Wir waren Gestrandete
Hörtest mit Marshall Allen (geboren am 25. Mai 1924), Altsaxofonist und Leiter des Sun Ra Arkestra
cw. Seit dem Tod von John Gilmore im Jahr 1995, der nach dem Ableben von Sun Ra 1993 die Leitung des Arkestras übernommen hatte, führt Marshall Allen die Band, der er seit 1960 angehört. Unter der Ägide des Altsaxofonisten, der auch Flöte und das elektronische EVI-Blasinstrument spielt, sind die Verhaltensregeln lockerer geworden. Im Backstage-Raum wird Bier getrunken, was zu Sun Ras Zeiten undenkbar gewesen wäre. “Wir müssen die verschiedensten Musikerpersönlichkeiten unter einen Hut bringen, junge wie alte, und das geht nur, indem man unterschiedliche Haltungen toleriert,” begründet Allen sein liberales Regime. “Und außerdem: Es geht ja vor allem darum, den günstigsten Rahmen zu schaffen, um die Talente und Fähigkeiten der Musiker optimal zur Geltung zu bringen.” Im Konzert sind dem Verteranen seine Jahren noch weniger anzumerken. Mit berstender Wucht, aber auch großer Leichtigkeit, spielt er sein Altsaxofon, tänzelt zum Rhythmus der Musik auf der Bühne herum und dirigiert die messerscharfen Einsätze der Bläsersektion in punktgenauer Manier.
Sylvester Weaver & Walter Beasley: Bottleneck BluesAufgenommen: 1927
Von der LP: Bottleneck Blues - Guitar Classics 1926 - 1937
Yazoo Records
Marshall Allen (summt mit): Ich weiss nicht, wer das ist.
CW: Das hätte mich auch verwundert. Es ist eine frühe Aufnahme von einem Bluesmusiker namens Sylvester Weaver, der aus ihren Geburtstadt Louisville, Kentucky stammt. Die Einspielung wurde 1927 gemacht, also drei Jahre nach ihrer Geburt. Mit welcher Art von Musik kamen sie in ihrer Kindheit in Berührung?
Marshall Allen: Das war genau solche Bluesmusik, aber auch Jazz von Fletcher Henderson und Louis Armstrong. Wir hörten diese Musik vor allem im Radio, aber auch manchmal “live”. Im Radio spielten Lionel Hampton und Benny Goodman. Das waren damals populäre Gruppen. Um das Rundfunkgerät versammelte sich die ganze Familie. Man hörte Nachrichten, Comedy-Sendungen oder Boxkampfübertragungen. Auf Bluesmusiker traf man überall. Sie spielten in Tavernen und Kneipen. Oft waren es Pianisten, die Blues spielten. Allerdings war ich damals noch zu jung, um hineingelassen zu werden. Deshalb trieben wir uns vor den Kneipen herum und versuchte von außen etwas zu hören. Die Eingangstür oder die Hintertür waren die Orte, wo wir herumhingen und hofften, ein paar Takte aufzuschnappen.
Als ich ein Teenager war, kam Fletcher Henderson in unsere Stadt. Er trat in einem Gemeindezentrum bei einer Tanzveranstaltung unserer Schule auf - also ich ging hin. Er kam nicht mit seiner Bigband, sondern mit einer kleineren Gruppe. Die Band machte einen riesigen Eindruck auf mich. Es war die erste Jazzcombo, die ich “live” erlebte - wow! Ich kann mich selbst nach so langer Zeit noch genau daran erinnern.
James Moody: Bunny Boo
Aufgenommen 1961 in San Francisco
Von der CD: James Moody: At the Jazz Workshop
Chess / Universal
Marshall Allen: Hmmm? Tenorsaxofon? Schwierig!
CW: Das ist James Moody!
