Saturday, 25 May 2024

Der älteste noch aktive Jazzmusiker: Marshall Allen zum 100. Geburtstag

 Wir waren Gestrandete

Hörtest mit Marshall Allen (geboren am 25. Mai 1924), Altsaxofonist und Leiter des Sun Ra Arkestra

cw. Seit dem Tod von John Gilmore im Jahr 1995, der nach dem Ableben von Sun Ra 1993 die Leitung des Arkestras übernommen hatte, führt Marshall Allen die Band, der er seit 1960 angehört. Unter der Ägide des Altsaxofonisten, der auch Flöte und das elektronische EVI-Blasinstrument spielt, sind die Verhaltensregeln lockerer geworden. Im Backstage-Raum wird Bier getrunken, was zu Sun Ras Zeiten undenkbar gewesen wäre. “Wir müssen die verschiedensten Musikerpersönlichkeiten unter einen Hut bringen, junge wie alte, und das geht nur, indem man unterschiedliche Haltungen toleriert,” begründet Allen sein liberales Regime. “Und außerdem: Es geht ja vor allem darum, den günstigsten Rahmen zu schaffen, um die Talente und Fähigkeiten der Musiker optimal zur Geltung zu bringen.” Im Konzert sind dem Verteranen seine Jahren noch weniger anzumerken. Mit berstender Wucht, aber auch großer Leichtigkeit, spielt er sein Altsaxofon, tänzelt zum Rhythmus der Musik auf der Bühne herum und dirigiert die messerscharfen Einsätze der Bläsersektion in punktgenauer Manier.  


Sylvester Weaver & Walter Beasley: Bottleneck Blues
Aufgenommen: 1927
Von der LP: Bottleneck Blues - Guitar Classics 1926 - 1937
Yazoo Records 

Marshall Allen (summt mit): Ich weiss nicht, wer das ist.

CW: Das hätte mich auch verwundert. Es ist eine frühe Aufnahme von einem Bluesmusiker namens Sylvester Weaver, der aus ihren Geburtstadt Louisville, Kentucky stammt. Die Einspielung wurde 1927 gemacht, also drei Jahre nach ihrer Geburt. Mit welcher Art von Musik kamen sie in ihrer Kindheit in Berührung?

Marshall Allen: Das war genau solche Bluesmusik, aber auch Jazz von Fletcher Henderson und Louis Armstrong. Wir hörten diese Musik vor allem im Radio, aber auch manchmal “live”. Im Radio spielten Lionel Hampton und Benny Goodman. Das waren damals populäre Gruppen. Um das Rundfunkgerät versammelte sich die ganze Familie. Man hörte Nachrichten, Comedy-Sendungen oder Boxkampfübertragungen. Auf Bluesmusiker traf man überall. Sie spielten in Tavernen und Kneipen. Oft waren es Pianisten, die Blues spielten. Allerdings war ich damals noch zu jung, um hineingelassen zu werden. Deshalb trieben wir uns vor den Kneipen herum und versuchte von außen etwas zu hören. Die Eingangstür oder die Hintertür waren die Orte, wo wir herumhingen und  hofften, ein paar Takte aufzuschnappen. 
Als ich ein Teenager war, kam Fletcher Henderson in unsere Stadt. Er trat in einem Gemeindezentrum bei einer Tanzveranstaltung unserer Schule auf - also ich ging hin. Er kam nicht mit seiner Bigband, sondern mit einer kleineren Gruppe. Die Band machte einen riesigen Eindruck auf mich. Es war die erste Jazzcombo, die ich “live” erlebte - wow! Ich kann mich selbst nach so langer Zeit noch genau daran erinnern.

James Moody: Bunny Boo
Aufgenommen 1961 in San Francisco
Von der CD: James Moody: At the Jazz Workshop
Chess / Universal

Marshall Allen: Hmmm? Tenorsaxofon? Schwierig!

CW: Das ist James Moody!

Marshall Allen: Oh, das ist Moody! Kann ich noch mehr hören? (Er tappt den Beat mit dem Fuß mit, schnippst mit den Fingern und klatscht in die Hände) Das ist ein Altsaxofon, das er hier spielt. Ich spielte mit James Moody sehr früh in meiner Laufbahn und machte eine Schallplattenaufnahme mit ihm. Ich war damals bei der Armee, stationiert in Paris, so um 1948. Ich spielte mit einer kleinen Band von Kollegen der Militärkapelle auf einem Jazzfestival in München, wo auch James Moody auf dem Programm stand, der alleine kam, und wir ihn deshalb begleiteten. Das klappte so gut, dass wir danach in der Schweiz eine Einspielung machten.

