Auszüge aus dem Vorwort zur
vierbändigen Gesamtausgabe von
»TALES OF BEATNIK
GLORY«
von ED SANDERS
Viele dieser Geschichten spielen in der Lower East Side von
New York City, wo ich von 1960 bis 1970 gelebt habe. Einige finden anderswo
statt — zum Beispiel auf einem Friedensmarsch im Mississippi des Freedom Summers, in einer
Endsechziger-Kommune in Kansas und in der späten Sechziger-Rock ’n’ Roll-Welt
von Los Angeles. Sie sind von den späten Fünfzigern bis 1969 chronologisch
angeordnet und folgt den miteinander verbundenen Lebensläufen einer Gruppe von
Poeten, Schriftstellern, Malern, Musikern, Untergrund-Filmemachern und
Verlegern, Radikalen, Freedom Riders,
Kriegsgegnern und Angehörigen des Beat-Milieus während dieser beiden
Jahrzehnte.
Einige Orte in diesen Geschichten, wie Stanleys Bar und das Charles
Theatre, gab es tatsächlich, aber andere, wie die Total Assault Cantina, das House
of Nothingness Café, das Luminous
Animal Theatre, die Mindscape
Gallery, das Café Perf-Po, das Anarchistische Kohlenkollektiv und
natürlich die Aura of Health
Trans-Truckstopp-Futterkrippe hat es nie gegeben — obwohl es sie hätte geben
sollen.
Die Sechziger waren in der Lower East Side besonders
intensiv und ich befand mich mittendrin als Verleger von unzähligen
vervielfältigten Abhandlungen und literarischen Zeitschriften sowie als
Betreiber des Peace Eye Bookstore,
eines kulturellen Zentrums, wo auch einige der Geschichten in den Tales of Beatnik Glory angesiedelt sind.
Im Peace Eye Bookstore gründeten Tuli
Kupferberg und ich Ende 1964 das satirische, anarcho-poetische
Folk-Rock-Ensemble namens The Fugs.
Die Fugs begannen
1966 bei einem großen Plattenlabel aufzunehmen. Zunächst spielten sie eine Zeit
lang in kleineren Häusern, um dann den Rest des Jahrzehnts durch Amerika und
Europa zu touren. Nebenher betrieb ich das Peace
Eye weiter, im Sommer der Liebe ebenso wie im Jahr der Ermordung von Martin
Luther King und John F. Kennedy, und auch im Jahr der Mondlandung und des
Woodstock-Festivals. Die erste Inkarnation der Fugs löste sich 1969 auf und meine Familie zog Anfang 1970 nach
zehn wilden Jahren von der Lower East Side in eine neue Appartmentanlage für
Künstler und Schriftsteller im West-Village um. Ich schloss das Peace Eye, als wir fortzogen, und
verbrachte in den darauffolgenden anderthalb Jahren eine beträchtliche Zeit in
Los Angeles, wo ich für mein Buch The Family Nachforschungen über die
Manson-Mordserie anstellte.
Nach dreizehn Jahren pausenlosen Trubels — anfänglich in der
Gegenkultur und der Druckmatrizen-Revolution, dann mit den Fugs, meinem Buchladen, den Yippies, gefolgt von zweieinhalb Jahren
des Studiums und der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Manson-Clans —
fühlte ich mich 1973 ausgebrannt. Obwohl ich erst Mitte dreißig war, fühlte ich
mich älter als die gesamte Geschichtsschreibung und war sehr darauf aus, über
etwas psychologisch Bereichernderes zu schreiben als über Mord und Kulte.
Mein Mentor, der Poet Charles Olson, arbeitete an einem
Abriss einer Bücherreihe, genannt A
Curriculum of the Soul, und mir übertrug er die Aufgabe, über Ägyptische
Hieroglyphen zu schreiben. Anfang der Sechziger hatte ich Ägyptisch studiert,
ich war heiß darauf, das Projekt auszuführen, und so begann ich im Frühjahr
1973 meine Nachforschungen in der New Yorker Stadtbücherei, wo ich nach
Hinweisen für politische Rebellion unter Künstlern und Schriftstellern im
antiken Ägypten suchte. Aus diesen Recherchen heraus entstand die Idee für die Tales of Beatnik Glory. Im Juni 1973
begann ich damit und entwickelte während des Sommers viele der Stories für den
ersten Band.
Es war eine Zeit der Selbstheilung für mich — und ebenso
eine Zeit der Heilung für die Nation, nun, da das volle Ausmaß der schmutzigen
Tricks der Nixon-Regierung von 1969 bis Anfang 1973 gegenüber Kandidaten der
Demokraten in den Watergate-Anhörungen ans Licht kam und schließlich das
Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet wurde, welches mit
dessen Rücktritt endete. Ich freute mich ganz besonders darauf, in meiner
Arbeit als Schriftsteller zu dieser Ära zurückzukehren, die ich aufrichtig
liebte und verstand, und von der ich mir sicher war, sie mit einer wilden
Offenheit porträtieren zu können, die Humor und extreme Ernsthaftigkeit
kombinierte. (….)
Die Kultur der Lower East Side war zu einem guten Teil durch
die Mietpreisbindung der Sozialwohnungen ermöglicht worden (so wie die Kultur
eines großen Teils des Endsechziger Rock ’n’ Roll-Milieus, wie in der
Geschichte, »Johnny Ray Slage – Ready to Rock«, durch die entspannte und
tolerante Westküsten-Freigiebigkeit möglich war.) In New York City wurde die
Mietpreisbindung während der Depression als Ergebnis unablässiger Agitation
seitens der Mieter-Organisationen mit dem Mietpreisbindungsgesetz von 1939
eingeführt. Während des Zweiten Weltkriegs gründete sich eine
Mietervereinigung, die United Tenants League, welche die Einrichtung einer
städtischen Dienststelle zur Mietpreiskontrolle durchsetzte und für die
Kriegszeiten die Mietpreisbindungen in New York City umsetzte. Diese
Mietpreisbindungen hielten sich nach dem Krieg noch jahrzehntelang und sie erst
ermöglichten den Poetry-Bebop-Schriftsteller-Beat-Generation-Antinuklear-Hipster/Hippie-Matrizenflugblatt-Boom
der Fünfziger und Sechziger.
Als ich Ende der Fünfziger in die Lower East Side kam und
während der Jahre, in denen diese Geschichten spielen, gab es die
Mietpreisbindungen noch. Es gab billige Buden, erschwingliches Essen, es musste
niemand fünf Teilzeitjobs haben, um zu überleben, und du konntest für fünf
Bucks genug Gras kaufen, um vielleicht zwanzig Joints davon zu drehen. Eines
von Amerikas andauernden Missständen — das grundlegende Desinteresse an
erschwinglichen und anständigen Wohnmöglichkeiten für alle (einschließlich
sauberem Wasser und Freiraum) — war damals nicht so ein Problem. Das heißt, das
Zündstoffgemisch aus Habgier und politischer Korruption hatte das Recht auf
erschwingliche Behausungen für normale Leute noch nicht zerstört. Sicherlich
war die Lower East Side ein Bereich, in dem Armut vorherrschte, aber das Leben
im Hamsterrad war zu der Zeit nur eine Fantasie Rechtsgesinnter, von der nur
wenige glaubten, es jemals selbst erdulden zu müssen.
Ed Sanders mit Allen Ginsberg
Eine der grundlegenden Visionen, die uns damals inspirierte,
war die Errettung der amerikanischen Stadt. In meiner Dichtung nannte ich es Goof City, eine Stadt der Freiheit, in
der alle entspannt sein konnten, in der Armut vertrieben war und Wohlstand
wahrhaftig geteilt wurde. Es war die Kultur, nach der es Charles Olson
hungerte, wenn er von »einer Welt, die es wert ist, erschaffen zu werden«
sprach.
Die Lower East Side schien der perfekte Ort zu sein, um Goof City zu erschaffen. Seit dem Krieg
von 1812 und dem darauffolgenden Bevölkerungswachstum war sie ein Slum, denn
die wohlhabenden Bewohner waren aus ihren Häusern ausgezogen. Die Häuser fielen
in die Hände von Immobilienmaklern und Pensionswirten. Die großen Räume in den
Gebäuden wurden in kleinere Zimmer unterteilt, ohne Licht, ohne Fenster.
Hinterhof-Mietskasernen wurden dort gebaut, wo sich einst holländische
Gemüsegärten befanden.
Dann und wann konnte man in den Sechzigern noch einen Hahn
krähen hören und wir erfuhren, dass im Neunzehnten Jahrhundert einige Menschen
Schweine im Keller gehalten hatten. Erst 1867 wurde das Halten der Unrat
fressenden Schweinen verboten und es gab deswegen Proteste und Aufruhr. 1869
ordnete die Gesundheitsbehörde unter dem Druck der Reformer an, dass aus
Gründen der Belüftung und der Gesundheit, und auch als Schutzmaßnahme gegen
Schlafzimmer-Sittenlosigkeit im Dunkeln, sechsundvierzigtausend Fenster in die
innen gelegenen Zimmer der Lower East Side-Mietskasernen eingebaut wurden.
Diese komischen Fenster, überstrichen und für gewöhnlich nicht zu öffnen,
benutzten wir in den 60ern als Rahmen für unsere Poster oder Mandalas.
Einige von uns waren sich sicher, dass wir diejenigen waren,
die die Lower East Side als energetische Zone entdeckt hatten, tatsächlich aber
erfuhren wir, als wir uns mit der Geschichte befassten, dass sie über
zweihundert Jahre lang wieder und wieder entdeckt worden war von den
Geschlagenen, den Gebrochenen, den Rebellierenden, den Radikalen, den
Sozialisten, den Anarcho-Gewerkschaftern, den Suffragetten und Feministinnen,
den Trotzkisten und zu unserer Zeit von den Barden und Haschrauchern, den
Jazz-Hipstern, den Psychedelikern, und von all denen, die auf ihrem Weg zu den
goldgepflasterten Straßen des amerikanischen Traums vorbeikamen.
EDWARD SANDERS
WOODSTOCK, N. Y. 2004
ED SANDERS: »Tales of Beatnik Glory«
Erstmals
die komplette vierbändige Gesamtausgabe auf Deutsch - Exklusiv als
Ebook
Erschienen bei: FUEGO - unabhängiger Musik-, Buch- und Design-Verlag.
Mehr unter: http://fuego.de/books/?author= ed-sanders
Interview mit Ed Sanders (The Fugs):
http://christophwagnermusic.blogspot.co.uk/2012/08/the-fugs-interview-mit-ed-sanders.html
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