Thursday 1 May 2014

ED SANDERS: »Tales of Beatnik Glory« - Die komplette vierbändige Gesamtausgabe auf Deutsch erschienen

Auszüge aus dem Vorwort zur vierbändigen Gesamtausgabe von

»TALES OF BEATNIK GLORY«

von ED SANDERS


Viele dieser Geschichten spielen in der Lower East Side von New York City, wo ich von 1960 bis 1970 gelebt habe. Einige finden anderswo statt — zum Beispiel auf einem Friedensmarsch im Mississippi des Freedom Summers, in einer Endsechziger-Kommune in Kansas und in der späten Sechziger-Rock ’n’ Roll-Welt von Los Angeles. Sie sind von den späten Fünfzigern bis 1969 chronologisch angeordnet und folgt den miteinander verbundenen Lebensläufen einer Gruppe von Poeten, Schriftstellern, Malern, Musikern, Untergrund-Filmemachern und Verlegern, Radikalen, Freedom Riders, Kriegsgegnern und Angehörigen des Beat-Milieus während dieser beiden Jahrzehnte.
Einige Orte in diesen Geschichten, wie Stanleys Bar und das Charles Theatre, gab es tatsächlich, aber andere, wie die Total Assault Cantina, das House of Nothingness Café, das Luminous Animal Theatre, die Mindscape Gallery, das Café Perf-Po, das Anarchistische Kohlenkollektiv und natürlich die Aura of Health Trans-Truckstopp-Futterkrippe hat es nie gegeben — obwohl es sie hätte geben sollen.
Die Sechziger waren in der Lower East Side besonders intensiv und ich befand mich mittendrin als Verleger von unzähligen vervielfältigten Abhandlungen und literarischen Zeitschriften sowie als Betreiber des Peace Eye Bookstore, eines kulturellen Zentrums, wo auch einige der Geschichten in den Tales of Beatnik Glory angesiedelt sind. Im Peace Eye Bookstore gründeten Tuli Kupferberg und ich Ende 1964 das satirische, anarcho-poetische Folk-Rock-Ensemble namens The Fugs.
Die Fugs begannen 1966 bei einem großen Plattenlabel aufzunehmen. Zunächst spielten sie eine Zeit lang in kleineren Häusern, um dann den Rest des Jahrzehnts durch Amerika und Europa zu touren. Nebenher betrieb ich das Peace Eye weiter, im Sommer der Liebe ebenso wie im Jahr der Ermordung von Martin Luther King und John F. Kennedy, und auch im Jahr der Mondlandung und des Woodstock-Festivals. Die erste Inkarnation der Fugs löste sich 1969 auf und meine Familie zog Anfang 1970 nach zehn wilden Jahren von der Lower East Side in eine neue Appartmentanlage für Künstler und Schriftsteller im West-Village um. Ich schloss das Peace Eye, als wir fortzogen, und verbrachte in den darauffolgenden anderthalb Jahren eine beträchtliche Zeit in Los Angeles, wo ich für mein Buch The Family Nachforschungen über die Manson-Mordserie anstellte.
Nach dreizehn Jahren pausenlosen Trubels — anfänglich in der Gegenkultur und der Druckmatrizen-Revolution, dann mit den Fugs, meinem Buchladen, den Yippies, gefolgt von zweieinhalb Jahren des Studiums und der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Manson-Clans — fühlte ich mich 1973 ausgebrannt. Obwohl ich erst Mitte dreißig war, fühlte ich mich älter als die gesamte Geschichtsschreibung und war sehr darauf aus, über etwas psychologisch Bereichernderes zu schreiben als über Mord und Kulte.
Mein Mentor, der Poet Charles Olson, arbeitete an einem Abriss einer Bücherreihe, genannt A Curriculum of the Soul, und mir übertrug er die Aufgabe, über Ägyptische Hieroglyphen zu schreiben. Anfang der Sechziger hatte ich Ägyptisch studiert, ich war heiß darauf, das Projekt auszuführen, und so begann ich im Frühjahr 1973 meine Nachforschungen in der New Yorker Stadtbücherei, wo ich nach Hinweisen für politische Rebellion unter Künstlern und Schriftstellern im antiken Ägypten suchte. Aus diesen Recherchen heraus entstand die Idee für die Tales of Beatnik Glory. Im Juni 1973 begann ich damit und entwickelte während des Sommers viele der Stories für den ersten Band.
Es war eine Zeit der Selbstheilung für mich — und ebenso eine Zeit der Heilung für die Nation, nun, da das volle Ausmaß der schmutzigen Tricks der Nixon-Regierung von 1969 bis Anfang 1973 gegenüber Kandidaten der Demokraten in den Watergate-Anhörungen ans Licht kam und schließlich das Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet wurde, welches mit dessen Rücktritt endete. Ich freute mich ganz besonders darauf, in meiner Arbeit als Schriftsteller zu dieser Ära zurückzukehren, die ich aufrichtig liebte und verstand, und von der ich mir sicher war, sie mit einer wilden Offenheit porträtieren zu können, die Humor und extreme Ernsthaftigkeit kombinierte. (….)