CW: Welche Rolle spielte die Armee für ihre musikalische Entwicklung?

Marshall Allen: Oh, eine sehr wichtige. Erst  in der Militärkapelle begann ich mein Instrument ernsthaft zu erlernen. Ich meldete mich freiwillig. Es war ein Orchester von 28 Musikern. Ich konnte damals schon etwas Saxofon spielen. In der Schule hatte ich damit begonnen. Doch wollte ich auch Klarinette lernen, weil es damals viele tolle Klarinettenspieler gab etwa in der Band von Duke Ellington - aber in der Schule hatten sie nur noch eine Oboe. Also spielte ich Oboe. Das war harte Arbeit. Man braucht starke Lippen, muss viel üben. Das war nicht mein Fall. Erst bei der Armee bekam ich dann eine Klarinette und lernte darauf zu spielen.

Sun Ra - Brainville
aufgenommen: 1957
Von der CD: Sun RA - Sun Song
Delmark Records

Marshall Allen: Das ist Sun Ra. Das war die Schallplatte, durch die ich von der Band erfuhr. Sie spielten damals schon ein paar Jahre. 1958  ging ich in einen Schallplattengeschäft in Chicago und der Verkäufer sagte zu mir “Hier, das muß du hören! Diese Sun Ra Band!” und legte diese Platte auf. Ich war erstaunt und antwortete: “Oh Mann, was ist das für eine Combo?” Der Verkäufer meinte, ich könnte Mitglied in dieser Gruppe werden. Sie würden auf der Southside wohnen und hielten immer Ausschau nach neuen Musikern. Also fragte ich herum und fand heraus, wo sie auftraten. Sie spielten in einer Bar. Ich ging mit einem Freund, einem Drummer, hin und wir fragten, ob wir mitspielen könnten. Aber so schnell ging das nicht. Sun Ra fing an, mit uns über Ägypten und den Weltraum zu reden, die Bibel und die Planeten. Wir fragten: “Wann können wir spielen?” Aber er ließ sich nicht beirren und redeten die ganze Nacht auf uns ein. Am nächsten Tag tauchten wir wieder auf und wieder nur: Talk, talk, talk! Doch eines Tages sagte er dann zu mir, ich solle in das Haus von John Gilmore kommen und er würde mir Privatunterricht geben. Sun Ra meinte, ich sollte mir eine Flöte besorgen. Also kaufte ich mir einen Flöte und fing an zu üben. Er brachte mir bei, wie seine Stücke zu interpretieren seien. Er gab mir Noten, aber erst die Interpretation erweckte die Kompositionen zum Leben. Nach einigen Wochen fing er einmal plötzlich zu spielen an und forderte mich auf, einzusteigen: “Spiel’ Melodien!”, sagte er. Ich spielte und eine Melodie nahm langsam Gestalt an, aus der das Stück “Spontaneous Simplicity” hervorging. So funktionierte das! Es dauerte Jahre, bis ich offiziell einen Platz in der Band bekam. Ich war immer da, jeden Tag, und schließlich wurde ich aufgenommen. Die Band traf sich jeden Tag, um zu proben. Die Proben war sehr lehrreich und inspirierend, weil die Band aus solch guten Musikern bestand. Dazwischen besuchte ich für ein Jahr die Musikhochschule, um meine Spieltechnik zu verbessern. Dann fiel die Band auseinander. Ein paar von uns zogen nach New York. Erst in New York baute Sun Ra wieder eine feste Gruppe auf. Dort wohnten wir in einem Haus zusammen.
CW: Was war der Grund für das Gemeinschaftsleben?

Marshall Allen: Wir waren damals eine kleine Combo. Wir kamen aus Montreal und wollten Zwischenstation in New York machen, als ein Taxi  unseren Wagen rammte und so beschädigte, dass wir nicht weiter konnten. Wir war Gestrandete. Es dauerte ungefähr ein Jahr bis das Geld von der Versicherung kam. In dieser Zeit saßen wir in New York fest. Also blieben wir dort! Es war am billigsten in einem Haus zusammen zu wohnen. Damals war viel los in New York. Es waren die frühen sechziger Jahre, eine tolle Zeit!

