Tuesday, 29 December 2020

Mani Neumeier: Krautrock-Urgestein wird 80

 „Gestatten – ich bin der Elektrolurch!”

 

Guru Guru-Bandleader Mani Neumeier wird achtzig – der Drummer gilt als Urvater des Krautrock

 


 


cw. In den 60er und 70er Jahren spielte er ganz vorne mit. Mani Neumeier galt neben den Monsterdrummern Ginger Baker (Cream) und Jon Hiseman (Colosseum) als einer der besten Schlagzeuger zwischen Jazz und Rock. Mit seinem originellen und kraftvollen Trommelspiel prägte er den Sound der Rockgruppe Guru Guru. Die Band war eine der profiliertesten Formationen des deutschen Underground und erregte selbst in Großbritannien und Frankreich Aufsehen. Am 31. Dezember wird der Schlagzeuger aus dem Odenwald 80 Jahre alt.

 

Neben seinen Trommelkünsten profilierte sich Mani Neumeier als versierter Entertainer. Er war einer der wenigen, der es verstand, psychedelische Sounds mit Schabernack und fröhlicher Ausgelassenheit zu verbinden. Mit dem „Elektrolurch” schuf er eine Bühnenfigur, die lange bei Auftritten für Spaß und gute Laune sorgte. Wenn sich Neumeier die bunte Maske mit üppigen Kopfschmuck überstülpte und auf der Bühne herumtollte, geriet das Publikum regelmäßig aus dem Häuschen.

 

Jazz war Neumeiers erste Leidenschaft. 1940 in München geboren, kehrte er 1953 nach der Scheidung der Eltern mit seiner Schweizer Mutter nach Zürich zurück. Hier absolvierte er eine Klempner-Lehre und fing mit 17 mit dem Schlagzeugspiel an. Ein Auftritt von Louis Armstrong brachte ihn zum Jazz. 1963 traf der junge Drummer die Pianistin Irène Schweizer und absolvierte erste Auftritte mit deren Trio. Tagsüber schuftete Neumeier auf dem Bau, nachts trat er in Jazzkellern auf. Immer tiefer tauchte er in die aufkeimende Freejazz-Szene ein. Er spielt mit dem Manfred Schoof Quintett, mit Alexander von Schlippenbachs Globe Unity Orchestra und Wolfgang Dauner. 

 

„Ich war der erste Drummer in Europa, der frei spielte,“ meint er heute selbstbewußt. Allerdings war das Jazzpublikum überschaubar, und Neumeier wollte höher hinaus. 1968 sagte er dem Jazz ade und gründete die Rockgruppe Guru Guru. “Wir waren wegen Jimi Hendrix von den Klänge fasziniert, die man mit elektrischen Instrumenten und Verstärkern machen konnte,“ erinnert er sich. Die Band hatte mit ihren wilden Sounds Erfolg, die oft unter Drogeneinfluß produziert wurden. Das kam an. Über Jahre füllte Guru Guru die mittelgroßen Hallen in der Bundesrepublik, obwohl der große Durchbruch aufs internationale Parkett nie gelang.  

                     Mani Neumeier bei einer Straßenaktion anläßlich der Internationalen Essener Songtage 1968



 

Guru Guru stand über Jahrzehnte im Zentrum von Neumeiers Aktivitäten. Dazu kamen Seitenprojekte, ob mit Conny Plank, Dieter Möbius oder Musikern der Gruppe Kraan. Vor allem die ethnischen Klänge Asiens zogen ihn mehr und mehr in den Bann. Indische Trommeln, balinesische Gamelan-Musik, japanisches Gagaku. Der Tavil-Trommler Paramashivan Pillai wohnte zeitweise in der Guru Guru-Kommune im Odenwald und weihte Neumeier in die Geheimnisse der indischen Trommelkunst ein. Lange Jahre verbrachte Neumeier den Winter in Indien. 

