Friday, 7 August 2015

Die Rauhheit der Stimme: GRAINDELAVOIX - Renaissance-Ensemble aus Antwerpen

Schöner Gesang und durchdringende Schreie

Das “Festival Europäischer Kirchenmusik” in Schwäbisch Gmünd feiert 25jähriges Jubiläum
                                                                                                                                      Foto: Rose Revitt

cw. Bei der Bezeichnung “Kirchenmusik” denkt man zuallererst an Johann Sebastian Bach, an Chorgesang und Orgelspiel. Das “Festival Europäischer Kirchenmusik”, das jedes Jahr in Schwäbisch Gmünd stattfindet, hat all das zu bieten, geht aber in seiner Programmgestaltung weit darüber hinaus. Auch experimentelle Musikformen, abenteuerliche Stilverbindungen und gewagte Multimedia-Aktionen werden geboten – Schwäbisch Gmünd spannt den musikalischen Bogen von Mittelalter bis in die Gegenwart!

Jedes Jahr wählt der künstlerische Leiter Dr. Ewald Liska, selbst ein beschlagener Vokalist und ehemaliger Rundfunkredakteur, einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt, der dann in den Konzerten thematisch umkreist wird. “Mitten im Leben vom Tod umgeben” lautete der Titel, der dem Festival dieses Jahr seine Ausrichtung gab und drei Wochen lang die verschiedenen Kirchen in Schwäbisch Gmünd von den unterschiedlichsten sakralen Klängen erschallen ließ. Von gregorianischem Gesang über Barockmusik - elektronisch verhüllt – bis zu neutönerischen Kompositionen der renommierten koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan reichte das Spektrum des Festivals, das dieses Jahr sein 25jähriges Jubiläum feiert. Die eindrucksvollsten musikalischen Momente seiner Historie sind gerade auf einer Doppel-CD erschienen.

Einen besonderen Akzent im diesjährigen Programm setzte das 15köpfige Spezialistenensemble Graindelavoix aus Antwerpen mit Trauermusik der Renaissance. Die Gruppe unter der Regie von Björn Schmelzer ist eine eigenwillige Formation, die die Klänge aus dem 15. Jahrhundert und 16. Jahrhundert gegen den Strich bürstet, um ihre tiefere Botschaft ans Tageslicht zu fördern. “Emotionale Musikwissenschaft in Aktion” hat das einmal ein Kritiker genannt.

Bei ihrem Konzert in der Gmünder Augustinuskirche drang das Ensemble Graindelavoix, das seinen Namen einem berühmten Essay des französischen Philosophen Roland Barthes verdankt, tief in die verschlungene Vielstimmigkeit der Renaissance-Musik ein, um unter die
Haut der Gedächtnismotetten, Messen und Lamentationen zu gelangen. Mit beträchtlichem körperlichen Einsatz gelang es Björn Schmelzer, der vom Aussehen her auch in einer Hardrock-Band spielen könnte, die Essenz dieser Trauerstücke herauszuarbeiten. Dabei schreckte die Gruppe auch nicht davor zurück, ihren “klaren schönen Gesang in durchdringende Schreie und Klagen” zu verwandeln, wie es im Text einer musikalischen Lamentation aus dem Jahr 1497 heißt.

Neben Werken von Alexander Agricola standen Kompositionen von Pierre de la Rue im Mittelpunkt des Konzerts, die 1506 aus Anlaß des Ablebens des jungen Königs Philipp des Schönen von Spanien (er war nur 28 Jahre alt) entstanden sind. Diese Trauermotetten wurden bei langen Gedenkfeiern in Dorfkirchen überall in Spanien aufgeführt, wobei der Hof mit dem Sarg des Königs und einer beträchtlichen Trauergemeinde über Land zog. Am Ende der täglichen Feierlichkeiten wurde jedesmal der Sarg geöffnet, in der Hoffnung der Verstorbene werde von der Kraft der Musik vom Tode erweckt. Mit der gleichen Intensität brachten Graindelavoix die Stücke zur Aufführung, wobei sich die 15 Musiker in einen einzigen lebendigen Organismus verwandelten, der – musikalisch atmend – an- und abschwellte.

Um der tief empfundenen Schwere etwas Leichteres entgegenzusetzen, fügten Graindelavoix etliche Instrumentalstücke in das Programm ein, die mit Harfe, Lauten und Fiedeln sowie dem warmen Ton einer Holztrompete in Szene gesetzt wurden. In der richtigen Balance mit den ergreifenden Gesängen ließen sie das Konzert zu einem Höhepunkt in der 25jährigen Geschichte des “Festivals Europäischer Kirchenmusik” in Schwäbisch Gmünd werden.

Die Besprechung erschien zuerst im Schwarzwälder Bote.

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