The Fabulous Paul Bley Quintet: Klactoveesedstene (komponiert von Charlie Parker) 
Aufgenommen: 1958 in Los Angeles, mit Ornette Coleman, Altsaxofon und Don Cherry, Trompete
Von der LP: The Fabulous Paul Bley Quintet (America)

Marshall Allen: Das ist ein Stück von Charlie Parker. Als wir noch in Chicago lebten, kam Parker einmal in die Stadt und traf sich mit Sun Ra zu einem Gespräch.

CW: Auf dieser Aufnahme spielt Ornette Coleman das Altsaxofon.

Marshall Allen: Sicher, aber er spielt im Bebop-Stil. Ornette war einer der vielen Musiker, die in New York aktiv waren, als wir uns dort niederließen.

CW: Coleman spielte hier im Quintett von Paul Bley, mit dem sie 1965 ebenfalls Aufnahmen machten. Wie kam es dazu?

Marshall Allen: Paul Bley war Teil der New Yorker Szene und hatte eine Band. Es gab damals auf der Lower East Side ein breites Spektrum von Musik: Jazzgruppen, kubanische Combos, Latinbands. Es kochte. Man konnte als Musiker überall Arbeit finden. Ich spielte zeitweise mit Perez “Prez” Prado, dem “King of the Mambo”, und anderen Latingruppen. Auch von Highlife-Gruppen wurde ich engagiert. Und dann rief mich eines Tages Paul Bley an und fragte, ob ich bei den Aufnahmen mitmachen wollte. Klar machte ich mit, obwohl ich gleichzeitig in der Band von Sun Ra war. Das kam sich nicht in die Quere. Ich musste ja Geld verdienen und spielte mit jedem, der mich bezahlte. Trotzdem blieb ich Mitglied in der Sun Ra Gruppe, in der ich jetzt schon 50 Jahre spiele. Erst seit Sun Ra gestorben ist, nehme ich wieder mehr Engagements außerhalb des Arkestras an. 

CW: Wie war das Leben als Mitglied des Arkestras?

Marshall Allen: Wir probten sieben Tage die Woche und das für Stunden. Sun Ra schrieb fortwährend Musik, brachte täglich neue Stücke mit, an denen wir uns versuchten. Jeden Tag kam er mit frischen Kompositionen an. Er schrieb Musik, wie andere Leute Briefe schreiben. Es war ein Full-Time-Job, alle diese Titel zu lernen. Da hatte man kaum Zeit für anderes. Das machten wir über Jahre so. Es war unsere tägliche Arbeit.

CW: In New York veränderte sich die Musik des Arkestras, wurde avantgardistischer? 

Marshall Allen: Die meisten Avantgarde-Elemente kamen in den 60er Jahren in die Musik. Trotzdem wollten wir nicht die älteren Stilformen über Bord werfen. Sun Ra hatte mit Fletcher Henderson gespielt und liebte den alten Bigband-Stil. Er schrieb uns die Stücke auf den Leib. Er sagte: “Dieser Song ist für dich!” Deshalb gab man sein Bestes.
Ich fühle mich gesegnet, dass ich ihm begegnet bin und er mich unter seine Fittiche genommen hat. Er hatte eine starke Vision, wo er hin wollte und das brachte die Musik voran. Für mich war er ein Genie und wem ist es schon vergönnt, vierzig Jahre in der Gegenwart eines solchen Meisters zu verbringen.

CW: Gab es auch Probleme in der Band?

Marshall Allen: Natürlich, das ist wie in meiner Familie, mit meinen Kids. Da gibt es auch manchmal Krach. Es geht rauf und runter. Für mich war es ungeheuer wichtig, ihn getroffen zu haben. Das gab meinem Leben eine Richtung. Was wäre sonst aus mir geworden? 

CW: Wir sah es finanziell aus? Brachten die Auftritte genügend ein? 

Marshall Allen: Nie und nimmer! Wir hatten Nebenjobs, die Geld einbrachten. Ich arbeitete als Maler. Auch brachten die Gigs mit anderen Gruppen etwas Geld ein. Wir verdienten nie richtig viel. Trotzdem blieben wir zusammen. Es kam genügend herein, um zu essen und die Miete zu bezahlen. Es reichte, um über die Runden zu kommen.

Albert Ayler Trio: Ghosts
Von der CD: Albert Ayler Trio: Spiritual Unity
aufgenommen: 1964 in New York City
ESP-Disk

Marshall Allen: Das klingt wie albert Ayler. Er war damals in New York auf der Szene.