Marshall Allen: Oh, das ist Moody! Kann ich noch mehr hören? (Er tappt den Beat mit dem Fuß mit, schnippst mit den Fingern und klatscht in die Hände) Das ist ein Altsaxofon, das er hier spielt. Ich spielte mit James Moody sehr früh in meiner Laufbahn und machte eine Schallplattenaufnahme mit ihm. Ich war damals bei der Armee, stationiert in Paris, so um 1948. Ich spielte mit einer kleinen Band von Kollegen der Militärkapelle auf einem Jazzfestival in München, wo auch James Moody auf dem Programm stand, der alleine kam, und wir ihn deshalb begleiteten. Das klappte so gut, dass wir danach in der Schweiz eine Einspielung machten.
CW: Welche Rolle spielte die Armee für ihre musikalische Entwicklung?
Marshall Allen: Oh, eine sehr wichtige. Erst in der Militärkapelle begann ich mein Instrument ernsthaft zu erlernen. Ich meldete mich freiwillig. Es war ein Orchester von 28 Musikern. Ich konnte damals schon etwas Saxofon spielen. In der Schule hatte ich damit begonnen. Doch wollte ich auch Klarinette lernen, weil es damals viele tolle Klarinettenspieler gab etwa in der Band von Duke Ellington - aber in der Schule hatten sie nur noch eine Oboe. Also spielte ich Oboe. Das war harte Arbeit. Man braucht starke Lippen, muss viel üben. Das war nicht mein Fall. Erst bei der Armee bekam ich dann eine Klarinette und lernte darauf zu spielen.
Sun Ra - Brainville
aufgenommen: 1957
Von der CD: Sun RA - Sun Song
Delmark Records
Marshall Allen: Das ist Sun Ra. Das war die Schallplatte, durch die ich von der Band erfuhr. Sie spielten damals schon ein paar Jahre. 1958 ging ich in einen Schallplattengeschäft in Chicago und der Verkäufer sagte zu mir “Hier, das muß du hören! Diese Sun Ra Band!” und legte diese Platte auf. Ich war erstaunt und antwortete: “Oh Mann, was ist das für eine Combo?” Der Verkäufer meinte, ich könnte Mitglied in dieser Gruppe werden. Sie würden auf der Southside wohnen und hielten immer Ausschau nach neuen Musikern. Also fragte ich herum und fand heraus, wo sie auftraten. Sie spielten in einer Bar. Ich ging mit einem Freund, einem Drummer, hin und wir fragten, ob wir mitspielen könnten. Aber so schnell ging das nicht. Sun Ra fing an, mit uns über Ägypten und den Weltraum zu reden, die Bibel und die Planeten. Wir fragten: “Wann können wir spielen?” Aber er ließ sich nicht beirren und redeten die ganze Nacht auf uns ein. Am nächsten Tag tauchten wir wieder auf und wieder nur: Talk, talk, talk! Doch eines Tages sagte er dann zu mir, ich solle in das Haus von John Gilmore kommen und er würde mir Privatunterricht geben. Sun Ra meinte, ich sollte mir eine Flöte besorgen. Also kaufte ich mir einen Flöte und fing an zu üben. Er brachte mir bei, wie seine Stücke zu interpretieren seien. Er gab mir Noten, aber erst die Interpretation erweckte die Kompositionen zum Leben. Nach einigen Wochen fing er einmal plötzlich zu spielen an und forderte mich auf, einzusteigen: “Spiel’ Melodien!”, sagte er. Ich spielte und eine Melodie nahm langsam Gestalt an, aus der das Stück “Spontaneous Simplicity” hervorging. So funktionierte das! Es dauerte Jahre, bis ich offiziell einen Platz in der Band bekam. Ich war immer da, jeden Tag, und schließlich wurde ich aufgenommen. Die Band traf sich jeden Tag, um zu proben. Die Proben war sehr lehrreich und inspirierend, weil die Band aus solch guten Musikern bestand. Dazwischen besuchte ich für ein Jahr die Musikhochschule, um meine Spieltechnik zu verbessern. Dann fiel die Band auseinander. Ein paar von uns zogen nach New York. Erst in New York baute Sun Ra wieder eine feste Gruppe auf. Dort wohnten wir in einem Haus zusammen.CW: Was war der Grund für das Gemeinschaftsleben?