 

Obwohl die Blütezeit längst vorbei ist, hält Neumeier das Banner des „Krautrock” weiterhin hoch. Vor allem in Japan steht er noch immer hoch im Kurs. Junge Musiker dort vergöttern ihn als einer der Urväter des Underground. Mit Mitgliedern der japanischen Rockgruppe Acid Mother Tempel hat er das Powertrio Acidmotherguruguru gegründet. Auch mit 80 Jahren und 60 Jahren auf der Bühne denkt Mani Neumeier noch lange nicht ans Aufhören.

Monday, 28 December 2020

Simon Steiner: Nachruf auf Solon Lekkas (1946 – 2020)

Gastbeitrag von Simon Steiner


Musik aus der Seele 

Solon Lekkas: Erinnerungen an einen Musiker von der Insel Lesbos

 



"Singen ist wie schwimmen" (Solon Lekkas)

 

 Solon Lekkas wurde 1946 in Pigi, Lesbos, geboren und starb im Juli 2020 an Krebs. Sein Vater war Arvanite, seine Mutter hatte kleinasiatische Wurzeln. Solon war überzeugter Autodidakt und kein Notist, seine Musik kam, so Solon, aus seiner Seele. Er trommelte auf der Toumbeleki, sang in einem einzigartigen Stil traditionelle Lieder seiner Insel, Lieder aus Kleinasien, Amanes und Rembetika. Schon als Kind war er von den Einschlafliedern und Frauen-Gesängen aus Hinterhöfen, Karnevalsumzügen und den Weisen der alten Männer in Kafenions fasziniert. Solon war Baumeister und Steinmetz, errichtete aus Naturstein Brunnen, Kapellen, Öfen und Trockenmauern, die die Oliven-Hänge sicherten. "Stein und Musik sind gleich", sagte Lekkas und sang oder pfiff, wenn er mauerte. Lekkas war Selbstversorger, Wein, Ouzo, Öl, Brot, Käse, er stellte alles selbst her. Er besaß Ziegen und Hühner und ritt auf seinem Esel. Am liebsten sang Solon in kleinen Tavernen im engeren Kreis, denn sein feeling konnte er nicht auf Befehl ausdrücken. Als er seinen Wehrdienst ausübte, wurde er eher zum Mikrophon als zur Waffe zitiert.

 

Von 1996 bis 1997 sang er regelmäßig in der Taverne "Boudroumi" in Mytilene. Dort traf er Profis und Amateur-Musiker aus Lesbos, aus Griechenland und der Türkei. Solonas ' Tavernen-Auftritte auf Lesbos waren überschaubar. Im Rahmen von touristischen Festivals oder Folklore-Aufführungen, wie dem Ouzo-Festival auf Lesbos wurde er - aus Nostalgie - ins Rampenlicht gehievt. Begehrter war er in Thessaloniki und Athen, in anderen Teilen Griechenlands und im Ausland, wo er regelmäßig auftrat und als Marke für das wahre Östliche und Exotische stand.

 

Solon produzierte in Eigenregie 5 CD, die er in Anspielung auf den athenischen Staatsmann Solon  "Die Gesetze von Solon" nannte und auf Konzerten anbot. Das Label Music Corner veröffentlichte dazu eine Compilation: "I nomi tou Solona" (Songs from Mytilini / Lesvos & Minor Asia)

2000 erscheint im Rahmen eines Forschungsprogramms seine Aufnahme "Ark of the Aegean" mit 14 Songs über den Alltag, Feste und Feiern auf Lesbos. Lekkas wird schließlich personifizierte Quelle für die Geschichtsforschung: Feldstudien, Vorträge, Fernsehshows und Dokumentarfilme, z.B. "Methexis" und "Solos, taximi in time" fokussieren sich auf Lekkas. 2011 wurde die CD "The Laws of Solon" mit musikwissenschaftlichem Begleitheft veröffentlicht.