CW: Diese Platte “Spiritual Unity” ist auf dem Label ESP
erschienen, auf dem auch Sun Ra Schallplatten veröffentlichte. 

Marshall Allen: Ja, wir machten ein paar Platten für andere Labels, aber Geld haben wir damit nicht verdient.

CW: War das der Grund euer eigenes Label Saturn zu gründen?

Marshall Allen: Sun Ra legte Wert darauf, unabhängig zu sein. Deshalb gründete er Saturn. Sein Prinzip war: Als Musiker muss man sich nicht nur um die Musik kümmern, sondern auch um das Geschäft. Musiker können ihre eigenen Schallplatten herausgeben. Es brachte ebenso wenig Geld ein, aber immerhin behielt man die Kontrolle. Das Arkestra war eine umfassende Organisation. Sun Ra komponierte die Stücke, wir spielten sie, nahmen sie auf, pressten unsere eigenen Platten, gestalteten die Cover und verkauften sie bei Konzerten. So lief das!

CW: In den 70er Jahren verließ die Band New York....

Marshall allen: Wir zogen nach Philadelphia, wo wir bis heute wohnen.

CW: Wie funktioniert die Band heute ohne Sun Ra? Wird immer noch jeden Tag geprobt? 

Marshall Allen: Nein, das läuft nicht mehr so strikt. Wir proben vielleicht noch zwei, drei Mal in der Woche, um in Form zu bleiben. Ich habe neues Material geschrieben, und wir spielen auch Stücke aus dem Kompositionsbuch von Sun Ra, die wir neu interpretieren und neu arrangieren. 

CW: Stoßen junge Musiker dazu?

Marshall Allen: Ja, wir haben einen jungen Gitarristen, eine Posaunisten und einen neuen Schlagzeuger. Unser Pianospieler Farid Barron wechselte von Wynton Marsalis zu uns. Das sind die einzigen in der Band, die nie mit Sun Ra gespielt haben. Alle anderen stammen aus der alten Sun Ra Manschaft.

CW: Werden die Jüngeren eines Tages die Band übernehmen?

Marshall Allen: Das nimmt seinen natürlichen Verlauf. Man macht es solange, bis man es an die Jüngeren weitergibt, die es hoffentlich weiterführen. Sun Ra übergab die Leitung an John Gilmore, dann übernahm ich die Führung. So wird es weitergehen. Wir unterrichten die Jungen, bringen  ihnen die Musik bei, damit sie eines Tages mit der Band weitermachen 
können.

Friday, 24 May 2024

Heute wird Bob Dylan 83 Jahre alt

 Hey, Mr. Tambourine Man!


Bob Dylan wird 83 – alte Weggefährten, jüngere Liedermacher und besessene Dylan-Verehrer erinnern sich an Begegnungen mit ihm und seiner Musik  



cw. Eigentlich heisst er Robert Zimmerman, doch alle kennen ihn unter dem Namen: Bob Dylan! Vom Schriftsteller Dylan Thomas, den er verehrte, hat er sich den Namen entlehnt. Bob Dylan kam 1961 nach New York, wo er in den Folkclubs von Greenwich Village für Furore sorgte. Mit Songs wie “Blowing in the Wind”,  “Mr. Tambourine Man”, und “The Times They are a Changin” machte er weltweit Karriere und galt bald als die Stimme seiner Generation. Seitdem hat Bob Dylan immer wieder mit neuen Alben aufhorchen lassen und sich vielleicht als der größte Liedermacher aller Zeiten in die Annalen der Popmusik eingetragen. Am 24. Mai 2024 wird er 83 Jahre alt. Christoph Wagner hat alte Weggefährten und –gefährtinnen befragt, auch jüngere Kollegen und Bewunderer sowie Dylan-Experten, um ein Bild von diesem letzten Superstar des Pop zu gewinnen. 

Carolyn Hester, Los Angeles (Folksängerin, auf deren erstem Album Bob Dylan 1961 mitwirkte. Es war seine erste Schallplattenaufnahme)

Image result for bob dylan carolyn hester photo“Ich war mit Bob Dylans Freundin Suze Rotolo eng befreundet und wir verbrachten viel Zeit zusammen, manchmal bei Konzerten. Als ich erwähnte, dass ich eine Schallplatte für Columbia Records machen würde, bekundete Bob Dylan sein Interesse, als Gitarrist dabei zu sein. Das Problem war:  Wir hatten bereits einen Gitarristen! Deshalb luden wir ihn als Mundharmonikaspieler zu den Aufnahmen ein. So lernte er den Produzenten John Hammond von Columbia Records kennen, der ihn dann unter Vertrag nahm.”

