Die Noten hinter den Noten
Björn Schmelzer
gilt als Enfant terrible der frühen Musik. Sein Ensemble Graindelavoix hat die
Vorstellung von den Klängen des Mittelalters und der Renaissance
revolutioniert. Mit Roland Barthes als Taufpaten greifen sie auf Techniken
diverser Volksmusiktraditionen sowie der Idee einer “affektiven Exegese” zurück
Die Gruppe
Graindelavoix aus Antwerpen ist ein “Early Music”- Ensemble mit einer eigenen
Vision der frühen Musik. Unter der Regie von Björn Schmelzer wird die
Polyphonie der Renaissance gegen den Strich gebürstet, um ihre tiefere Botschaft
ans Licht zu bringen. “Emotionale Musikwissenschaft in Aktion” hat das die
Kritik genannt.
Graindelavoix
taucht tief in die verschlungene Vielstimmigkeit ein, um unter die Haut der Motetten,
Messen und Madrigale zu gelangen und ihre Essenz herauszuarbeiten. Dabei
schreckt die Gruppe nicht davor zurück, den “klaren schönen Gesang in
durchdringende Schreie und Klagen” zu verwandeln, wie es im Text einer
musikalischen Lamentation aus dem Jahr 1497 von Josquin Desprez auf den Tod von
Johannes Ockeghem heißt.
Neben Werken von
Desprez und Alexander Agricola enthält die aktuelle CD-Produktion “Cecus” der
Gruppe auch Kompositionen von Pierre de la Rue, die 1506 aus Anlaß des Todes
des jungen Königs Philipp des Schönen von Kastilien (er wurde nur 28 Jahre alt)
entstanden sind. Diese Trauermotetten wurden bei nächtlichen Gedenkfeiern in
Dorfkirchen überall in Spanien aufgeführt, wofür der Hof mit dem Sarg des
Königs und einer beträchtlichen Trauergemeinde plus der Hofkapelle über Land
zog. Am Ende der Trauerfeierlichkeiten wurde jedesmal der Sarg geöffnet, in der
Hoffnung der Verstorbene werde von der Kraft der Gebete und Musik vom Tode erweckt.
Mit der gleichen Intensität bringt Graindelavoix die frühe Musik zur
Aufführung.
Christoph Wagner: Sie waren Chorknabe in Antwerpen. War das ihre erste Begegnung mit
früher Musik?
Björn Schmelzer:
Wir sangen Palestrina, Buxtehude, auch Bach, dazu gregorianische Choräle in der
Kathedrale von Antwerpen. Der Chorleiter war ein Priester, der sich in der
Tradition der großen Meister der Renaissance sah. Und tatsächlich war ja
Ockeghem im 15. Jahrhundert an dieser Kirche tätig gewesen. Ich sang nicht
freiwillig im Kathedralenchor, vielmehr war es der Wunsch meiner Mutter. Ich
gehörte dem Chor bis zum Studium an, habe also die frühe Musik von Jugend auf
eingesogen. Daneben sang ich mit ein paar Freunden in unserem eigenen
Ensemble.
Haben sie danach Musik studiert?
BS: Ursprünglich
wollte ich Schauspieler werden, ging dann aber doch zuerst auf die Universität,
um Musik zu studieren, was mir nicht gefiel. Ich sattelte auf Anthropologie um.
Für meine Abschlußarbeit unternahm ich Feldforschungen in Sardinien, wo ich
traditionelle Vokalpraktiken in ihrem sozialen Umfeld untersuchte. Das sprach
mich mehr an als das Musikstudium, das ausschließlich aus Theorie und Analyse
bestand. Das anthropologische Prinzip des Beobachtens und Partizipierens kam
meinen Interessen entgegen.
Damals entdeckte
ich die Gruppe “Studio der frühen Musik” von Thomas Binkley, weil es ihre
Schallplatten in unserer Bücherei gab und ich sie im Film “Herz aus Glas” von
Werner Herzog gesehen hatte. Ich fühlte mich von dem eigenwilligen Ansatz ihrer
Musik angesprochen. Ich verstand nicht wirklich, was sie machten. Doch Musik,
die ich nicht verstehe, fasziniert mich.
Wie kam es dann zur Gründung von Graindelavoix?
