Wednesday, 25 May 2016

GRAINDELAVOIX: experimentelle frühe Musik

Die Noten hinter den Noten

Björn Schmelzer gilt als Enfant terrible der frühen Musik. Sein Ensemble Graindelavoix hat die Vorstellung von den Klängen des Mittelalters und der Renaissance revolutioniert. Mit Roland Barthes als Taufpaten greifen sie auf Techniken diverser Volksmusiktraditionen sowie der Idee einer “affektiven Exegese” zurück



Die Gruppe Graindelavoix aus Antwerpen ist ein “Early Music”- Ensemble mit einer eigenen Vision der frühen Musik. Unter der Regie von Björn Schmelzer wird die Polyphonie der Renaissance gegen den Strich gebürstet, um ihre tiefere Botschaft ans Licht zu bringen. “Emotionale Musikwissenschaft in Aktion” hat das die Kritik genannt.

Graindelavoix taucht tief in die verschlungene Vielstimmigkeit ein, um unter die Haut der Motetten, Messen und Madrigale zu gelangen und ihre Essenz herauszuarbeiten. Dabei schreckt die Gruppe nicht davor zurück, den “klaren schönen Gesang in durchdringende Schreie und Klagen” zu verwandeln, wie es im Text einer musikalischen Lamentation aus dem Jahr 1497 von Josquin Desprez auf den Tod von Johannes Ockeghem heißt.

Neben Werken von Desprez und Alexander Agricola enthält die aktuelle CD-Produktion “Cecus” der Gruppe auch Kompositionen von Pierre de la Rue, die 1506 aus Anlaß des Todes des jungen Königs Philipp des Schönen von Kastilien (er wurde nur 28 Jahre alt) entstanden sind. Diese Trauermotetten wurden bei nächtlichen Gedenkfeiern in Dorfkirchen überall in Spanien aufgeführt, wofür der Hof mit dem Sarg des Königs und einer beträchtlichen Trauergemeinde plus der Hofkapelle über Land zog. Am Ende der Trauerfeierlichkeiten wurde jedesmal der Sarg geöffnet, in der Hoffnung der Verstorbene werde von der Kraft der Gebete und Musik vom Tode erweckt. Mit der gleichen Intensität bringt Graindelavoix die frühe Musik zur Aufführung.

Christoph Wagner: Sie waren Chorknabe in Antwerpen. War das ihre erste Begegnung mit früher Musik?

Björn Schmelzer: Wir sangen Palestrina, Buxtehude, auch Bach, dazu gregorianische Choräle in der Kathedrale von Antwerpen. Der Chorleiter war ein Priester, der sich in der Tradition der großen Meister der Renaissance sah. Und tatsächlich war ja Ockeghem im 15. Jahrhundert an dieser Kirche tätig gewesen. Ich sang nicht freiwillig im Kathedralenchor, vielmehr war es der Wunsch meiner Mutter. Ich gehörte dem Chor bis zum Studium an, habe also die frühe Musik von Jugend auf eingesogen. Daneben sang ich mit ein paar Freunden in unserem eigenen Ensemble. 

Haben sie danach Musik studiert?

BS: Ursprünglich wollte ich Schauspieler werden, ging dann aber doch zuerst auf die Universität, um Musik zu studieren, was mir nicht gefiel. Ich sattelte auf Anthropologie um. Für meine Abschlußarbeit unternahm ich Feldforschungen in Sardinien, wo ich traditionelle Vokalpraktiken in ihrem sozialen Umfeld untersuchte. Das sprach mich mehr an als das Musikstudium, das ausschließlich aus Theorie und Analyse bestand. Das anthropologische Prinzip des Beobachtens und Partizipierens kam meinen Interessen entgegen.

Damals entdeckte ich die Gruppe “Studio der frühen Musik” von Thomas Binkley, weil es ihre Schallplatten in unserer Bücherei gab und ich sie im Film “Herz aus Glas” von Werner Herzog gesehen hatte. Ich fühlte mich von dem eigenwilligen Ansatz ihrer Musik angesprochen. Ich verstand nicht wirklich, was sie machten. Doch Musik, die ich nicht verstehe, fasziniert mich.
 
Wie kam es dann zur Gründung von Graindelavoix?