Happy Traum, Woodstock, USA (Folkmusiker und einstiger Nachbar von Bob Dylan)

“Ich traf Bob Dylan 1962 in Greenwich Village in Downtown Manhattan. Ich sang damals in der Folkgruppe The New World Singers. Bob Dylan mochte die Band. Er kam zu unseren Auftritten und gab uns Lieder von ihm zum Singen. Er war damals noch völlig unbekannt. 1963 war ich dann zum ersten Mal mit ihm im Studio. Wir nahmen Lieder zur Unterstützung der Zeitschrift “Broadside Magazine” auf, einem wichtigen Organ der Folkbewegung. Die New World Singers sangen Dylans “Blowing in the Wind” - die erste Einspielung des Titels! Er war im Studio dabei. Bei der gleichen Session sang ich mit ihm im Duett: “Let me die in my footsteps”. Ich sang die Führungsstimme, er die Begleitung, dazu spielte er Gitarre. Ein paar Jahre später zog ich mit meiner Familie raus aufs Land, nach Woodstock im Bundesstaat New York, wo auch Bob Dylan mit seiner Familie lebte. Damals gab es viele Musiker in Woodstock, eine richtige Künstlergemeinde.
Wir freundeten uns mit Dylans Familie an, besuchten uns oft und machten privat Musik zusammen. Er war sehr umgänglich. Bob Dylan war eine recht komplexe Persönlichkeit. In Woodstock lebte er sehr zurückgezogen von der Öffentlichkeit. Die Schallplatten, die er damals machte wie “John Wesley Harding”, spiegelten dieses ruhige Leben auf dem Land wider. 1973 machte ich ein zweites Mal Aufnahmen mit ihm: Wir gingen in New York ins Studio seiner Plattenfirma Columbia und nahmen vier Titel auf. Als er dann 1973 nach Kalifornien zog, brach der Kontakt etwas ab, obwohl ich ihn auch später noch ein paar Mal traf.” 



Peter Stampfel, New York (Folk-Veteran mit den Holy Modal Rounders)

“Das erste Mal als ich Dylan sah, wusste ich nicht, wer er war: ein junger Bursche mit Stiefeln und einer Mütze auf, der nach Greenwich Village in Manhattan gekommen war, um ein bisschen Gitarre zu spielen. Ein paar Wochen später ging ich abends am Folkclub “Folk City” vorbei und sah durch das Fenster, wie er dort auf der Bühne stand mit seinem Mundharmonikahalter. Ich hörte nichts durch die Scheiben, konnte aber an seinen Bewegungen erkennen, dass er richtig Gitarren spielen konnte. Als ich ihn dann kurze Zeit später auf der Bühne erlebte, erstaunte mich sein Gesangstil, diese Mischung aus Rock ’n’ Roll und traditionellem Hillbilly-Singen. Er war in der Lage, diese beiden Stile zu verbinden. Er sang das gleiche Repertoire wie alle anderen Folksänger: alte traditionelle Lieder etwa von Woody Guthrie. Keiner erinnert sich mehr daran, aber am Anfang seiner Karriere alberte und kasperte Dylan auf der Bühne herum. Er hüpfte und bewegte sich wie ein unreifes Kind. Erst als er seine Mütze abnahm, hörte er auf, ein Clown zu sein.” 

Jeffrey Lewis, New York (Anti-Folk-Songwriter und Bandleader)

“Bob Dylan habe ich das erste Mal gehört, als ich so 14 oder 15 war und gerne im Radio klassische Rockmusik hörte. Damals entdeckte ich all diese tolle Musik aus den Sechzigern. Bestimmte Lieder von Bob Dylan, die romantisch-schnulzigen, gefielen mir nicht. Das ist auch heute noch so. Aber eines Nachts hörte ich ”Ballad of a Thin Man” im Radio, und der Song zog mich in den Bann. Das Lied war lustig und verrückt. Darin kam eine einäugige Schnake vor. Jede Zeile war voller Überraschungen, wobei die Musik ziemlich cool klang, düster, schwer und bedrückend. Plötzlich fand ich Bob Dylan interessant. Ich schaute die Plattensammlung meiner Eltern durch. Sie hatten das betreffende Album und noch zwei oder drei andere Dylan-LPs. Ich überspielte sie auf Cassette und hörte sie jeden Morgen auf dem Weg zur Schule mit meinem Walkman in der U-Bahn. Was für tolle Musik! Seine romantischen Lieder sagen mir bis heute nichts, aber die lustigen, verrückten Songs sind voller Spaß, Brillanz und Energie. Bis heute gefällt mir der frühe Dylan am besten, diese wilde akustische Musik, auch wenn manche Leute meinen, er könnte nicht singen. Ich finde seine Stimme klingt jung und wild. Mit der Zeit beschaffte ich mir mehr und mehr Alben von Bob Dylan und finde, dass auf allen gute Musik ist.”