Marshall Allen: Wir waren damals eine kleine Combo. Wir kamen aus Montreal und wollten Zwischenstation in New York machen, als ein Taxi unseren Wagen rammte und so beschädigte, dass wir nicht weiter konnten. Wir war Gestrandete. Es dauerte ungefähr ein Jahr bis das Geld von der Versicherung kam. In dieser Zeit saßen wir in New York fest. Also blieben wir dort! Es war am billigsten in einem Haus zusammen zu wohnen. Damals war viel los in New York. Es waren die frühen sechziger Jahre, eine tolle Zeit!
The Fabulous Paul Bley Quintet: Klactoveesedstene (komponiert von Charlie Parker)
Aufgenommen: 1958 in Los Angeles, mit Ornette Coleman, Altsaxofon und Don Cherry, Trompete
Von der LP: The Fabulous Paul Bley Quintet (America)
Marshall Allen: Das ist ein Stück von Charlie Parker. Als wir noch in Chicago lebten, kam Parker einmal in die Stadt und traf sich mit Sun Ra zu einem Gespräch.
CW: Auf dieser Aufnahme spielt Ornette Coleman das Altsaxofon.
Marshall Allen: Sicher, aber er spielt im Bebop-Stil. Ornette war einer der vielen Musiker, die in New York aktiv waren, als wir uns dort niederließen.
CW: Coleman spielte hier im Quintett von Paul Bley, mit dem sie 1965 ebenfalls Aufnahmen machten. Wie kam es dazu?
Marshall Allen: Paul Bley war Teil der New Yorker Szene und hatte eine Band. Es gab damals auf der Lower East Side ein breites Spektrum von Musik: Jazzgruppen, kubanische Combos, Latinbands. Es kochte. Man konnte als Musiker überall Arbeit finden. Ich spielte zeitweise mit Perez “Prez” Prado, dem “King of the Mambo”, und anderen Latingruppen. Auch von Highlife-Gruppen wurde ich engagiert. Und dann rief mich eines Tages Paul Bley an und fragte, ob ich bei den Aufnahmen mitmachen wollte. Klar machte ich mit, obwohl ich gleichzeitig in der Band von Sun Ra war. Das kam sich nicht in die Quere. Ich musste ja Geld verdienen und spielte mit jedem, der mich bezahlte. Trotzdem blieb ich Mitglied in der Sun Ra Gruppe, in der ich jetzt schon 50 Jahre spiele. Erst seit Sun Ra gestorben ist, nehme ich wieder mehr Engagements außerhalb des Arkestras an.
CW: Wie war das Leben als Mitglied des Arkestras?
Marshall Allen: Wir probten sieben Tage die Woche und das für Stunden. Sun Ra schrieb fortwährend Musik, brachte täglich neue Stücke mit, an denen wir uns versuchten. Jeden Tag kam er mit frischen Kompositionen an. Er schrieb Musik, wie andere Leute Briefe schreiben. Es war ein Full-Time-Job, alle diese Titel zu lernen. Da hatte man kaum Zeit für anderes. Das machten wir über Jahre so. Es war unsere tägliche Arbeit.
CW: In New York veränderte sich die Musik des Arkestras, wurde avantgardistischer?
Marshall Allen: Die meisten Avantgarde-Elemente kamen in den 60er Jahren in die Musik. Trotzdem wollten wir nicht die älteren Stilformen über Bord werfen. Sun Ra hatte mit Fletcher Henderson gespielt und liebte den alten Bigband-Stil. Er schrieb uns die Stücke auf den Leib. Er sagte: “Dieser Song ist für dich!” Deshalb gab man sein Bestes.
