Lebensfreude und lockere Sitten
Eine CD-Box feiert die musikalische Vielfalt der Stadt am Mississippi
Professor Longhair 1971 (Foto: John Messina)
cw. Nirgendwo sonst wird die Klarinette mit so viel Vibrato gespielt wie in New Orleans, dem Ort, wo um 1900 der „Jass“ erfunden wurde. Kein Wunder, dass Sidney Bechet, der später aufs Sopransaxofon umstieg, aus der Stadt am Mississippi kam. Zusammen mit Louis Armstrong und King Oliver machte Bechet die „hot music“ zuerst in den USA und dann auf der ganzen Welt bekannt.
Doch New Orleans steht nicht allein für Jazz. Eine Vielzahl anderer Musikstile sorgt für Ausgelassenheit bei Straßenfesten, kirchlichen Prozessionen und beim Karneval. Blaskapellen, Gospelchöre, Barrelhouse-Pianisten und Blues-Troubadoure, dazu die buntdekorierten Mardi Gras-Indianer mit ihren Ruf-Antwort-Gesängen – sie alle prägen das Klangbild der Stadt, in welchem auch Rhythm & Blues, Rock ‘n’ Roll, Soul und Funk eine wichtige Rolle spielen.
Als katholische Enklave im puritanischen Amerika war New Orleans einst für seine Lebensfreude, Festkultur und lockeren Sitten bekannt, die ideale Brutstätte für eine Musik ganz dicht am Puls der Zeit, wie sie in Kaschemmen und Tavernen, bei Hochzeiten und Beerdigungen, beim Karneval und bei Hausparties gebraucht wurde. Dazu kam der Einfluß französischer Kultur und Lebensart. In „Nouvelle Orlèans“ wurde französisch gesprochen, es gab mehrere Theater und Opernhäuser, was die „Crescent City“ zur europäischsten Stadt in den USA machte. Die schwärzeste war sie ohnehin. Nirgendwo sonst lebten soviele „people of color“, manche als Freie, andere als Sklaven, von denen etliche sich nach der Revolution von Haiti (1791-1804) hier in Sicherheit brachten.
Einer, der die verschiedenen Traditionslinien auf geniale Weise verband, war der Pianist Professor Longhair, in dessen Musik europäische Tastenartistik mit den Rhythmen der Karibik (Rhumba, Mambo, Habanera) und den „Blue Notes“ der Bluestradition zu einem einzigartigen Personalstil verschmolz, dem seinHeulgesang noch die Krone aufsetzte. Henry Byrd, so sein bürgerlicher Name, den alle „Fess“ nannten, galt als „Piano God of New Orleans“. Bis heute ahmen Pianisten seine polyrhythmische Spielweise nach. Longhair war Teil einer städtischen Kultur, in der das Klavier einen hohen Stellenwert besaß. In New Orleans, so hieß es, stünde in jedem Haushalt ein Piano.
Neben dem Jazz und der speziellen Art des Bluespianospiels hat auch der Funk in New Orleans seinen Ursprung. In den 1960er Jahren entwickelte die Gruppe The Meters eine betont rhythmische Spielweise, bei der Baßgitarre, Schlagzeug und die Akkorde von Gitarre, Orgel und Clavinet mit der Präzision eines Uhrwerks ineinander griffen. Art Neville war der Organist der Meters, der später mit seinen Brüdern, den Neville Brothers, die Technik noch perfektionierte. Inzwischen wird in New Orleans jeder Stil „funky“ gespielt. Selbst die religiöse Gospelmusik klingt „schmutzig“ und arbeitet mit trockenem Schlagzeugbeat und den Synkopen der schnappenden Baßseiten.
Als alljährliches Aushängeschild für die musikalische Aktivitäten der Stadt fungiert das New Orleans Jazz & Heritage Festival, das dieses Jahr zum 50. Mal stattfand. Jedes Jahr Ende April bietet das „Jazz Fest“ eine Bühne für all jene Stile, die bis heute im Leben der „Crescent City“ eine Rolle spielen. Dazu kommt die Cajun- und Zydeco-Musik aus den Sümpfen von Louisiana, gespielt mit Akkordeon und Waschbrett, die hier inzwischen auch Wurzeln geschlagen hat. Eine Box von fünf CDs mit einem dickleibigen Booklet bietet ‘Live’-Aufnahmen aus einem halben Jahrhundert, wobei alle bedeutenden Strömungen und deren Hauptprotagonisten vertreten sind.
Immer wieder wird in Songs direkt auf die qualvollen Erfahrungen nach den Verwüstungen von „Hurricane Katrina“ eingegangen, eine Katastrophe, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Hafenstadt eingebrannt hat, wobei das „Jazz Fest“ vielleicht einen kleinen Beitrag leisten kann, das Trauma zu bewältigen.
Jazz Fest – The New Orleans Jazz & Heritage Festival (Smithsonian Folkways Recordings)