BS: Vielleicht war dafür meine Großmutter wichtiger, als alle Schallplatten früher Musik, die ich bis dahin gehört hatte. Sie sensibilisierte mich für ein Wissen, das nicht intellektueller Art ist, sondern intuitiv. Meine Großmutter war eine einfache Frau, besaß aber eine enorme praktische Intelligenz. Das entdeckte ich auch bei Sängern, die wunderbar singen konnten, aber keine Gesangsausbildung durchlaufen hatten.

Diese Erkenntnis bildete den Ausgangspunkt für Graindelavoix, weil es mir ermöglichte, einen anderen Ansatz zu wählen: nicht wissenschaftlich an die frühe Musik heranzugehen. Wir wollten uns von der Sterilität der akademischen Interpretation lösen. Mir ging es eher um Vibrationen. Ich wollte diese Klänge mit Leben erfüllen. Ich konnte mir eine andere frühe Musik vorstellen, weil selbstverständlich im 16. Jahrhundert die Stimmen nicht so uniform akademisch ausgebildet waren, wie es seit dem 19. Jahrhundert in Europa der Fall ist. Die Vorstellung von der Hygiene der Stimme und eines fast mechanischen Verständnisses von Musik gingen mir gegen den Strich. Ich wollte die frühe Musik aus der Praxis heraus entwickeln, eine Polyphonie voller Affekte kreieren, voller Emotionen, die den Leib miteinbezieht. Ich wollte den ganzen Reichtum des Ausdrucks zurückgewinnen, der ab dem 19. Jahrhundert in eine bestimmte Richtung kanalisiert worden ist. Ich wollte die frühe Musik wieder aufregend machen, auch für ein Publikum, das über die Spezialisten der Early Music Festivals hinausreicht. Wir möchten auch junge Leute ansprechen, die nicht über Beethoven oder Haydn zur “Early Music” kommen, aber vielleicht bestimmte Arten von Weltmusik kennen und von dort eine Verbindung zur frühen Musik herstellen können. Das bedeutet nicht, dass wir irgendwelche Fusionen etwa mit Jazz anstreben – im Gegenteil: Die Intensität unserer Aufführungen ist das verbindende Element.

Sie haben ihrer Gruppe den Namen eines berühmten Essays des französischen Philosophen Roland Barthes gegeben: “Grain de la voix - die Rauhheit der Stimme”. Was war die Idee?

BS: Ich hätte die Gruppe natürlich auch Orlando di Lasso Ensemble nennen können, habe aber den Namen des Texts von Roland Barthes gewählt, weil er unsere Intentionen am besten ausdrückt. Der Gruppenname ist ein Emblem. Er beschreibt unsere Arbeitsweise. Wie ein Schreiner nicht gegen die Maserung des Holz arbeitet, nehme ich die “Rauhheit” der Stimmen unserer Sänger und Sängerinnen auf und arbeite mit ihnen. Mit der Maserung - nicht dagegen!

Der Gruppenname bringt außerdem ein Element von Philosophie in die Musik ein…

BS: Genau! Mir erscheint der Bereich der frühen Musik bis heute intellektuell unterbelichtet. Die philosophische Reflektion kommt zu kurz. Ich bin etwa an der Frage interessiert, was Zeit bedeutet, weil wir ja, wenn wir ein Werk der Renaissance aufführen, einen Zeitausschnitt – sagen wir – aus dem 15. Jahrhunderts in die Gegenwart bringen. Fünf Minuten Renaissance wird mit einer Motette in die Jetzt-Zeit transportiert. Das ist für mich eine aufregende Idee, über deren Bedeutung sich nachzudenken lohnt. Der Gedanke ist für mich fast zu groß, das Phänomen zu komplex, dass ich begreifen könnte, was da passiert. Es grenzt ja an ein Wunder, dass wir mit einem Stück von Ockeghem fünf Minuten Zeit der Vergangenheit zurückbringen können. Ein ungeheurer Vorgang von Telepathie. Die Frage stellt sich: Ist eine emotionale Verbindung mit der Vergangenheit möglich, eine Verbindung, die auf Affekten beruht? Musik macht das möglich! Daneben verblassen Fragen der authentischen Aufführungspraxis.

Wie entstand die Gruppe und wie arbeitet sie?

BS: Nach dem Studium fand ich keinen Job und betrieb einen kleinen Antiquitäten-Laden in der Nähe von Brüssel. Dann gründeten wir die Gruppe mit vier Sängern von hier, wobei wir von Anfang an sehr an traditioneller Musik interessiert waren. Wir sind also eine Gruppe aus Antwerpen, obwohl ich heute oft der einzige aus meiner Heimatstadt bin. Mittlerweile kommen die Sänger und Sängerinnen aus den unterschiedlichsten europäischen Ländern, was verschiedene Temperamente und Mentalitäten ins Spiel bringt. Es war mir nie wichtig, hochprofessionelle Sänger und Sängerinnen für die Gruppe zu gewinnen, sondern interessante Persönlichkeiten mit einem eigenen Timbre der Stimme. Es gibt uns jetzt mehr als zehn Jahre und wir sind in dieser Zeit gewachsen sowie zusammengewachsen, was aber auch bedeuten kann, dass man den anderen mehr Raum läßt. Unser Verständnis für einander hat zugenommen und wir begreifen besser, auf was wir aus sind. Unsere Vision hat an Klarheit gewonnen. 

Wie sieht die musikalische Praxis der Gruppe aus?

BS: Meine anthropologische Feldforschungen in Sardinien waren dafür wichtig. Ich hörte Gesangsgruppen dort “Falso Bordone” singen, diesen “falschen Bass” oder “Fauxbourdon”, den ich als Vokaltechnik aus der Renaissance-Musik kannte. Aber die Sänger waren Fischer, Handwerker - einer betrieb einen Kiosk. Sie waren alles andere als ausgebildete Vokalisten. Sie konnten keine Noten lesen, konnten aber diese vierstimmige Polyphonie singen, was mich frappierte. Das war die Erleuchtung! Es wurde mir klar, dass sie mit der Musik ganz anders verbunden sind als klassische Musiker.

Kommt daher ihre Intention, die polyphonen Werke auswendig zu singen?

BS: In der mittelalterlichen Musik bildeten die Noten oft nur ein melodisches Gerüst, das nach Variationen und Ornamentierung verlangt. Darauf will ich hinaus: Elemente der Improvisation sollen in die Musik einfließen. Junge Sänger und Sängerinnen sind mehr und mehr in der Lage, sich kreativ in die Musik einzubringen und nicht am Notenblatt zu kleben. Oft kommen die Sänger ursprünglich aus einer Volksmusiktradition, in der Variations- und Improvisationstechniken in Gebrauch waren. Die haben sie dann allerdings während ihres Gesangsstudiums abgelegt. Ich möchte diese Potentiale für die frühe Musik wieder nutzen. Also: Singt die Renaissance-Polyphonie mehr mit dem Ohr und mit den Ornamentierungen, Mikrointervallen und dem Tremolo  traditioneller Musik! Wir probieren das aus, experimentieren damit, finden heraus, ob und wo es Sinn macht. Die Partitur fungiert als eine Art Leitschnur, aber eigentlich singen wir die Noten über den Noten.

Wo liegt die rote Linie, die verhindert, dass es in reiner Beliebigkeit endet?

BS: Ein umfassenderes, tieferes  Verständnis der Musik ist  vonnöten. Wenn wir eine Lamentation singen, müssen wir erst einmal wissen: Was ist eine Lamentation? Welche Funktion hatte sie? In welchem sozialen Kontext war sie von Bedeutung? All diese Fragen gilt es im Auge zu behalten. Was bedeutet es, wenn in Estland – wir haben einen estischen Sänger in der Gruppe – eine Frau für einen Verstorbenen eine Lamentation singt? Sie benutzt dazu Singtechniken, Intervalle, die jedermann mit einer Totenklagen assoziiert. Wir gehen dann an eine Lamentation z.B. von Josquin Desprez mit der simplen Idee und klaren Vorstellung heran, was eine Lamentation eigentlich ausmacht: Wir versuchen den Tod eines Menschen gesanglich zu beklagen! Wir versuchen, diese affektive Verbindung herzustellen, diese fundamentalen menschlichen Gefühle auszudrücken. Es ist eine physische Sache. Wir wollen die Gefühle und die Nerven der Zuhörer berühren. Deshalb brauchen wir das Wissen über den Kontext und die Funktion der Musik, um diese Dimension deutlich zu machen, sie vielleicht sogar noch zu verstärken. Das kann man affektive Exegese nennen.

Björn Schmelzer & Graindelavoix: Guillaume De Machaut / Messe De Nostre Dame (Glossa) 
Björn Schmelzer & Graindelavoix: Cecus (Glossa)

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