 



Wer Videoclips mit Solonas Lekkas anschaut, bekommt Lust, den Kühlschrank nach griechischen Häppchen, nach Oliven, Tomate, Käse und Ouzo - d  a  s   Getränk aus Lesbos -  zu inspizieren. "Du kannst nicht mit Kaffee singen ... Musik und Ouzo sind Brüder!" Lekkas verkörpert die Sehnsucht nach Sonne, Erde und Meer und lenkt ab von schnellen Moden und Beliebigkeit, Krise, Globalisierung oder Massentourismus. Lekkas singt und tanzt, gestikuliert und spielt mit Symbolen. In seiner alten Tracht und mit seiner urigen Physiognomie wirkt er authentisch und sein schelmischer Blick wirkt verschmitzt. Wenn er aber dirigiert und gestikuliert und sich alles nur noch um ihn dreht spürt man, dass sich eine große musikalische Persönlichkeit authentisch präsentiert und nicht künstlich inszeniert wird.

 

Seine Begleitmusiker spielen meist auf Instrumenten, auf denen Mikronoten erklingen können: Oud, Santur, Kanun oder Viola haben in den Ohren von Westeuropäern einen orientalischen Touch. Lekkas tanzt Syrto - oder Zeimbekiko-Einlagen, kreist, kauert, kniet ... . Plötzlich erhöht Lekkas per Oktavsprung seine Stimme, als ob sich ein Pferd aufbäumt und Solon schießt in die Höhe. Die  traurigen, fernöstlichen Amanes klingen nach Schmerz und Leid. Seine Amanes (s. Gastbeitrag von Simon Steiner http://christophwagnermusic.blogspot.com/2020/12/das-kosmopolitische-smyrna-und-seine.html) machten ihn einzigartig. Er gehörte zu den Wenigen, die sich trauten, in Ausnahmefällen spontan los zu singen und er hat Verständnis für die seltene Interpretation der Amanes, "weil nur wenige sie aufgrund ihrer Schwierigkeit ausprobieren."

 

In Lekkas verschwimmen vergangene Kriege, verlorene Territorien, Kontinente und Traditionen ala turka und ala greca. Lesbos ist nur wenige Seemeilen von der Türkei entfernt: "Es ist genau gegenüber, wir machen die gleiche Musik!" sagte Lekkas. Er sang auf griechisch und auf türkisch aber griechischen Weisen verpasste er immer einen Hauch ala turka, obwohl er argumentierte, die griechischen Amanes wären "byzantinisch, viel sanfter". In ihm sind die Wurzeln Griechenlands, Kleinasiens und das alltägliche Leben der Insel Lesbos gegenwärtig. Und doch ist es viel mehr als Folklore, wenn er auf seinem Pferd daher reitet, alte Geschichten im Dialekt erzählt, wenn er live auf seine Häppchen, verweist: "Alles aus Mytilini!" Traditionen werden wiederbelebt und das Leben erscheint stabil und unveränderlich. Alte Rituale haben Gültigkeit!

 

Solon bevorzugte für Live-Auftritte ein traditionelles Männerkostüm der Insel, mit dem er vergangene Tage bewusst idealisierte: Schwarzer Reithose, schwarze Weste und ein schwarzes oder weißes Hemd. Ein schwarzer Gürtel hält die Hose und auch bestimmte rituelle Gegenstände wie ein Messer. Auch Socken und Stiefel, der "Kalpaki" oder "Katsoula", der Pelzhut waren schwarz. Solons Lieblingsaccessoires waren ein Rosenkranz (Komboloi) und ein roter Schal, den er auch als gewickeltes Kopftuch trug.