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Alex Neilson, Glasgow (Schlagzeuger, Sänger und Liederschreiber der Trembling Bells und von Crying Lion)

“Ich kam ziemlich spät auf Bob Dylan. Das erste Mal, dass mich seine Musik wirklich ergriff, war, als ich eine ‘Live’-Platte von ungefähr 1965 hörte. Es klang, als ob die Reiter der Apokalypse aus der Lautsprechern kämen. Ich bemerkte dann, dass es das berühmte “Judas”-Konzert war, wo Dylan als Verräter gescholten wurde, weil er elektrische und nicht akustische Gitarre spielte. Das war revolutionäre Musik in jeder Hinsicht. Von da an wurde Bob Dylan eine Obsession von mir. Ich begriff, dass seine Größe mit seiner Unergründlichkeit zusammenhängt. Je mehr man über ihn zu wissen glaubt, je mysteriöser wird der Mann.”

 Pete Coward, London (Musikjournalist und Dylan-Kenner)

“Bob Dylan inspiriert, weil er ein Genie mit Fehlern ist, und solche Fehler braucht es, um ein Genie zu sein. Er folgt den Worten von Leonard Cohen: "In jedem Ding ist ein Riß. Erst dadurch kommt Licht herein.” Deshalb erstaunt es nicht, dass seine beiden Versionen vom Song “Forever Young” ziemlich verschieden sind -  es verwundert nur. Doch Dylan sucht alles immer und immer wieder auf und überarbeitet es: seine Lieder, seine Stimme, sein Glaube. Und das macht er bis heute im Alter von 75 Jahren. Nicht weil er auf der Suche nach Perfektion ist, sondern weil es die ihm zugewiesene Rolle ist, als fehlerhaftem Genie und menschlichem Wesen.”

 Michael Moravek, Ravensburg (Sänger und Gitarrist der Planeausters)

“Es passierte in der Küche in der Richthofenstrasse in Balingen. Ich war 13 und mein Bruder rief mich ans Radio. Es kam gerade “Are You Ready”. Die Stimme elektrisierte mich, sie schien direkt aus einer Menschenseele heraus zu kommen und unterschied sich von allem, was ich bis dahin gehört hatte. Sie klang seltsam vertraut und verhakte sich in mir. Als heranwachsender Mensch konnte ich keine Wurzeln entwickeln, die sich an Orte festmachten. Durch Dylan habe ich damals meine eigene Sprache gefunden - nicht nur als Songwriter -, die mir ersatzweise zur Heimat geworden ist. Einer seiner großartigsten Songs? Covenant Woman. ‘You know that we are strangers / in a land we’re passing through’.”

Sunday, 12 May 2024

LAUTyodeln 2024

Polyphon-verschlungene Gesänge

Eindrücke vom Festival LAUTyodeln, Vol. 3, München

Traudi Siferlinger und ihre Geschwister (Foto: C.Wagner)


Zum dritten Mal ging vom 9. – 11. Mai in München das LAUTyodeln-Festival über die Bühne, das sich vorgenommen hat, das Jodeln in seiner ganzen Vielfalt auf die Bühne zu bringen. Bei dieser Edition lag der Schwerpunkt auf zeitgenössischen Formen dieses besonderen Gesangstils, den man in unseren Breiten vor allem aus den Alpen kennt. 

Ein Abstecher in die traditionellen Gefilde des sich überschlagenden Singens bot am Eröffnungsabend Traudi Siferlinger und ihre beiden Geschwister im Münchner Traditionlokal "Fraunhofer". Als Vertreter des oberbayerischen "Dreigesangs" gaben sie textlose Jodler zum Besten, stimmten daneben auch alte Jodellieder an und spielten zudem instrumentale Jodler auf Geige, Gitarre und "Ziech", wie man die Handharmonika in Bayern nennt. Diese langsamen, oft fast meditativen Gesänge besitzen häufig eine melancholische Qualität, wobei es Traudi Siferlinger glänzend verstand, das zahlreiche Publikum singend in ihren Auftritt einzubeziehen.

