Über
die Tradition hinaus
Der
Pianist Alexander Hawkins ist eines der großen Talente der britischen Jazzszene
cw. Die
Formel könnte aus der konzeptionellen Kunst stammen: ein Pianist spielt in
einem Stahlcontainer ein kurzes Stück für einen einzigen Zuhörer. Zwischen
riesigen Konzertzelten, Imbißbuden und CD-Verkaufsständen stand auf dem Gelände
des Cheltenham Jazzfestivals 2015 ein Metallbehälter mit der Aufschrift “jazz
in the box”. Darin stand ein Klavier. Hier fanden an zwei Nachmittagen
Blitzauftritte von ein paar der vielversprechensten Jazzpianisten
Großbritanniens statt. Alexander Hawkins war einer von ihnen. Als die Zeit für
mich als alleinigem Zuhörer im Minikonzert gekommen war, legte der junge
Tastenvirtuose aus Oxford ein pfiffiges Kabinettstückchen hin, das von
Ellington ausgehend, sich in eine perlende Tonkaskade verwandelte, um in einem
Freejazz-Orkan zu enden. Hundert Jahre Jazzgeschichte auf die Länge von drei
Minuten kondensiert – alle Hochachtung!
Am
Abend zuvor hatte Hawkins ein reguläres Konzert mit der Vokalistin Elaine Mitchener gegeben. Das
Programm bestand aus bekannten Jazzstandards, die auf derart originelle Weise
verfremdet wurden, dass sie auf ganz neue Art zu leuchten begannen. Hawkins
spannte den stilistischen Bogen weit, indem er geschickt die Tradition mit der
abstrakten Moderne verquirlte, was eines seiner Markenzeichen ist.
1981
in Oxford geboren, wuchs Alexander Hawkins in einer Familie auf, in der Jazz
zum Alltag gehörte. Am heimischen Klavier unternahm der Kleine erste
musikalische Gehversuche, die mit sechs zu regulärem Pianounterricht führten,
der bald von Orgelstunden abgelöst wurde. Im Teenageralter kam er auf den
Geschmack für die swingende Musik. Trotzdem schrieb er sich nach dem Abitur in
Cambridge nicht zum Musikstudium ein, sondern in Jura, das er mit dem
Doktortitel abschloß. Allerdings hatte bereits während der Studentenzeit die
Musik endgültig die Oberhand gewonnen, weshalb der Dr. jur. nun die Berufung
zum Beruf machte und Jazzprofi wurde.
Hawkins
kehrte nach Oxford zurück und tauchte in die kleine, aber vitale
Improvisationszene seiner Heimatstadt ein. Musiker wie der Klarinettist Alex
Ward und der Keyboarder Pat Thomas nahmen ihn unter die Fittiche. “Ich übte wie
ein Besessener, um das spielen zu können, was mir im Kopf herumspukte,”
erinnert sich der Pianist, dessen Übungseifer bis heute kaum nachgelassen hat.
“Ich nahm mir Bach und Scarlatti vor, um der Architektur der großen
Barockkompositionen auf die Spur zu kommen. Im Unterschied zum Jazz, der auf
die einzelne Note im Kontext eines bestimmten Akkords fixiert ist,
interessierte mich die übergreifende Konstruktion.”
Konzerte
in London brachten Hawkins in Kontakt mit dem alten Adel der britischen
Improvisationsszene: Lol Coxhill und Evan Parker wurden zu Mentoren, der
Drummer Louis Moholo-Moholo holte ihn in seine Band. “Es ist schon merkwürdig,
dass ich mit freier Improvisation ins Profimusikerleben einstieg, obwohl ich
mich Jahre lang intensiv mit der Jazztradition beschäftigt hatte,” wundert sich
der Pianist.
Bei
einem Aufenthalt in New York lernte Hawkins den Drummer Harris Eisenstadt und
den Kornettisten Taylor Ho Bynum kennen. Aus dieser Begegnung ging das
Convergence Quartet hervor, eine Gruppe, die die Nahtstelle zwischen notierter
Musik und freier Improvisation erkundet. “Offene Komposition” nennt Hawkins die
Herangehensweise.
Zur
Orgel – diesmal der Marke Hammond - kehrte er mit Decoy zurück, einem Trio mit
Steve Noble (drums) und John Edwards (Baß), das gelegentlich durch die
amerikanischen Saxofonisten Joe McPhee oder Marshall Allen vom Sun Ra Orchestra
erweitert wird und viel Kritikerlob einheimste. Hawkins gewann an Profil und
wurde in der englischen Musikpresse als “interessantester Hammondspieler der
letzten Dekade” gepriesen.
Obwohl
er weiterhin die spontane Begegnung bei Konzertauftritten oder im Studio sucht
(ob mit den Schlagzeugern Han Bennink oder Louis Moholo-Moholo, den
Saxofonisten John Surman bzw. Evan Parker oder wie beim Berliner Jazzfest 2016
mit dem amerikanischen Trompeter Wadada Leo Smith), stehen inzwischen die
eigenen Gruppen im Vordergrund. Sein sechsköpfiges Ensemble mit dem Violinisten
Dylan Bates (dem jüngeren Bruder von Django Bates) und dem Baßklarinettisten
Shabaka Hutchings besticht durch eigenwillige Klangfarben, wobei die
Arrangements viel Raum für spontanes Spiel lassen. “Meine Kompositionen sollen
die Autonomie der Musiker nicht einschränken, sondern fördern und vergrößern,”
erklärt der Bandleader.
Das
Rhythmusgespann seines Sextetts (Tom Skinner, Schlagzeug und Neil Charles, Baß)
die ebenfalls in der Ethiojazz-Combo des äthiopischen Vibrafonisten Mulatu
Astatke für den Groove sorgt, ist auch im Alexander Hawkins Trio für die
rhythmische Basis zuständig, obwohl die Rollen eigentlich laufend wechseln.
Dabei geht das Trio nicht in die gleiche Richtung wie viele der aktuellen
Jazzpianotrios - Hawkins schwebt etwas anderes vor. Sein Konzept zielt auf
individuelle Unabhängigkeit in der Einheit als Gruppe: “Jedes Mitglied folgt
seinem eigenen Kompass, ohne dass wir uns laufend aufeinander beziehen, wobei
die Musik dennoch zu einem geschlossenen Ganzen wird.”
Zu
den Gruppenaktivitäten kommen vermehrt Soloauftritte hinzu, bei denen Hawkins
mit seinen profunden Kenntnisse der Jazztradition wuchern kann. Er liebt diese
Dekonstruktionen der Tradition, wobei er die Kompositionen, ob von Ellington
oder Monk, in ihre Einzelteile zerlegt, um sie danach wieder - simsalabim - zusammenzubauen. Das geschieht
alles völlig organisch - wie von Zauberhand! Allein auf der Bühne zu stehen,
empfindet der Pianist jedesmal wieder als neue Herausforderung, gilt es doch,
die Furcht vor der Stille nicht panisch mit einem Schwall von Noten
zuzukleistern, sondern mit Ruhe, Konzentration und Verstand ans Werk zu gehen.
Auswahldiskographie:
Alexander Hawkins & Evan Parker: Leaps in Leicester (Clean Feed)
Alexander
Hawkins Ensemble: Step Wide, Step Deep (Babel)
Alexander
Hwakins Trio (AH Music)
Alexander Hawkins: Solo Piano - Song Singular
(Babel)
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