Tuesday, 24 December 2024

Clemens Kuratle – Drummer / Composer

Alles für den Song

Der Schlagzeuger und Komponist Clemens Kuratle und sein Ensemble YDIVIDE 


Foto: Palma Fiacco


 

Im Jazz sind Schlagzeuger generell eher Sideman als Bandleader. Natürlich gibt es Ausnahmen, und nicht wenige: Buddy Rich, Art Blakey, Max Roach und Tony Williams können als die bekanntesten gelten. Auch Chico Hamilton, Elvin Jones, Paul Motian, Pierre Favre, Gerry Hemingway oder Fredy Studer haben eigene Gruppen geleitet. Gelegentlich hört man diesen Ensembles an, dass ein Drummer Regie führt. Denn Schlagzeuger ticken anders – denken tendenziell eher in Metren, Zeiteinheiten und Taktzahlen. Deshalb komponieren Schlagzeuger üblicherweise anders als Pianisten oder Saxofonisten, mehr von Rhythmen, Beats und Trommelmustern ausgehend.

 

Doch auch hier gibt es Ausnahmen. Der Schweizer Clemens Kuratle – Schlagzeuger und Komponist – ist eine von ihnen. Die Kompositionen, die er für seine Gruppe YDIVIDE (englisch ausgesprochen als «Why Divide!?») entwirft, sind singbar, um starke Melodien gebaut. Kuratle (Jahrgang 1991) spricht dann auch nicht von Stücken, sondern von Songs – Lieder ohne Texte: „Die Melodien, die mir zufliegen, bringe ich in eine Form, wobei mir wesentlich ist, dass der emotionale Gehalt gewahrt bliebt. Wichtig ist, eine Struktur zu finden, die auch der Improvisation Raum bietet und zur Spontanität ermuntert. Stets ist die letzte Frage, die ich mir beim Komponieren stelle: «Was mache ich mit dem Schlagzeug?» Mir geht es primär nicht um die Drums, sondern um die Musik, die ich im Kopf höre und die ich dann zu realisieren versuche.“  

 

So gesehen, ist es für einen Jazzdrummer wie Kuratle überraschend, wenn auch nicht unbedingt verwunderlich, dass er Größen des amerikanischen Songwriting als wichtige Inspirationsquellen nennt, ob Bob Dylan, Tom Petty oder Jeff Tweedy von Wilko, der Americana-Band aus Chicago, der mit Nels Cline ein ausgewiesener Avantgarde-Jazz-Gitarrist angehört und mit Glenn Kotche ein exquisiter Schlagwerker.  

 

Neben der Singer-Songwriter-Tradition gibt es noch weitere Einflüsse, die Kuratle phasenweise fast obsessiv erkundet: ethnische Musikstile in frühen Feldaufnahmen, natürlich auch Jazz, wobei er Drummer wie Brian Blade oder Hamid Drake sowie den Altsaxofonisten Tim Berne als Vorbilder nennt. Dazu kommt die Faszination für zeitgenössische E-Musik, für Electronica und Pop. Kurz: das ganze Spektrum aktueller Klänge. 


Foto: Palma Fiacco

 

Beim Komponieren zahlen sich die Erfahrungen aus, die Kuratle als Begleiter in diversen Gruppen gesammelt hat oder in der Begegnung mit anderen Musikern und Musikerinnen. So spielt er Schlagzeug im Quartett der Harfenistin Julie Campiche aus Genf, begleitet mit seinem Trommelspiel die Avant-Pop-Vokalistin Kate Birch (bürgerlich: Laura Schuler) und betreibt neben YDIVIDE noch das Jazzquintett Murmullo, mit komplett anderer Besetzung. 

 

Bei YDIVIDE stellt Kuratle sein Schlagzeugspiel ganz in den Dienst der Songs. Es geht ihm darum, für den jeweiligen Titel die bestmöglichen Schlagmuster zu finden, weshalb er eher groove-orientiert trommelt, mit Repetition als wichtigem Grundelement. Da ist ein hohes Maß an Disziplin und Zurückhaltung gefordert, um den Verlockungen der Virtuosität zu widerstehen. Keine Trommelakrobatik – please! –, vielmehr ist die Intention, für jede Komposition den optimalen rhythmischen Rahmen zu finden, der den Titel zum Leuchten bringt. Der Song ist das Ziel, nicht die Zurschaustellung turbo-artistischer Trommelkünste.

 

Wenn Kuratle an neuen Stücken arbeitet, bilden die Mitglieder von YDIVIDE den ultimativen Bezugsrahmen. Der Komponist denkt sie mit, wenn er aus einer Melodie einen Song entwickelt. Er schneidert seine Stücke den Musikern und der Musikerin seiner Band auf den Leib – maßgerecht. „Ich habe beim Komponieren immer meine Leute im Ohr“, sagt er. Er kennt ihre Stärken, Fähigkeiten und Vorlieben und versucht sie maximal zu nutzen, d.h. ihnen auch den Freiraum zu gewähren, ihre Talente uneingeschränkt zur Entfaltung zu bringen. 


Foto: Promo

 

Die Mitglieder von YDIVIDE kennen sich schon länger. „Lukas Traxel (Kontrabaß) und Chris Guilfoyle (E-Gitarre) aus Irland habe ich beim Jazzstudium in Luxern getroffen,“ erzählt Kuratle. „Dem englischen Pianisten und Elektroniker Elliot Galvin bin ich auf dem 12-Points-Festival in Dublin begegnet, wo er mich schwer beeindruckt hat, während ich die Saxofonistin Dee Byrne aus London an der Jazzwerkstatt Bern kennengelernt habe.“ 

 

Zum Entspannen und auch um den Bedrückungen der Gegenwart für ein paar Stunden zu entfliehen, bricht der „Stubenhocker“ (Kuratle über Kuratle), der sich gerne in die Lektüre von Büchern vergräbt, ab und an zu kleinen Wanderungen in die Berner Berge auf, nicht zuletzt um Wildkräuter zu sammeln, die er daheim zum Kochen benutzt oder zu Tees verarbeitet. „Unlängst habe ich ein Wildkräuter-Lexikon in einer Alphütte meines Großvaters gefunden – das war der Anstoß,“ erzählt Kuratle. „Und jetzt wünsche ich mir zu Weihnachten von meinen Geschwistern eine kleine Ölpresse.“ Der Komponist sucht die Abgeschiedenheit der Berge, um zur Ruhe zu kommen und über seine Musik nachzudenken, wobei er natürlich auch hofft, dass ihm in der Einsamkeit ein paar Melodien zufliegen  – einfach so, ganz aus dem Nichts. Solche wie sie sich auf YDIVIDEs zweitem Album namens „The Default“ finden, ob impressionistisch-versonnen, druckvoll oder aufbrausend- brachial. Dafür musste er öfters ins Gebirge gehen.


Clemens Kuratle YDIVIDE: The Default (Intakt)


Zum Reinhören:

https://intaktrec.bandcamp.com/album/the-default

 

No comments:

Post a Comment