Ich fühle mich gesegnet, dass ich ihm begegnet bin und er mich unter seine Fittiche genommen hat. Er hatte eine starke Vision, wo er hin wollte und das brachte die Musik voran. Für mich war er ein Genie und wem ist es schon vergönnt, vierzig Jahre in der Gegenwart eines solchen Meisters zu verbringen.
CW: Gab es auch Probleme in der Band?
Marshall Allen: Natürlich, das ist wie in meiner Familie, mit meinen Kids. Da gibt es auch manchmal Krach. Es geht rauf und runter. Für mich war es ungeheuer wichtig, ihn getroffen zu haben. Das gab meinem Leben eine Richtung. Was wäre sonst aus mir geworden?
CW: Wir sah es finanziell aus? Brachten die Auftritte genügend ein?
Marshall Allen: Nie und nimmer! Wir hatten Nebenjobs, die Geld einbrachten. Ich arbeitete als Maler. Auch brachten die Gigs mit anderen Gruppen etwas Geld ein. Wir verdienten nie richtig viel. Trotzdem blieben wir zusammen. Es kam genügend herein, um zu essen und die Miete zu bezahlen. Es reichte, um über die Runden zu kommen.
Albert Ayler Trio: Ghosts
Von der CD: Albert Ayler Trio: Spiritual Unity
aufgenommen: 1964 in New York City
ESP-Disk
Marshall Allen: Das klingt wie albert Ayler. Er war damals in New York auf der Szene.
CW: Diese Platte “Spiritual Unity” ist auf dem Label ESP
erschienen, auf dem auch Sun Ra Schallplatten veröffentlichte.
Marshall Allen: Ja, wir machten ein paar Platten für andere Labels, aber Geld haben wir damit nicht verdient.
CW: War das der Grund euer eigenes Label Saturn zu gründen?
Marshall Allen: Sun Ra legte Wert darauf, unabhängig zu sein. Deshalb gründete er Saturn. Sein Prinzip war: Als Musiker muss man sich nicht nur um die Musik kümmern, sondern auch um das Geschäft. Musiker können ihre eigenen Schallplatten herausgeben. Es brachte ebenso wenig Geld ein, aber immerhin behielt man die Kontrolle. Das Arkestra war eine umfassende Organisation. Sun Ra komponierte die Stücke, wir spielten sie, nahmen sie auf, pressten unsere eigenen Platten, gestalteten die Cover und verkauften sie bei Konzerten. So lief das!
CW: In den 70er Jahren verließ die Band New York....
Marshall allen: Wir zogen nach Philadelphia, wo wir bis heute wohnen.
CW: Wie funktioniert die Band heute ohne Sun Ra? Wird immer noch jeden Tag geprobt?
Marshall Allen: Nein, das läuft nicht mehr so strikt. Wir proben vielleicht noch zwei, drei Mal in der Woche, um in Form zu bleiben. Ich habe neues Material geschrieben, und wir spielen auch Stücke aus dem Kompositionsbuch von Sun Ra, die wir neu interpretieren und neu arrangieren.
CW: Stoßen junge Musiker dazu?
Marshall Allen: Ja, wir haben einen jungen Gitarristen, eine Posaunisten und einen neuen Schlagzeuger. Unser Pianospieler Farid Barron wechselte von Wynton Marsalis zu uns. Das sind die einzigen in der Band, die nie mit Sun Ra gespielt haben. Alle anderen stammen aus der alten Sun Ra Manschaft.
CW: Werden die Jüngeren eines Tages die Band übernehmen?
Marshall Allen: Das nimmt seinen natürlichen Verlauf. Man macht es solange, bis man es an die Jüngeren weitergibt, die es hoffentlich weiterführen. Sun Ra übergab die Leitung an John Gilmore, dann übernahm ich die Führung. So wird es weitergehen. Wir unterrichten die Jungen, bringen ihnen die Musik bei, damit sie eines Tages mit der Band weitermachen
können.