                                                           

Tourismus, Medien und Handel europäisierten Lesbos. Die Destillerien der Insel decken etwa 50 % der gesamten griechischen Ouzo-Produktion. Die Haupteinnahmequelle ist das qualitativ hochwertige Olivenöl aus 11 Millionen Bäumen. Die Insel erlangte als ein Symbol der Flüchtlingskrise in Europa internationale Medienaufmerksamkeit. Musik, Kulinarisches aus Lesbos, Traditionen und Authentizität sind nicht nur medial gefragt. Die Menschen im In - und Ausland lieben konservative Persönlichkeiten wie Solon Lekkas. Er wird in die Geschichte der Insel eingehen und ist ein Meilenstein griechischer Musik.

 

 

 

 

Dieser Artikel basiert auf der Arbeit von Dora Spetsioti:

 "SOLONAS FROM MYTILINI ARTISTIC PRESENCE, PERFORMANCE, SYMBOLS".

Arta, Juni, 2020

 

Playlist von Dora Spetsioti,

https://www.youtube.com/playlist?list=PLOQwQhWSvGQGGdwXvkl4Kjo0rjSJfL1He

 

Solon und der typische Insel-Tourismus:

https://www.youtube.com/watch?v=apoRBmbFOkA&feature=youtu.be

 

Ein Dokumentarfilm über Solonas Lekkas von seinem Freund Giannis Adrimis:

https://vimeo.com/204579133

Solon Lekkas auf Instagram:

https://www.instagram.com/explore/tags/solonlekkas/

Saturday, 26 December 2020

Eine Fundsache zwischen den Jahren: DIE HANDHARFE von ROBERT WALSER


Handharfe ist ein antiquierter Ausdruck für Handharmonika, gemeint ist also die Ziehharmonika, auch Akkordeon genannt.

Sunday, 20 December 2020

Das war 2020

Best of 2020:

Jazz:

James Brandon Lewis & Chad Taylor: Live in Willisau (Intakt)

Eric Revis: Slipknots through a Looking Glass (Pyroclastic Records)

Sun Ra Arkestra: Swirling (Strut)

 



Experimental:

Samuel Rohrer: Continual Decentering (arjunamusic)

Mahan Esfahani: Musique? (Hyperion)

Martin Mallaun: Stimmungen (Loewenhertz)

 

Klassik:

Trio Zimmermann: Goldberg Variations (BIS Records)

Rudolf Buchbinder: Beethoven – Diabelli Project (Deutsche Grammophon)

 

Querbeet:

Embryo Trio: Live Behind the Green Door (Permakultur)

Kronos Quartet & Friends: Celebrate Pete Seeger – Long Time Passing (Smithsonian/Folkways)

 

Early Music:

Graindelavoix : Gesualdo - Tenebrae (Glossa) 

 

Roots:

The Harry Smith B-Sides (Dust To Digital)

 

Motto:

Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor

 

 

Wednesday, 9 December 2020

GEISTERTÖNE erschienen

Ab jetzt in jeder Buchhandlung:
 




Der alte Klang von Thessaloniki

Polyglotte Vielstimmigkeit

 

Die griechische Vokalistin Savina Yannatou verbindet Folklore, Jazz und gewagte Improvisationen auf vielfältige Weise


 

cw. “Die Lieder sind eine melancholische Erinnerung, die als Utopie in die Zukunft scheint”, sagt Savina Yannatou über ihr “Thessaloniki”-Programm. Mit der Gruppe Primavera en Salonico hat die Sängerin aus Athen seit Jahren Lieder des Mittelmeerraums und des Balkans gesammelt, erforscht und aufgeführt. Die Songs, die von Thessaloniki handeln, haben sie nun zu einem Programm zusammengestellt, das als eine Hommage an das multikulturelle Erbe der nordgriechischen Hafenstadt zu verstehen ist und ungeheuer bunt und vielfältig klingt. 