Ausgehend von der Tradition nahm am nächsten Abend die Schweizer Vokalistin Nadja Räss die Zuhörer auf eine "Stimmreise.ch" mit, wie der Name ihres vierköpfigen, rein weiblichen A-Cappella-Ensembles lautet. Die Vokalexkursion führte bis in avantgardistisches Terrain, wobei die Dramaturgie des Auftritts so wunderbar durchdacht und ausblanciert war, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Juchzer, Zäuerli und Naturjodeltechniken in hochkomplexen Kompositionen zum Zuge kam. 

Mit dadaistischem Klamauk begann einen Tag später die Gruppe Opas Diandl aus Südtirol ihre Vorstellung, um nach etlichen Minuten doch noch die Kurve zu ihren ernsteren Songs zu kriegen. In diesen polyphon-verschlungenen Gesängen, die durch die Begleitung von Saiteninstrumenten wie der Viola da Gamba und einer dumpfer Trommel gelegentlich an Renaissance-Musik erinnerten, erreichte die Gruppe eine Tiefe und poetische Kraft, die berührte und direkt ins Herz ging.

Ernst Molden mit Maria Petrova (Schlagzeug) (Foto: C.Wagner)

Einen Umweg über die USA nahm der bekannte österreichische Liedermacher Ernst Molden, der sein spezielles "Yodelling"-Programm mit Adaptionen alter Hillbilly-Evergreens gestaltete, deren Texte er frei ins Weanerische überträgt. Da erlebten dann ein paar Jimmie-Rodgers-Songs aus den späten 1920er Jahren ihre Auferstehung im Dialekt der österreichischen Hauptstadt. Daneben stimmte der Troubadour, unterstützt von der Schlagzeugerin Maria Petrova, alte Schlachtrößer wie den "St. James Infirmary Blues" an, den Molden auf die zweifelhafte Reputation eines Hospitals seiner Heimatstadt Wien bezog. 

Unbefangene Hörer mögen der Auffassung sein, dass so viel Jodeln auf die Dauer doch schwer erträglich sein müsste, ein Einwand, der prinzipiell sticht, den aber auch die Künstler in ihr Kalkül einbeziehen. Deshalb setzten sie die Jodel häufig eher als Zutat ein, mit denen man ein Programm würzt, ohne sie in Penetranz in den Mittelpunkt zu stellen. 

Opas Diandl (Foto: C. Wagner)


Insgesamt ein gelungenes Festival, das allerdings etwas Schlagseite in Richtung moderner Jodel-Adaptionen besaß. Man sollte – und da beziehe ich mich als Beteiligter bei der Programmgestaltung selbstkritisch mit ein – über all den zeitgenössischen Mischformen das Alte nicht vergessen. Weil es kaum noch jemand kennt, könnte es die Entdeckung des wirklich Neuen sein.

Wednesday, 8 May 2024

Kühn mit 80

Eine Nummer für sich – Joachim Kühn zum 80sten

Joachim Kühn, 1970 


Joachim Kühn, der deutsche Jazzpianist mit internationalem Renommee (er hat immerhin mit Ornette Coleman ein Album eingespielt), ist diesen März 80 Jahre alt geworden. Um seinen Geburtstag öffentlich zu feiern, gibt er gerade ein paar Konzerte, bei denen er mit seinem Trio (Eric Schäfer, Drums & Chris Jennings, Baß) zu hören ist, und sich zudem den jüngeren Pianokollegen Michael Wollny ins Boot geholt hat. Im Stuttgarter Theaterhaus eröffneten die beiden an zwei Flügeln den Abend.

Mit zehn Fingern kann ein Virtuose am Klavier alleine wie ein vielstimmiges Ensemble klingen, zwei Pianisten beinahe wie ein ganzes Orchester. Diese Möglichkeiten nutzten Kühn und Wollny, indem sie streckenweise Cecil-Taylor-artig voll in die Tasten griffen und einen brausenden Strom aus Tönen erzeugten, der an- und abschwoll, sich ausdünnte und wieder verdichtete, um sich im Crescendo in dynamischen Eruptionen zu entladen. Wie bei einem ausdauernden Regenguß ließen die beiden die Töne und Noten nur so purzeln und prasselten und arbeiteten sich mit längeren Improvisationen von einer kurzen, kantigen Unisono-Passage zur nächsten vor. Mehr Raum, mehr Pausen hätten der Musik gut getan. In diesem Fall kann man die generelle Kritik von Brian Eno am Jazz nachvollziehen: Zu viele Töne!