         MIETPREISBINDUNG UND DAS KONZEPT EINER PERFEKTEN STADT

Die Kultur der Lower East Side war zu einem guten Teil durch die Mietpreisbindung der Sozialwohnungen ermöglicht worden (so wie die Kultur eines großen Teils des Endsechziger Rock ’n’ Roll-Milieus, wie in der Geschichte, »Johnny Ray Slage – Ready to Rock«, durch die entspannte und tolerante Westküsten-Freigiebigkeit möglich war.) In New York City wurde die Mietpreisbindung während der Depression als Ergebnis unablässiger Agitation seitens der Mieter-Organisationen mit dem Mietpreisbindungsgesetz von 1939 eingeführt. Während des Zweiten Weltkriegs gründete sich eine Mietervereinigung, die United Tenants League, welche die Einrichtung einer städtischen Dienststelle zur Mietpreiskontrolle durchsetzte und für die Kriegszeiten die Mietpreisbindungen in New York City umsetzte. Diese Mietpreisbindungen hielten sich nach dem Krieg noch jahrzehntelang und sie erst ermöglichten den Poetry-Bebop-Schriftsteller-Beat-Generation-Antinuklear-Hipster/Hippie-Matrizenflugblatt-Boom der Fünfziger und Sechziger.


Als ich Ende der Fünfziger in die Lower East Side kam und während der Jahre, in denen diese Geschichten spielen, gab es die Mietpreisbindungen noch. Es gab billige Buden, erschwingliches Essen, es musste niemand fünf Teilzeitjobs haben, um zu überleben, und du konntest für fünf Bucks genug Gras kaufen, um vielleicht zwanzig Joints davon zu drehen. Eines von Amerikas andauernden Missständen — das grundlegende Desinteresse an erschwinglichen und anständigen Wohnmöglichkeiten für alle (einschließlich sauberem Wasser und Freiraum) — war damals nicht so ein Problem. Das heißt, das Zündstoffgemisch aus Habgier und politischer Korruption hatte das Recht auf erschwingliche Behausungen für normale Leute noch nicht zerstört. Sicherlich war die Lower East Side ein Bereich, in dem Armut vorherrschte, aber das Leben im Hamsterrad war zu der Zeit nur eine Fantasie Rechtsgesinnter, von der nur wenige glaubten, es jemals selbst erdulden zu müssen.
                                                                                                                                               Ed Sanders mit Allen Ginsberg
Eine der grundlegenden Visionen, die uns damals inspirierte, war die Errettung der amerikanischen Stadt. In meiner Dichtung nannte ich es Goof City, eine Stadt der Freiheit, in der alle entspannt sein konnten, in der Armut vertrieben war und Wohlstand wahrhaftig geteilt wurde. Es war die Kultur, nach der es Charles Olson hungerte, wenn er von »einer Welt, die es wert ist, erschaffen zu werden« sprach.
Die Lower East Side schien der perfekte Ort zu sein, um Goof City zu erschaffen. Seit dem Krieg von 1812 und dem darauffolgenden Bevölkerungswachstum war sie ein Slum, denn die wohlhabenden Bewohner waren aus ihren Häusern ausgezogen. Die Häuser fielen in die Hände von Immobilienmaklern und Pensionswirten. Die großen Räume in den Gebäuden wurden in kleinere Zimmer unterteilt, ohne Licht, ohne Fenster. Hinterhof-Mietskasernen wurden dort gebaut, wo sich einst holländische Gemüsegärten befanden. 
Dann und wann konnte man in den Sechzigern noch einen Hahn krähen hören und wir erfuhren, dass im Neunzehnten Jahrhundert einige Menschen Schweine im Keller gehalten hatten. Erst 1867 wurde das Halten der Unrat fressenden Schweinen verboten und es gab deswegen Proteste und Aufruhr. 1869 ordnete die Gesundheitsbehörde unter dem Druck der Reformer an, dass aus Gründen der Belüftung und der Gesundheit, und auch als Schutzmaßnahme gegen Schlafzimmer-Sittenlosigkeit im Dunkeln, sechsundvierzigtausend Fenster in die innen gelegenen Zimmer der Lower East Side-Mietskasernen eingebaut wurden. Diese komischen Fenster, überstrichen und für gewöhnlich nicht zu öffnen, benutzten wir in den 60ern als Rahmen für unsere Poster oder Mandalas.
Einige von uns waren sich sicher, dass wir diejenigen waren, die die Lower East Side als energetische Zone entdeckt hatten, tatsächlich aber erfuhren wir, als wir uns mit der Geschichte befassten, dass sie über zweihundert Jahre lang wieder und wieder entdeckt worden war von den Geschlagenen, den Gebrochenen, den Rebellierenden, den Radikalen, den Sozialisten, den Anarcho-Gewerkschaftern, den Suffragetten und Feministinnen, den Trotzkisten und zu unserer Zeit von den Barden und Haschrauchern, den Jazz-Hipstern, den Psychedelikern, und von all denen, die auf ihrem Weg zu den goldgepflasterten Straßen des amerikanischen Traums vorbeikamen. 

EDWARD SANDERS
WOODSTOCK, N. Y. 2004
ED SANDERS: »Tales of Beatnik Glory«
Erstmals die komplette vierbändige Gesamtausgabe auf Deutsch - Exklusiv als        
Ebook
Erschienen bei: FUEGO - unabhängiger Musik-, Buch- und Design-Verlag.
 

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