BS: Vielleicht
war dafür meine Großmutter wichtiger, als alle Schallplatten früher Musik, die
ich bis dahin gehört hatte. Sie sensibilisierte mich für ein Wissen, das nicht
intellektueller Art ist, sondern intuitiv. Meine Großmutter war eine einfache
Frau, besaß aber eine enorme praktische Intelligenz. Das entdeckte ich auch bei
Sängern, die wunderbar singen konnten, aber keine Gesangsausbildung durchlaufen
hatten.
Diese Erkenntnis
bildete den Ausgangspunkt für Graindelavoix, weil es mir ermöglichte, einen
anderen Ansatz zu wählen: nicht wissenschaftlich an die frühe Musik
heranzugehen. Wir wollten uns von der Sterilität der akademischen
Interpretation lösen. Mir ging es eher um Vibrationen. Ich wollte diese Klänge
mit Leben erfüllen. Ich konnte mir eine andere frühe Musik vorstellen, weil
selbstverständlich im 16. Jahrhundert die Stimmen nicht so uniform akademisch
ausgebildet waren, wie es seit dem 19. Jahrhundert in Europa der Fall ist. Die
Vorstellung von der Hygiene der Stimme und eines fast mechanischen
Verständnisses von Musik gingen mir gegen den Strich. Ich wollte die frühe
Musik aus der Praxis heraus entwickeln, eine Polyphonie voller Affekte
kreieren, voller Emotionen, die den Leib miteinbezieht. Ich wollte den ganzen
Reichtum des Ausdrucks zurückgewinnen, der ab dem 19. Jahrhundert in eine
bestimmte Richtung kanalisiert worden ist. Ich wollte die frühe Musik wieder
aufregend machen, auch für ein Publikum, das über die Spezialisten der Early
Music Festivals hinausreicht. Wir möchten auch junge Leute ansprechen, die
nicht über Beethoven oder Haydn zur “Early Music” kommen, aber vielleicht
bestimmte Arten von Weltmusik kennen und von dort eine Verbindung zur frühen
Musik herstellen können. Das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Fusionen
etwa mit Jazz anstreben – im Gegenteil: Die Intensität unserer Aufführungen ist
das verbindende Element.
Sie haben ihrer Gruppe den Namen eines berühmten Essays des
französischen Philosophen Roland Barthes gegeben: “Grain de la voix - die
Rauhheit der Stimme”. Was war die Idee?
BS: Ich hätte
die Gruppe natürlich auch Orlando di Lasso Ensemble nennen können, habe aber
den Namen des Texts von Roland Barthes gewählt, weil er unsere Intentionen am
besten ausdrückt. Der Gruppenname ist ein Emblem. Er beschreibt unsere
Arbeitsweise. Wie ein Schreiner nicht gegen die Maserung des Holz arbeitet,
nehme ich die “Rauhheit” der Stimmen unserer Sänger und Sängerinnen auf und
arbeite mit ihnen. Mit der Maserung - nicht dagegen!
Der Gruppenname bringt außerdem ein Element von Philosophie in die Musik
ein…
BS: Genau! Mir
erscheint der Bereich der frühen Musik bis heute intellektuell unterbelichtet.
Die philosophische Reflektion kommt zu kurz. Ich bin etwa an der Frage
interessiert, was Zeit bedeutet, weil wir ja, wenn wir ein Werk der Renaissance
aufführen, einen Zeitausschnitt – sagen wir – aus dem 15. Jahrhunderts in die
Gegenwart bringen. Fünf Minuten Renaissance wird mit einer Motette in die
Jetzt-Zeit transportiert. Das ist für mich eine aufregende Idee, über deren
Bedeutung sich nachzudenken lohnt. Der Gedanke ist für mich fast zu groß, das
Phänomen zu komplex, dass ich begreifen könnte, was da passiert. Es grenzt ja
an ein Wunder, dass wir mit einem Stück von Ockeghem fünf Minuten Zeit der
Vergangenheit zurückbringen können. Ein ungeheurer Vorgang von Telepathie. Die
Frage stellt sich: Ist eine emotionale Verbindung mit der Vergangenheit
möglich, eine Verbindung, die auf Affekten beruht? Musik macht das möglich!
Daneben verblassen Fragen der authentischen Aufführungspraxis.
Wie entstand die Gruppe und wie arbeitet sie?
BS: Nach dem
Studium fand ich keinen Job und betrieb einen kleinen Antiquitäten-Laden in der
Nähe von Brüssel. Dann gründeten wir die Gruppe mit vier Sängern von hier,
wobei wir von Anfang an sehr an traditioneller Musik interessiert waren. Wir
sind also eine Gruppe aus Antwerpen, obwohl ich heute oft der einzige aus
meiner Heimatstadt bin. Mittlerweile kommen die Sänger und Sängerinnen aus den
unterschiedlichsten europäischen Ländern, was verschiedene Temperamente und
Mentalitäten ins Spiel bringt. Es war mir nie wichtig, hochprofessionelle
Sänger und Sängerinnen für die Gruppe zu gewinnen, sondern interessante
Persönlichkeiten mit einem eigenen Timbre der Stimme. Es gibt uns jetzt mehr
als zehn Jahre und wir sind in dieser Zeit gewachsen sowie zusammengewachsen,
was aber auch bedeuten kann, dass man den anderen mehr Raum läßt. Unser Verständnis
für einander hat zugenommen und wir begreifen besser, auf was wir aus sind.
Unsere Vision hat an Klarheit gewonnen.
Wie sieht die musikalische Praxis der Gruppe aus?
BS: Meine
anthropologische Feldforschungen in Sardinien waren dafür wichtig. Ich hörte
Gesangsgruppen dort “Falso Bordone” singen, diesen “falschen Bass” oder
“Fauxbourdon”, den ich als Vokaltechnik aus der Renaissance-Musik kannte. Aber
die Sänger waren Fischer, Handwerker - einer betrieb einen Kiosk. Sie waren
alles andere als ausgebildete Vokalisten. Sie konnten keine Noten lesen,
konnten aber diese vierstimmige Polyphonie singen, was mich frappierte. Das war
die Erleuchtung! Es wurde mir klar, dass sie mit der Musik ganz anders
verbunden sind als klassische Musiker.
Kommt daher ihre Intention, die polyphonen Werke auswendig zu singen?
BS: In der
mittelalterlichen Musik bildeten die Noten oft nur ein melodisches Gerüst, das
nach Variationen und Ornamentierung verlangt. Darauf will ich hinaus: Elemente
der Improvisation sollen in die Musik einfließen. Junge Sänger und Sängerinnen
sind mehr und mehr in der Lage, sich kreativ in die Musik einzubringen und
nicht am Notenblatt zu kleben. Oft kommen die Sänger ursprünglich aus einer
Volksmusiktradition, in der Variations- und Improvisationstechniken in Gebrauch
waren. Die haben sie dann allerdings während ihres Gesangsstudiums abgelegt.
Ich möchte diese Potentiale für die frühe Musik wieder nutzen. Also: Singt die
Renaissance-Polyphonie mehr mit dem Ohr und mit den Ornamentierungen, Mikrointervallen
und dem Tremolo traditioneller Musik!
Wir probieren das aus, experimentieren damit, finden heraus, ob und wo es Sinn
macht. Die Partitur fungiert als eine Art Leitschnur, aber eigentlich singen
wir die Noten über den Noten.
Wo liegt die rote Linie, die verhindert, dass es in reiner Beliebigkeit
endet?
BS: Ein
umfassenderes, tieferes Verständnis der
Musik ist vonnöten. Wenn wir eine
Lamentation singen, müssen wir erst einmal wissen: Was ist eine Lamentation?
Welche Funktion hatte sie? In welchem sozialen Kontext war sie von Bedeutung?
All diese Fragen gilt es im Auge zu behalten. Was bedeutet es, wenn in Estland
– wir haben einen estischen Sänger in der Gruppe – eine Frau für einen
Verstorbenen eine Lamentation singt? Sie benutzt dazu Singtechniken,
Intervalle, die jedermann mit einer Totenklagen assoziiert. Wir gehen dann an
eine Lamentation z.B. von Josquin Desprez mit der simplen Idee und klaren
Vorstellung heran, was eine Lamentation eigentlich ausmacht: Wir versuchen den
Tod eines Menschen gesanglich zu beklagen! Wir versuchen, diese affektive
Verbindung herzustellen, diese fundamentalen menschlichen Gefühle auszudrücken.
Es ist eine physische Sache. Wir wollen die Gefühle und die Nerven der Zuhörer
berühren. Deshalb brauchen wir das Wissen über den Kontext und die Funktion der
Musik, um diese Dimension deutlich zu machen, sie vielleicht sogar noch zu
verstärken. Das kann man affektive Exegese nennen.
Björn Schmelzer & Graindelavoix: Guillaume De Machaut / Messe De Nostre Dame (Glossa)
Björn Schmelzer
& Graindelavoix: Cecus (Glossa)
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