

La Tempete / Simon-Pierre Bestion: Monteverdi Vespro  (Alpha Classics)

Friday, 10 December 2021

KRONOS spielt PETE SEEGER online

PROTESTSONGS als KAMMERMUSIK


Meine Sendung in den 'Musikpassagen' auf SWR2 über das KRONOS QUARTET SPIELT PETE SEEGER steht jetzt online und kann nachgehört werden:

https://www.swr.de/swr2/musik-jazz-und-pop/kronos-spielt-pete-seeger-protestsongs-als-kammermusik-swr2-musikpassagen-2021-12-09-100.html

Pete Seeger, der 2014 vierundneunzig-jährig verstarb, ist eine Ikone der amerikanischen Folkmusik. Als Hommage an den Protestsänger hat das Kronos Quartet 2020 Seegers eindrücklichste Lieder mit einer Reihe von jüngeren Folksängern und Folksängerinnen noch einmal aufgenommen. Mit von der Partie waren u. a. Sam Amidon, Nikky Finney, Meklit, Brian Carpenter und Aoife O' Donovan. Sie gaben Songs wie "If I had A Hammer" oder "Turn Turn Turn" und "We Shall Overcome", eingebettet in sanfte, manchmal auch dramatische Streichertöne, eine ganz neue Farbe.

Weitere Information: 

https://christophwagnermusic.blogspot.com/2021/02/kronos-spielt-pete-seeger.html


Tuesday, 30 November 2021

ZehnJahre Kappeler-Zumthor Duo

Im Fantasieraum der Klänge

 

Das Duo von Vera Kappeler und Peter Conradin Zumthor feiert mit einem neuen Album zehnjähriges Bestehen


Foto: Ralph Feiner


cw. Die Minimalbesetzung aus Klavier und Schlagzeug ist eine Besonderheit auf der aktuellen Jazzszene. Unbelastet von einer übermächtigen Tradition, bietet sie eine Vielzahl an Möglichkeiten. Vera Kappeler (Piano) und Peter Conradin Zumthor (Schlagwerk) bilden seit zehn Jahren ein solch ungewöhnliches Gespann, wobei es nicht hinderlich zu sein scheint, dass die beiden auch privat ein Paar sind. „Laß uns noch eine Stunde proben,“ ist ein Satz, der im gemeinsamen Haushalt häufig fällt und die Zusammenarbeit recht unkompliziert macht.

 

Trotzdem gibt es natürlich Vorgänger. Don Pullen und Milford Graves waren die ersten im Jazz, die 1966 als Klavier-Schlagzeug-Duo auftraten und damit einen Präzedenzfall schufen, auf den sich ein Jahrzehnt später in Europa Misha Mengelberg und Han Bennink sowie Alexander von Schlippenbach und Sven Ake Johannson bezogen. 1979 kam es zur Begegnung der Giganten, als Cecil Taylor und Max Roach mit einem Auftritt aufhorchen ließen. Damit war ein Modell etabliert, das bis heute in verschiedenen Spielarten freier Improvisation immer wieder auflebt. „Eine Partie Tischtennis“, nannten dann auch Mengelberg und Bennink eine ihrer Schallplatten. Ping-Pong als Metapher für Freejazz im Reiz-Reaktion-Modus? Dem können Kappeler und Zumthor schon lange nichts mehr abgewinnen. Das einzige Ping-Pong, das die beiden noch spielen, ist das an der Tischtennisplatte im Garten ihres Hauses in Haldenstein bei Chur. Musikalisch gingen sie von Anfang an andere Wege.

 

Seit Beginn basteln die beiden an einer Konzeption, die man sogar als Gegenentwurf zur freien Improvisation begreifen könnte: eine Musik, die weder spontan, noch ungebunden ist, sondern durchdacht und ausgeklügelt, dazu über Jahre gereift und auf das Allernotwendigste reduziert.  

 

Fixiertes und Vorgedachtes tritt an die Stelle des Stegreifspiels, anstatt exaltierter Verausgabung herrscht kontrollierte Disziplin. Was Struktur, Rhythmus, Tempo, Klangfarben und Schattierungen anbelangt, sind die meisten der Kompositionen auf dem neuen Album „Herd“ aufs Präziseste ausgearbeitet. Und sie sind kurz: Ohne Umschweife geht es zur Sache. Die Stücke zielen nicht ins Ungefähre, überlassen kaum etwas dem Zufall, sondern sind auf die Vermeidung von Planlosigkeit und Geschwätzigkeit bedacht. Das bedeutet keineswegs, dass die Musik keine Freiräume kennt, nur sind deren Vorgaben genauestens definiert. Mit „Disziplin und Präzision“ hat Sun Ra einmal die Merkmale seiner Musik auf den Punkt gebracht. Die Kurzformel könnte auch für das Duo aus Haldenstein gelten, „wobei das Musizieren immer auch Spaß machen muß“, so Zumthor. 

 

Viel Träumerisches, Verklärtes, auch Wehmütiges kommt in den kleinen Melodien zum Ausdruck, die sich durch die meisten der Kompositionen ziehen. Diese „Miniaturen“ (Vera Kappeler) können nach einer Spieldose oder einem Kinderkarusell klingen bzw. an Erik Saties „Gymnopedies“ bzw. die „Geistervariationen“ von Robert Schumann erinnern und werden allein durch das Schlagzeug in die Gegenwart geholt. Bezeichnenderweise nennt Peter Conradin Zumthor die späten Klavierwerke von Franz Liszt als Einfluß. Für die Entdeckung der Langsamkeit werden dagegen Bohren & der Club of Gore und Howe Gelbs Giant Sand haftbar gemacht, für die aufbrausende Heftigkeit Igor Strawinsky.

 

Neben einem Trauermarsch leuchtet einmal sogar die alpenländische Ländlertradition auf – in einem schleppenden Dreivierteltakt. Das ist ein sachter Hinweis darauf, dass die beiden in der Südostschweiz zuhause sind. Von Bergen, Fels und Stein umgeben, ist es kaum verwunderlich, dass sich ihre Musik durch eine gewisse Kargheit und Spröde auszeichnet.




 

Das Kontrastmittel zu Empfindsamkeit und Fragilität bilden Stücke, bei denen es handfester zur Sache geht, die unbändig daherkommen oder bei denen die Töne so dicht und kaskadenhaft wie in Conlon Nancorrows „Player Piano“-Stücken niederprasseln. Dazu gesellen sich Maskeraden und Verkleidungen: Das Vexierspiel mit klanglichen Täuschungen zieht die beiden in den Bann, fasziniert von Klängen, die ineinander verschwimmen und bei denen nicht klar ist, ob sie vom Klavier, von Metallstäben oder von leicht verstimmten Klangschalen stammen.

 

Als die Pandemie im März 2020 das Konzertgeschehen lahmlegte, beschlossen die beiden, die Auszeit zu nutzen und ein neues Album in Angriff zu nehmen, das eigentlich längst überfällig war, da die letzte Einspielung „Babylon-Suite“ sieben Jahre zurücklag. Zuerst ging es darum, das Repertoire zu durchforsten, um geeignete Stücke ausfindig zu machen, die im Kontext eines Albums Sinn machen würden. Gegebenenfalls galt es neue Kompositionen zu entwerfen, auszuarbeiten und einzustudieren. Das erfordert viel Zeit, da jedes neue Stück erst in den langen Stunden im Proberaum seine endgültige Form gewinnt. Da wird dann ausgiebig experimentiert, immer wieder neue Ideen und Klangkombinationen ausprobiert, die dann entweder verworfen oder für so gut empfunden werden, dass die Weiterarbeit lohnt, bis man schließlich zu einer befriedigenden Lösung findet.

 

Das Ergebnis von Monate langer Arbeit ist das Album „Herd“, in zweieinhalb Tagen in den Hardstudios in Winterthur eingespielt und mit einer Botschaft versehen, die stumm die Geschichte eines Alpendorfs in Graubünden erzählt, das 1955 einem Stausee weichen musste, was ein großes Fragezeichen hinter ein Phänomen macht, dass sich bis heute „Fortschritt“ nennt.

 

Vera Kappeler / Peter Conradin Zumthor: Herd (Intakt)


Der Text erschien zuerst im Musikmagazin JAZZTHETIK

Sunday, 21 November 2021

Das Kölner Musikkollektiv KLAENG

Small is beautiful

Jazzmusiker sind Individualisten. Kann ein Jazzkollektiv deshalb überhaupt funktionieren? KLAENG in Köln macht es vor


KLAENG Jazzkollektiv © Nadine Heller-Menzel


Christoph Wagner spricht mit Jonas Burgwinkel 

 

Im Jazz haben Musikerinitiativen zur Selbsthilfe eine lange Tradition. Seit 2009 besteht in Köln das Musikkollektiv KLAENG  das von sechs Jazzmusikern gebildet wird: Pablo Held (Piano), Tobias Hoffmann (Gitarre), Frederik Köster (Trompete), Sebastian Gille (Saxofon), Robert Landfermann (Baß) und Jonas Burgwinkel (Drums). Der Schlagzeuger gibt Auskunft über Sinn und Zweck der Organisation. 

 

Wie kam es zur Gründung?

 

Jonas Burgwinkel: Klaeng hat als Gruppe von Freunden begonnen, die ohnehin viel miteinander gemacht haben – wir spielten z. B. in diversen Bands zusammen. Irgendwann beschlossen wir, der Sache einen Namen zu geben. Wir haben eine Organisation gegründet, um unsere Kräfte zu bündeln. 

 

Gab es Vorbilder?

 

JB: Es gab in Köln schon lange vor uns derartige Initiativen, etwa den Kölner Jazz Haus e.V., der mittlerweile über 30 Jahre alt ist und erfolgreiche Arbeit geleistet hat und weiterhin leistet. Davon haben wir alle profitiert. Als es dann bei uns gut lief, wollten wir etwas an die Szene zurückgeben, also möglichst viele Künstler daran teilhaben lassen. Das war einer der Gründe, KLAENG aus der Taufe zu heben.

 

Was waren die ersten konkreten Schritte?

 

JB: Wir organisierten zuerst ein Festival, spielten dort anfangs vor allem mit unseren eigenen Gruppen, weil kein Geld da war, auswärtige Künstler einzuladen. Dann hoben wir unser eigenes Label aus der Taufe, danach kam noch eine Konzertreihe dazu. Wir wurden für workshops angefragt und boten sie an. So hat sich das alles recht organisch entwickelt. Wir haben weitergemacht und uns nicht zerstritten, was bei ähnlichen Initiativen häufig der Fall ist. Vielleicht hängt unsere Beständigkeit damit zusammen, dass wir eine kleine Gruppe von Musikern sind, was die Sache überschaubar hält und die Anforderung an jeden von uns erträglich macht. Wir haben das bewußt so gehalten, weil wir oft gesehen haben, wenn eine Organisation zu offen ist und dann zu groß wird, gibt es zu viele Meinungen, um überhaupt noch zu Potte zu kommen. Man ist dann nicht mehr entscheidungsfähig und lähmt sich nur noch gegenseitig. Das wollten wir vermeiden.

 

Habt ihr eine juristische Form gewählt oder besteht die Initiative immer noch rein informel?

 

JB: Nein, ohne juristische Form geht es nicht. Wir betreiben ja mehrere Firmen. Wir haben eine Geschäftsführerin und einen stellvertretenden Geschäftsführer. Das muß schon alles seine Ordnung haben. Wir haben die verschiedensten juristischen Formen durchlaufen: GmbH, eingetragener Verein – wir bleiben da flexibel und richten uns ganz nach den steuerlichen Vorteilen, die die jeweilige Form zum jeweiligen Zeitpunkt bietet. Wir machen ja keinen Gewinn. Das ganze ist als Non-Profit-Organisation konzipiert.

 

Sie haben die Plattenfirma erwähnt, die KLAENG betreibt. Mit einem Label ist ja heutezutage kein Geld zu verdienen oder ...?

 

JB: Damit Geld zu verdienen, war nie unsere Perspektive. Deshalb sind wir auch nicht frustriert, dass das nicht der Fall ist. Die Festivals, die wir veranstalten, können wir auch nur durchführen, weil wir öffentliche Zuschüsse bekommen. Sonst ginge das nicht. Meine Frau ist unsere Geschäftsführerin und kümmert sich um das ganze Antragswesen. Aber immer noch ist es jedes Jahr unsicher, welcher Betrag für unser Festival dann letztendlich bewilligt wird. Das ist immer der gleiche Eiertanz!

 

Bekommt KLAENG für den laufenden Betrieb Fördergelder?

 

JB: Aus verschiedenen öffentlichen Töpfen werden wir teilweise schon langjährig unterstützt, auch von Sponsoren aus der Privatwirtschaft, etwa der RheinEnergie Stiftung. Dahinter steckt jahrelange Aufbauarbeit. Auf diese Weise kommt das Geld rein, mit dem wir nicht nur unsere Geschäftsführerin, sondern auch Werbeleute und Grafiker bezahlen. Diese Dinge haben wir anfangs alle selber gemacht, sind durch die Kneipen gezogen, haben Plakate aufgehängt und Programme ausgelegt. Das machen wir heute nicht mehr. Dafür sind wir einfach ein bißchen zu alt. Für solche Aufgaben heuern wir Leute an, die das besser können. Wir widmen uns heute mehr der Kuratorentätigkeit und weniger dem Stühlerücken und an der Kasse sitzen.

 

Alle sechs Mitglieder von KLAENG sind inzwischen zu renommierten Jazzgrößen der deutschen Szene geworden, mit Preisen dekoriert. Welchen Effekt hat das?

 

JB: Davon profitieren wir mit Sicherheit. Unser Renommee hilft ohne Frage. Man steht auch nicht mehr im Verdacht, nur ein Festival zu organisieren, um sich selber Konzerte zu beschaffen, weil man außerhalb keine Auftritte bekommt.  


Schlagzeuger Jonas Burgwinkel




 Wie funktioniert das Label?

 

JB: Anfangs haben wir gesagt, wir wollen mindestens drei und höchstens sieben Produktionen pro Jahr machen. Heute sind wir flexibler. Wir brauchen solche Regeln nicht mehr, auch weil wir den Künstler klipp und klar sagen: Wir produzieren das Album, machen aber sonst nichts für euch. Für Werbung, Presse usw. müßt ihr selber sorgen. Wir bieten euch eine Plattform, ihr seid Teil eines – wie wir finden – schönen Katalogs und ihr könnt alles selbst entscheiden: das Artwork, ob die Veröffentlichung als Vinylplatte, als CD oder nur digital herauskommt – das ist alles eure alleinige Angelegenheit. Wenn das Album fertig ist, bekommt ihr eine Bemusterungsliste von uns und müßt dann für die Promotion selber sorgen. Es liegt also an euch, das Album in die Medien zu kriegen. Da das Label kein eigenes Budget hat, müssen die Musiker ihre Produktion selber finanzieren, bekommen dafür aber auch 100% der Erlöse. Und mal ehrlich: So arbeiten sowieso 90% aller Jazzlabels! Dass ein Jazzmusiker bei einem Label unterschreibt und dann nur noch warten muß, bis das Geld reinrollt, das ist reine Illusion.

 

Wer entscheidet, ob eine Produktion gemacht wird oder nicht?

 

JB: Da wird anonym abgestimmt. Wenn sich jedoch abzeichnet, dass es auf eine knappe Entscheidung hinausläuft, dann wird noch mal darüber gesprochen. Anfangs war das wahnsinnig zeitraubend, weil wir alles intensivst diskutiert haben. Über jede CD-Bewerbung wurde ausführlich debattiert. Das hat sich als nicht effizient erwiesen. Die anonyme Mehrheitsentscheidung hat sich dagegen bewährt. Es gibt allerdings auch ein Vetorecht, wenn jemand mit einer Entscheidung gar nicht leben kann.

 

Welche Zukunft sehen Sie für KLAENG?

 

JB: Das werden wir oft gefragt, meistens von potenziellen Förderern, die dann großartige Visionen erwarten. Denen müssen wir leider sagen: Für uns ist unser jetziges Niveau vollkommen ausreichend. Wir wollen nicht weiter wachsen und immer größer werden. Nein, wir sind ja alle Profimusiker, dazu Familienväter und bis auf eine Ausnahme noch als Professoren an Musikhochschulen tätig. Wir haben alle Hände voll zu tun. Wollten wir mit KLAENG noch expandieren, müssten wir Leute einstellen und alles noch weiter ausbauen. Die Frage wäre dann: „Warum sollen wir als Musiker das machen?“ Das würde uns nur auffressen, weshalb wir dieses Level im Moment als angenehm empfinden, weil es machbar ist, uns nicht überfordert und wir trotzdem für eine so kleine Organisation einen ziemlich großen Output haben.


Saturday, 30 October 2021

Saadet Türköz & Nils Wogram: SongDreaming

Folkloristisch-improvisatorischen Gesänge

Klangträume von Saadet Türköz & Nils Wogram



 

Auch wenn der Hörer die Sprache der Worte dieser Lieder nicht versteht, vermitteln sich ihm doch die Stimmungen und Gefühlslagen durch die Töne und Klänge der Musik. Saadet Türköz ist eine Sängerin mit kazachisch-türkischen Wurzeln, die 1961 in Istanbul geboren wurde und seit Jahren in Zürich lebt. Sie verbindet die musikalischen Traditionen der ost-turkestanischer Heimat ihrer uigurischen Vorfahren mit den Methoden der Improvisation und der Klangsprache der Avantgarde, Konzepten, denen sie erst begegnet ist, als sie in den 1980er Jahren in die Schweiz kam. 

 

Für das Album “SongDreaming” hat sie sich mit dem deutschen Posaunisten Nils Wogram zusammengetan, um Melodien, die ihrer kazachisch-türkischen Herkunft entstammen, in Gesänge zu verwandeln, welche die Gestalt von Klage- und Trauerliedern, Kinderreimen und Abzählversen oder ritualistischen Beschwörungen annehmen können. Es sind imaginäre Songs aus der Diaspora, die sich in orientalischer Tonalität bewegen und um kulturelle Selbstfindung in einer komplizierten Welt ringen, wobei die Lieder wie in Träumen die fantastischsten Formen annehmen können. Türköz dringt mit Hilfe der Musik in seelische Tiefenschichten vor.

 

Die Grundstimmung des Albums ist ruhig und bedacht. Türköz bewegt sich durch alle Register ihrer Alt-Stimme und schöpft eine enorme Bandbreite vokaler Möglichkeiten aus, wobei allzu große Exzentrik vermieden wird in Liedern, in denen oft ein wehmütiger Grundton vorherrscht. Als Ausgangspunkt dienen traditionelle Melodien, die variiert, fantasievoll ausgeschmückt und improvisatorisch transformiert werden.



Nur selten verdichten sich die vokalen und instrumentalen Linien zu aufbrausenden Ausbrüche. Wogram hält sich eher zurück, stellt sein Posaunenspiel ganz in den Dienst der folkloristisch-improvisatorischen Gesänge. Er begleitet Türköz‘ Stimme mit Langtönen, läßt seine Posaune wie ein Alphorn klingen oder gibt rhythmische Muster vor, die als Tragfläche für Türköz’ vokale Exkursionen dienen, wobei Wogram ab und zu auch zur Melodica greift, was akkordische Möglichkeiten eröffnet.

 

Ein Dutzend Kompositionen umfasst das Album, die zwischen einer und sechs Minuten lang sind, also nie ausufern und zügig auf den Punkt kommen. Diese Fokussierung macht aus jedem Lied ein deutliches Statement. Für Saadet Türköz sind sie Identitätsanker in einer vielschichtig globalisierten Welt, die nur noch wenige Gewißheiten kennt. 


 Saadet Türköz & Nils Wogram: SongDreaming (Leo Records)

Tuesday, 19 October 2021

Krautrock: 'Future Sounds'-Buchbesprechung

„If you remember the sixties, you were not there!“

 

Nach 1968 entwickelte sich in Deutschland eine wilde neue Musik  – die Buchneuerscheinung "Future Sounds" von Christoph Dallach zeichnet den Aufstieg des Krautrock nach




cw. Sie zogen raus aufs Land, quartierten sich in verlassenen Bauernhöfen oder leerstehenden Schulhäusern ein, wo man rund um die Uhr laut Musik machen konnte, ohne jemanden auf die Nerven zu gehen. Gelegentlich fuhren die jungen Bandmusiker am Wochenende im verbeulten VW-Bus in eine größere Stadt, um im Jugendzentrum oder einem alternativen Club ein Konzert zu geben, für Gagen, die kaum zum Leben reichten. Man lebte nach  urkommunistischen Vorgaben, versuchte jegliche Konvention abzustreifen und suchten Transzendenz in psychedelischen Substanzen.


So oder ähnlich klingen die Überlieferungen aus der Zeit nach 1968, als in Westdeutschland eine neue Popmusik entstand, die weltweit bald unter dem Namen „Krautrock“ für Furore sorgte. Stars wie David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop oder die Red Hot Chili Peppers gaben sich als Bewunderer zuerkennen und ließen sich von den abenteuerlichen Sounds aus Germany inspirieren. Die innovativsten Klänge stammten von Gruppen, die sich Kraftwerk, Can, Faust, Tangerine Dream, Cluster, Neu! oder Amon Düül 2 nannten und international zu Bannenträgern des neuen Genres wurden, das bis heute weltweite Strahlkraft besitzt und immer neue Scharen junger Musiker beeinflußt.