In der zweiten Halbzeit des Abends spielte sich dann Altmeister Kühn durch Stücke seiner drei letzten Alben mit seinem aktuellen Trio, was deutlich jazzigere Züge trug als die neo-klassische Pianomusik der ersten Halbzeit. Eric Schäfer am Schlagzeug und Chris Jennings am Baß gaben die kongenialen Partner, die einfühlsam die Improvisationen ihres Chefs zu begleiten wußten, aber auch selbstbewußt eigene Akzente setzen. Hier verlief die Reise gelegentlich in eher impressionistisches, besinnliches Terrain – es wurde eine Balladenmelodie angestimmt und in feinen Linien weitergesponnen. Erwähnenswert, weil auffällig: die superbe Lichtregie des Abends, die so dezent wie abwechslungsreich der Musik eine zusätzliche Dimension gab.

Das Joachim Kühn Trio, Theaterhaus 2024 (Foto: Jane Revitt)


Für meinen Teil hätte ich gerne auf das obligatorische Schlagzeug- bzw. Baß-Solo verzichtet, das ja normalerweise nichts mit der jeweiligen Komposition zu tun hat, sondern allein die technischen Fertigkeiten des jeweiligen Musikers zur Schau stellt und ausschließlich der demokratischen Attitüde geschuldet ist, dass auch die beiden Begleiter – die Wasserträger des Solisten – es verdienen, einmal im Vordergrund zu stehen. Geschenkt!  Die Qualität eines Begleiters offenbart sich in der Begleitung.

Im letzten Stück des Abends verstärkte dann Michael Wollny einmal mehr die pianistische Wucht, wobei Geburtstagskind Kühn die Zugabe als Solist bestritt. Ob er seinen 85sten Geburtstag wieder hier feiern würde? "Wir werden sehen", war die sybillinische Antwort des vitalen Oldies, der in seiner Person 60 Jahre deutsche Jazzgeschichte verkörpert. Mir war er das erste Mal 1973 beim Flute Summit der Donaueschinger Musiktage begegnet, wo er mit John Lee (Kontrabaß) und Aldo Romano (Drums) eine derart superbe Rhythmusgruppe bildete, dass sie mir bis heute in Erinnerung geblieben ist. Schon damals war Kühn eine Nummer für sich – wagemutig, hochvirtuos und doch einfühlsam: kühn eben im wahrsten Sinne des Wortes!


Monday, 6 May 2024

Alexis Korner – zum 40ster Todestag

Alexis Korners Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen Jazzpianisten Chris McGregor (Brotherhood of Breath) 


Auf dem Flohmarkt fiel mir neulich ein Album in die Hände, von dem ich nicht wußte, dass es überhaupt existiert. 1970 aufgenommen, 1971 veröffentlicht, handelt es sich um eine LP des englischen Bluesbarden Alexis Korner, das eine interessante Besetzung aufweist: Neben Larry Power (Gitarre) und Jack Brooks (Drums) stechen Colin Hodgekinson (Baß) ins Auge und vor allem der Pianist Chris McGregor, der Mitte der 1960er Jahre mit The Blue Notes aus Südafrika zuerst in die Schweiz, dann nach Großbritannien gekommen war und dort mit der Brotherhood of Breath Furore machte. Colin Hodgekinson sollte mit der Gruppe Backdoor kurze Zeit später eine kometenhafte Karriere hinlegen. 




Es ist eine typische Alexis-Korner-Platte (auf Philips erschienen) mit dem für ihn so typischen Mix aus Rhythm 'n' Blues, Gospel, Folk und Country Blues, der auch seine Konzerte ausmachte – vorzüglich mit ungekünsteltem Gesang und solider Begleitung in Szene gesetzt. Korner war damals häufig in Südwestdeutschland unterwegs, spielte in der Balinger Eberthalle mit Peter Thorup und in Tübingen mit seiner Band Snape. Neben ein paar eigenen Nummern, findet sich auch ein Cover des "Stump Blues" von Big Bill Broonzy auf dem Album und – überraschenderweise – der Song "Saturday Sun" des englischen Folkbarden Nick Drake. Alexis Korner, der als Vater des weißen Blues in Europa galt, ist vor 40 Jahren im Alter von 55 Jahren verstorben. 

Mehr dazu: