Schöner Gesang und durchdringende Schreie
Das “Festival Europäischer Kirchenmusik” in
Schwäbisch Gmünd feiert 25jähriges Jubiläum
Foto: Rose Revitt
cw. Bei der Bezeichnung “Kirchenmusik” denkt
man zuallererst an Johann Sebastian Bach, an Chorgesang und Orgelspiel. Das
“Festival Europäischer Kirchenmusik”, das jedes Jahr in Schwäbisch Gmünd
stattfindet, hat all das zu bieten, geht aber in seiner Programmgestaltung weit
darüber hinaus. Auch experimentelle Musikformen, abenteuerliche
Stilverbindungen und gewagte Multimedia-Aktionen werden geboten – Schwäbisch
Gmünd spannt den musikalischen Bogen von Mittelalter bis in die Gegenwart!
Jedes Jahr wählt der künstlerische Leiter
Dr. Ewald Liska, selbst ein beschlagener Vokalist und ehemaliger
Rundfunkredakteur, einen anderen inhaltlichen Schwerpunkt, der dann in den
Konzerten thematisch umkreist wird. “Mitten im Leben vom Tod umgeben” lautete
der Titel, der dem Festival dieses Jahr seine Ausrichtung gab und drei Wochen
lang die verschiedenen Kirchen in Schwäbisch Gmünd von den unterschiedlichsten
sakralen Klängen erschallen ließ. Von gregorianischem Gesang über Barockmusik -
elektronisch verhüllt – bis zu neutönerischen Kompositionen der renommierten
koreanischen Komponistin Younghi Pagh-Paan reichte das Spektrum des Festivals,
das dieses Jahr sein 25jähriges Jubiläum feiert. Die eindrucksvollsten musikalischen
Momente seiner Historie sind gerade auf einer Doppel-CD erschienen.
Einen besonderen Akzent im diesjährigen Programm
setzte das 15köpfige Spezialistenensemble Graindelavoix aus Antwerpen mit
Trauermusik der Renaissance. Die Gruppe unter der Regie von Björn Schmelzer ist
eine eigenwillige Formation, die die Klänge aus dem 15. Jahrhundert und 16.
Jahrhundert gegen den Strich bürstet, um ihre tiefere Botschaft ans Tageslicht
zu fördern. “Emotionale Musikwissenschaft in Aktion” hat das einmal ein
Kritiker genannt.
Bei ihrem Konzert in der Gmünder
Augustinuskirche drang das Ensemble Graindelavoix, das seinen Namen einem
berühmten Essay des französischen Philosophen Roland Barthes verdankt, tief in
die verschlungene Vielstimmigkeit der Renaissance-Musik ein, um unter die
Haut
der Gedächtnismotetten, Messen und Lamentationen zu gelangen. Mit
beträchtlichem körperlichen Einsatz gelang es Björn Schmelzer, der vom Aussehen
her auch in einer Hardrock-Band spielen könnte, die Essenz dieser Trauerstücke
herauszuarbeiten. Dabei schreckte die Gruppe auch nicht davor zurück, ihren
“klaren schönen Gesang in durchdringende Schreie und Klagen” zu verwandeln, wie
es im Text einer musikalischen Lamentation aus dem Jahr 1497 heißt.
Neben Werken von Alexander Agricola standen
Kompositionen von Pierre de la Rue im Mittelpunkt des Konzerts, die 1506 aus
Anlaß des Ablebens des jungen Königs Philipp des Schönen von Spanien (er war
nur 28 Jahre alt) entstanden sind. Diese Trauermotetten wurden bei langen
Gedenkfeiern in Dorfkirchen überall in Spanien aufgeführt, wobei der Hof mit
dem Sarg des Königs und einer beträchtlichen Trauergemeinde über Land zog. Am
Ende der täglichen Feierlichkeiten wurde jedesmal der Sarg geöffnet, in der
Hoffnung der Verstorbene werde von der Kraft der Musik vom Tode erweckt. Mit
der gleichen Intensität brachten Graindelavoix die Stücke zur Aufführung, wobei
sich die 15 Musiker in einen einzigen lebendigen Organismus verwandelten, der –
musikalisch atmend – an- und abschwellte.
Um der tief empfundenen Schwere etwas
Leichteres entgegenzusetzen, fügten Graindelavoix etliche Instrumentalstücke in
das Programm ein, die mit Harfe, Lauten und Fiedeln sowie dem warmen Ton einer
Holztrompete in Szene gesetzt wurden. In der richtigen Balance mit den ergreifenden
Gesängen ließen sie das Konzert zu einem Höhepunkt in der 25jährigen Geschichte
des “Festivals Europäischer Kirchenmusik” in Schwäbisch Gmünd werden.
Die Besprechung erschien zuerst im Schwarzwälder Bote.
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