 

Im Buch „Future Sounds“ beleuchtet der Musikjournalist Christoph Dallach diese bedeutende Weichenstellung der westdeutschen Popgeschichte. Dabei kommen vor allem solche Musiker zu Wort, die zum erste Mal nicht mehr englischen oder amerikanischen Vorbildern folgten, sondern sich um eigene Ausdrucksformen bemühten, bei denen Improvisation und Experiment im Zentrum standen. Diese Pfadfinder neuer Stilformen ließen mit Klängen aufhorchen, wie man sie bis dahin noch nie gehört hatte, ob wohligen Synthesizerelegien, motorischen Rockgrooves oder esoterischen Klangcollagen. 


Can mit Sängerin Christine Lingh 


 

Das Buch von Dallach besteht ausschließlich aus Interviews mit mehr als sechzig Zeitzeugen, die weder kommentiert noch erläutert werden. O-Ton-Schnipsel aus den Gesprächen bündelt Dallach geschickt zu thematischen Schwerpunkten. Es beginnt in den 1950er Jahren (Nachkriegsjugend, Jazz), dann wird die Jugendrevolte der 1960er Jahre (lange Haare, WGs, Drogen) umkreist, um schließlich in den 1970er Jahre zu landen, wo die Musik vollends in den Vordergrund rückt und die führenden Formationen sowie einflußreiche Persönlichkeiten wie Rolf Ulrich Kaiser und Conny Plank mit eigenen Kapiteln bedacht werden. Dem schließt sich ein Ausblick in die Zukunft an, bei dem die Bedeutung des „Krautrock“ für die Musikhistorie noch einmal unterstrichen wird. 

 

Für Eingeweihte, die mit der Thematik und den Akteuren vertraut sind, mag dieses Patchwork-Verfahren einen gewissen Reiz besitzen, für Neueinsteiger kann es dagegen zu  einem Wirrwarr aus Stimmen und Meinungen zerfransen. Zudem liegt bei dieser Art der mündlichen Geschichtsschreibung Dichtung und Wahrheit oft eng beieinander, weil nach so vielen Jahrzehnten die Erinnerungen mehr und mehr verschwimmen und verblassen. „If you remember the sixties, you were not there!“ warnt ein Spruch aus den Woodstock-Jahren. Die Tendenz zur Selbstbeweihräucherung und Eigenstilisierung einzelner Musiker ist dann auch unüberhörbar, gerät gelegentlich fast schon zur peinlichen Prahlerei. 


Tangerine Dream, 1970 (Foto: Hudalla)




 

Im Fall von Kraftwerk stößt die Interview-Methode vollends an ihre Grenzen, da die Hauptakteure Ralf Hütter und Florian Schneider (1947-2020) seit langem keine Interviews mehr gaben, ja sogar die Frühphase der Band (inklusive der Vorgängergruppe Organisation) am liebsten aus den Geschichtsbüchern getilgt hätten. Andere Protagonisten sind bereits verstorben, so dass Dallach sich in diesen Fällen aufs dünne Eis des Hörensagens begibt. 

 

Wenn sich der Leser dieser Schwächen bewußt ist und außerdem die Musiker-Statements mit einer Prise Salz goutiert, kann man die Veröffentlichung als materialreiche Quellensammlung mit Gewinn lesen, kommen darin doch noch einmal etliche Beteiligte ausführlich zu Wort, die – altersbedingt – bald nicht mehr ihre Sicht der Dinge darlegen können, wenn sie nicht – wie Dieter Moebius – zwischenzeitlich bereits verstorben sind. 

 

Christoph Dallach: Future Sounds – wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Taschenbuch; 511 Seiten mit einigen SW-Fotos; 18 Euro 

 

Tuesday, 5 October 2021

Donaueschinger Musiktage: 100. Jubiläum

Metropolenklänge in der Provinz

 

100 Jahre Donaueschinger Musiktage 


                                                     Karlheinz Stockhausen 

cw. Wie passt das zusammen? Eine Stadt mittlerer Größe im südlichen Schwarzwald gilt als wichtigstes Zentrum für zeitgenössische Musik weltweit, Klänge, die man sonst in Metropolen wie Berlin, New York, Wien oder Paris vermuten würde. Das hat Donaueschingen mit seinen „Musiktagen“ geschafft, ein Festival, auf das sich jedes Jahr im Herbst die Ohren der internationalen Avantgarde-Fans richten. Dieses Jahr feiert die Veranstaltung 100. Geburtstag.

 

Neue Musik gilt als schwierig, unzugänglich und elitär, Klänge für eine kleine verschworene Minderheit, die dennoch jedes Jahr immerhin zehntausend Besucher in die ehemalige Residenzstadt lockt, was nicht nur das Fremdenverkehrsamt und die Gastronomie freut. Auch für das Land Baden-Württemberg sind die „Donaueschinger Musiktage“ ein Aushängeschild.

 

Alles begann im Sommer 1921, in der Aufbruchzeit nach dem 1. Weltkrieg, als Heinrich Burkard – Musiklehrer der Fürstenfamilie zu Fürstenberg – mit finanzieller Unterstützung des Fürsten zu einem „Kammermusikfest“ in den südlichen Schwarzwald einlud und viele junge Komponisten Werke für die „Novitätenkonzerte“ einreichten. Ein Streichquartett von Paul Hindemith kristallisierte sich als das überzeugenste heraus. Doch das verpflichtete Musikensemble weigerte sich, die Komposition zu spielen, zu verquert erschien das Werk. Als Notlösung wurde daraufhin das Amar Quartett herangezogen, das dem Stück zu einem überwältigen Erfolg verhalf und von nun an als Hausensemble fungierte.

 

„Donaueschingen“ wurde in Folge immer mehr zu einem Synonym für neuste Musik, wenn auch der Standort ein paar Mal wechselte: 1927 fanden die Konzerte in Baden-Baden statt, 1930 in Berlin. Unter der Federführung des Komponisten Hugo Herrmann schlingerten die Musiktage durch die Zeit des Nationalsozialismus und kamen nach dem 2. Weltkrieg 1950 in die Obhut des Südwestfunks. 


Mauricio Kagel: Zwei-Mann-Orchester, Donaueschingen, 1973 (Foto: Promo)


 

In der Nachkriegszeit wurden das Festival zu einem Forschungslabor atonaler Klänge, wobei alle tonangebenden Komponisten der Gegenwart zum Zuge kamen, die sich oft gegenseitig nicht grün waren. Von Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono über Hans Werner Henze, Yannis Xenakis und John Cage bis zu Ernst Krenek, György Ligeti und Mauricio Kagel – waren alle präsent, wobei auch die Vorväter wie Arnold Schönberg, Edgard Varèse oder Igor Strawinsky nicht vergessen wurden. Serielle Musik, Musique Concrète, New York School, elektronische Klänge, Third Stream, Klanginstallationen, Hörspiel – in Donaueschingen kam jede Richtung zu ihrem Recht, was nicht ohne Konflikte, Neid und Eifersüchteleien abging. 

 

Nach zaghaften Versuchen mit einer sogenannten „Jazztime“ in den 1950er Jahren, gelang es 1967 dem Rundfunkredakteur Joachim Ernst Berendt eine „Jazz Session“ im Programm zu etablieren, was bei E-Musik-Puristen auf wenig Gegenliebe stieß, denen der Jazz als trivial galt. Dennoch schaffte es Berendt ein paar wegweisende Konzerte auf die Beine zu stellen: 1967 ließ das Globe Unity Orchestra mit großorchestralem Freejazz aufhorchen, 1970 absolvierte hier das Sun Ra Arkestra aus den USA eines seiner ersten Konzerte in Europa, und 1971 hielt mit der englischen Gruppe Soft Machine sogar der elektrische Jazzrock Einzug, was ein paar ältere Konzertbesucher veranlasste, wegen der brachialen Lautstärke fluchtartig den Saal zu verlassen.


Don Cherry mit Frau und Sohn sowie Joachim Ernst Berendt, Donaueschingen 1971 (Foto: Jörg Becker)


 

Natürlich war „Donaueschingen“ nicht unfehlbar – ganz im Gegenteil. Das Festival spiegelte das ganze Auf und Ab der zeitgenössischen Musik wider, war nicht gegen die Versuchungen der Mode und des Zeitgeists gefeit. Auch das „Altern der Avantgarde“ wurden hörbar. Nicht selten langweilte eine musikalische Moderne, die zwischenzeitlich als stinknormal empfunden wurde. Viele Komponisten verschwanden nach ihrem Auftritt in Donaueschingen bald wieder von der Bildfläche, etliche Werke schafften es nach der Uraufführung auf keine Bühne mehr. 

 

Die Gefahr der Kürzung öffentlicher Fördergelder stellte vor ein paar Jahren die Existenz des ganzen Unternehmens in Frage, eine Krise, die inzwischen gemeistert zu sein scheint. Donaueschingen ist bereit für die nächsten 100 Jahre und die werden vermehrt im Zeichen von Diversität, Dekolonisierung und digital-elektronischer Musikfabrikation stehen, wobei Laptops, digitale Klangmaschinen und künstliche Intelligenz immer mehr das konventionelle Orchesterinstrumentarium verdrängen. Das Festival hat das Ohr in die Zukunft gerichtet, auch dieses Jahr wieder vom 14. – 17. Oktober.   

 

Info: www.donaueschingen.de/musiktage


Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Bote, große Tageszeitung in Südwestdeutschland

Thursday, 16 September 2021

Das Ensemble Oregon – die Erfindung des kammermusikalischen Jazz

Akustisch und leise, statt elektrisch und laut

 

Das Ensemble Oregon schlug in den 1970er Jahren neue Töne an und bahnte dem kammermusikalischen Jazz den Weg. Holzbläser Paul McCandless erinnert sich 

 




Es war kein Jazz, kein Folk und keine Weltmusik – Oregon klang anders: Während Jazzmusiker die Verstärker aufdrehten, spielten Ralph Towner, Paul McCandless, Glen Moore und Collin Walcott akustische Improvisationsmusik mit neo-romantischem Flair. Ein ‚Live‘-Mitschnitt aus Bremen von 1974 zeigt die Gruppe auf dem Höhepunkt ihrer Kunst.

 

CW: Sie betraten 1971 mit Oregon Neuland. Wie nahm der Stil der Gruppe Gestalt an?

 

Paul McCandless: Wir waren auf der Suche nach einer anderen Art zu improvisieren und entwickelten unsere eigene musikalische Sprache. Es war sehr aufregend, weil wir auf Klänge stießen, die wir nie zuvor gehört hatten.

 

Oregon war ein akustisches Ensemble – ein Gegenentwurf zum elektrischen Rockjazz von Miles Davis, Weather Report und dem Mahavishnu Orchestra, der damals en vogue war...

 

Paul McCandless: Oregon war das Gegenteil von elektrisch und laut, nämlich akustisch und leise. Das war unser Konzept! Die Fusionbands waren damals sehr von Rockmusik beeinflußt, schichteten immer größere Lautsprechertürme aufeinander, wogegen wir mit akustischem Instrumentarium Folk, Jazz, indische und klassische Musik verschmolzen.

 

Die Instrumentierung gab Oregon einen unverwechselbaren Sound...

 

Paul McCandless: Mit Tabla und Sitar, zwölfsaitiger Akustikgitarre, Kontrabaß und Oboe hatten wir eine Besetzung, die uns damals von allen anderen Gruppen unterschied. 

 

Die Mitglieder von Oregon waren sich ursprünglich in der Gruppe von Paul Winter begegnet?

 

Paul McCandless: Das ist richtig. Mein Oboenlehrer Robert Bloom, einer der einflussreichten Oboisten der klassischen Musik, ermunterte mich, bei Paul Winter vorzuspielen, mich aber auch beim New York Philharmonic Orchestra zu bewerben. Ich wurde dann Mitglied der Gruppe von Paul Winter, dessen Musik ich sehr inspirierend fand. Dort traf ich die anderen Musiker, mit denen ich später Oregon ins Leben rief. Meine Karriere wäre wohl ganz anders verlaufen, hätte ich den Job beim New York Philharmonic Orchestra bekommen. Nachträglich muß ich dankbar sein, dass man sich für jemand anderen entschied.




 Die Oboe gab Oregon eine ganz speziellen Sound. Das Instrument war damals im Jazz kaum präsent. Wie gelang es ihnen, es als Improvisationsinstrument zu etablieren?

 

Paul McCandless: Ich hatte schon während meiner Studienzeit Bigband-Arrangements geschrieben für Besetzungen, die aus dem Rahmen fielen mit Oboe, Englischhorn und Baßklarinette. Das klang frisch und bewegte sich abseits der üblichen Pfade. Gil Evans war mein Leitstern. Jedoch war es nicht einfach, die Oboe jazzmäßig zu spielen, weil sie ein sehr melodisches Instrument ist und nicht sehr laut. Yusef Lateef war der einzige Jazzmusiker, der darauf improvisierte. Ich spielte dann oft in den hohen Registern, um überhaupt gehört zu werden. Wenn man das Instrument in der mittleren Lage bläst, geht es in einer Jazzcombo unter. Die Oboe gab Oregon augenblicklich ein kammermusikalische Feeling. Dadurch fielen wir auf. 

 

Wie fand die Gruppe überhaupt zusammen?

 

Paul McCandless: Ralph Towner und Glen Moore hatten sich im Bundesstaat Oregon auf dem Musikcollege kennengelernt. Als Studenten waren sie stark von der Musik von Bill Evans beeinflußt. Sie zogen nach New York und versuchten dort als Jazzmusiker Fuß zu fassen. Sie kamen dann in die Gruppe von Paul Winter, der sich auf der Suche nach einer neuen Musik befand, die Jazz, Weltmusik und New Age-Einflüsse verband. Dort lernte ich sie kennen. Ralph Towner und Glen Moore begleiteten daneben den Folksänger Tim Hardin, mit dem sie beim Woodstock-Festival 1969 auftraten. Bevor sie mit dem Hubschrauber aufs Festivalgelände gelangten, hatten sie nicht die leiseste Ahnung von der Dimension des Festivals. Ralph Towner war der erste, der Paul Winters Gruppe verließ, um das Folktrio Peter, Paul & Mary zu begleiten, was gutes Geld bedeutete. Glen Moore tauchte in die freie Improvisationsszene ein. Dann bot sich uns die Gelegenheit an Musikhochschulen an der amerikanischen Ostküste eine Reihe von Konzerten zu geben. So kam die Gruppe zusammen, und auf diesen Tourneen entwickelte sich unser Sound. Wir fanden unsere eigene Sprache. Anfangs hatten wir Schwierigkeiten das Klavier einzubeziehen. Es passte einfach nicht dazu. Ähnlich war es mit dem Tenorsaxofon. Es dauerte Jahre bis wir einen Weg fanden, diese Instrumente organisch in unsere Musik einzubauen.


Collin Walcott


 

Das neue Album enthält den ‚Live‘-Mitschnitt eines Konzerts in Bremen aus dem Jahr 1974. Welche Erinnerungen verbinden sich mit diesem Auftritt?

 

Paul McCandless: Damals konsolidierte sich unser Stil. Die Tournee von 1974 war eine unserer ersten in Europa. Wir spielten viele Konzerte vor beachtlicher Kulisse, nicht Jazzclubs, sondern Konzertsäle. Unsere akustische Musik kam an. Bremen war eines der Highlights. Damals trafen wir auch Manfred Eicher und hörten einige Musiker seines Labels ECM, die sehr frisch klangen. Jan Garbarek beeindruckte uns besonders, ob mit Art Lande oder im Quartett mit Bobo Stenson. Wir fühlten, dass deren Musik in eine ähnliche Richtung ging wie unsere. Melodien gewannen an Bedeutung, die Besetzung war akustisch und die Atmosphäre intimer. Das Publikum in Europa konnte mit dieser neuen Musik mehr anfangen als die Jazzfans in den USA, die den Swing vermissten und die Bebop-Phrasen. In Europa waren die Konzertbesucher neugieriger und offener für die neuen Klänge. Sie nahmen Oregon begeistert auf. 


 

Oregon besteht nunmehr 50 Jahre. Wie ging es nach Bremen weiter?

 

Paul McCandless: Unser Stil entwickelte sich kontinuierlich, wobei die Bezugspunkte immer breiter wurden. Ein tiefer Einschnitt war der Tod von Collin Walcott, der 1984 bei einem Autounfall ums Leben kam. Wir wußten nicht, wie wir weitermachen sollten und legten die Band erst einmal für ein Jahr auf Eis. Dann kam Trilok Gurtu in die Band. Als er ausschied, machten wir als Trio weiter. Seit etlichen Jahren komplettiert der Schlagwerker Mark Walker die Band. In den ersten Jahren war unsere Musik sehr fokussiert, um sich mit den Jahren immer weiter zu öffnen. Andere Instrumente, neue Klänge und Stilelemente kamen hinzu. Anfangs hatten wir z. B. nur Tablas für den Rhythmus, später dann ein reguläres Schlagzeug. Oregon hat nie aufgehört, musikalisch zu wachsen.

 

Oregon: 1974 (MIG Music)


Das Interview erschien zuerst in JAZZTHETIK – Magazin für Jazz und anderes 9/10-2021

 

  

Thursday, 9 September 2021

J.S. Bach gegen den Strich gebürstet

 Bach neu belebt

 

Drei Ensembles bürsten bekannte Kompositionen von Johann Sebastian Bach gegen den Strich


 

cw. Für viele gilt er als der bedeutendste Komponist, den das Abendland hervorgebracht hat: Johann Sebastian Bach, 1685 in Eisenach geboren und von 1723 bis zu seinem Tod 1750 Thomaskantor in Leipzig. Der Barockgroßmeister hat ein riesiges Werk geschaffen, darunter Kompositionen wie „Das wohltemperierte Klavier“, die „Goldberg-Variationen“ und „Die Kunst der Fuge“, die mittlerweile zu weltbekannten Klassikern geworden sind und unzählige Male auf Schallplatte oder CD eingespielt wurden. 

 

Dennoch hat die Fülle an Veröffentlichungen bisher zu keiner Übersättigung geführt. Immer neue Generationen von Musikern lassen sich vom Werk des Barockmusikers in den Bann ziehen, wobei sie versuchen, frische Funken aus seinen Kompositionen zu schlagen. In den 1960er Jahren machte Walter (heute: Wendy) Carlos mit Synthesizer-Interpretationen des wohltemperierten Klaviers Furore, während Jacques Loussier unter dem Motto „Play Bach“ den Barockkomponisten verjazzte und die französischen Swingle Singers ähnliches mit swingenden Vokalinterpretationen von „Bach‘s Greatest Hits“ unternahmen. In jüngerer Zeit haben Pianisten wie der junge Isländer Vikingur Ólafsson nahmhafte Elektronikmusiker ins Boot geholt, um Bach im Sound der Club- und DJ-Culture einer Runderneuerung zu unterziehen


Trio Zimmermann (Foto: Mats Bäcker / Promo)

 

Gerade sind abermals eine Reihe von Veröffentlichungen erschienen, die das Bach’sche Werk anders und neu hörbar machen. Da ist das Trio des weltberühmten Violinvirtuosen Frank Peter Zimmermann, das die „Goldberg Variationen“ von einer „Clavier Übung“ in Streicherklänge überführt. Einst vom kanadischen Pianoexzentriker Glenn Gould zu einem Schallplattenhit gemacht, haben die drei Saitenmusiker in jahrelanger Arbeit die ursprünglich für Cembalo gedachte Stückesammlung für Violine, Bratsche und Cello eingerichtet. Der Effekt ist verblüffend, wobei die Kompositionen so natürlich und authentisch klingen, als hätte sie Bach ursprünglich für Streichtrio geschrieben. Die drei Solisten bringen diesen wohl bedeutendsten Variationszyklus der Musikgeschichte mit so leichter Hand auf ihren Stradivari-Instrumenten zum Klingen, dass sie der Vorgabe der „Gemüths-Ergetzung“, wie der Untertitel des Werks lautete, mehr als gerecht werden.


Ensemble Phantasm (Foto: Marco Borggreve/ Promo)

 

Mit ähnlicher Fantasie macht sich das Ensemble Phantasm ans Werk, das unter dem Titel „The Well-Tempered Consort“ auf zwei Alben der kontrapunktischen Verschlungenheit des „wohltemperierte Klaviers“ nachspürt. Die Gruppe ist eigentlich ein Gambenconsort, eine Ensembleform, wie sie in der Zeit vor Bach bestimmend war. Dem Streichsextett, das seit ein paar Jahren in Berlin residiert, gelingt es, die Bach’sche Tastenmusik in ebenmäßiger Ausgewogenheit in Szene zu setzen, womit die Gruppe der Forderung des Komponisten Robert Schumann nachkommt, diesen „wahrhaft poetischen Gebilden“ ihren „jeweils eigenen Ausdruck“ zu geben.   


Les InAttendus (Foto: Bernard Martinez / Promo)



Aus Frankreich kommt ein anderes exzellentes Ensemble, das sich in Triobesetzung an „Die Kunst der Fuge“ wagt. Sein Name: Les inAttendus, zu deutsch: Die Unerwarteten oder die Überraschenden. Unerwartet und überraschend ist dann auch ihr Ansatz. Neben Gambe und Violine färbt das Akkordeon den Trioklang, was bei einer Bach-Interpretation Stirnrunzeln hervorrufen kann, entstand das Balginstrument doch erst lange nach Bachs Tod. Allerdings verfängt der Einwand nur bedingt, da soviel Purismus jede der berühmten Klavierinterpretationen verhindert hätte, weil zu Bachs Zeiten das Klavier ebenfalls noch nicht erfunden war. Mit großem Einfühlungsvermögen gelingt es Vincent Lhermet sein Akkordeon wie eine kleine Kirchenorgel klingen zu lassen, was der Klangvorstellung von Bach vielleicht sogar nahekommt, der möglicherweise nicht ohne Grund die Instrumentierung offen ließ, bereits zukünftige Instrumentenentwicklungen erahnend.