 

Die Songs stammen aus der Epoche vor dem 1. Weltkrieg, als Thessaloniki noch zum osmanischen Reich gehörte und Selanik hieß. Damals lebten Griechen, Türken, Roma, Bulgaren, Serben, Mazdeonier, pontische Griechen, Sephardim und Armenier einigermaßen friedlich in der Stadt, wobei jede Volksgruppe ihre eigenen Bräuche, Dialekte und Sprachen sowie ihre eigene Musik und Lieder pflegte. Laut Zensus aus dem Jahr 1913 waren die Juden mit knapp 40 % die größte religiöse Gruppe, gefolgt von Muslimen (ca. 30%) und christlich-orthodoxen  Griechen (ca. 25%). Das machte Thessaloniki zu einem kosmopolitschen Schmelztiegel, einem polyglotten Laboratorium kultureller Diversität. Manche betrachteten “Salonicco” als eine jüdische Stadt mit orientalischer Flair und kosmopolitischer Amosphäre, als “kleines Jerusalem an der Ägäis.” Damals sprühte das städtische Leben vor Aktivitäten und Geschäftigkeit, neue Ideen zirkulierten, die sich an westlichen Werten orientierten.

 

So reichhaltig das Gewirr der Stimmen, Sprachen und Dialekte, so vielfältig waren die musikalischen Stile, die sich an dieser Schnittstelle zwischen Orient und Okzident begegneten und vermischten: Sephardische Lieder, orientalische Melodien, die Gesänge der Kantoren, sowie Tanzweisen vom Balkan waren zu vernehmen. Auch erste Rembetiko-Nummern schallten durch die hügelige Altstadt oder wurden in den Café-Amans und Tavernen der Unterstadt am Hafen angestimmt. Als Ursprungsort des Rembetiko gilt die Festung Eptapyrgio auf der Akropolis Thessalonikis, einst als Gefängnis genutzt, wo dieser Stil der zwielichten Halbwelt von inhaftierten Ganoven, Haschischrauchern, Streunern und Taschendieben Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt worden sein soll. Aus diesem “Melting Pot” an Liedern und Melodien schöpfen Savina Yannatou und Primavera en Salonico ihr Programm.

 

Neue Instrumente und Klänge, wie das Akkordeon, die Klarinette und die Geige, fanden ihren Weg ins traditionelle Repertoire, auch orientalische Klangerzeuger wie die Ney-Flöte, die Laute Oud sowie die Qanun-Zither wurden benutzt. Das alles verschmolz zu einem großen musikalischen Esperanto. Savina Yannatou setzt mit dem Primavera en Salonico-Ensemble die Klänge auf überzeugende Weise ins Szene, reichern sie mit eigenen Ideen und Improvisationen an. “Es ist der Blick auf das historische Thessaloniki durch die Augen der verschiedenen Volksgruppen und beinhaltet Klagelieder, Liebeslieder und Heimweh-Lieder, die oft eine metaphorische Bedeutung besitzen. In ihnen kreuzt sich das Schicksal der Menschen mit dem Schicksal der Stadt,” erklärt die Sängerin.  

 

Eine Serie von “Katastrophen” mit Kriegen, Zwangsumsiedlungen, Deportationen, Genoziden und schließlich dem Holocaust, dem die meisten der über 60000 jüdischen Einwohner von Thessaloniki zum Opfer fielen, zerstörte das multikulturelle Gewebe der Stadt. “Es geht darum: Nicht zu vergessen!”, sagt Savina Yannatou, “nicht das kosmopolitische Erbe, nicht die polyglotte Vielfalt, nicht die Opfer von Krieg, Gewalt und Rassenwahn.” 

 

Savina Yannatou & Primavera en Salonico: Songs of Thessaloniki (ECM)


 

Nachruf: Harold Budd - Erfinder der Ambient Music

 Zum Tod von Harold Budd (1936 – 2020)

 



cw. Ich hab ihn nur einmal für ein Interview getroffen, in Manchester Mitte der 1990er Jahre muß das gewesen sein, und es war vielleicht das beste Interview, dass ich je gemacht habe. Das lag nicht an mir, sondern an Harold Budd, der meine Fragen konzentriert, ruhig und knapp beantwortete, wobei er mir ganz nebenbei das Gefühl vermittelte, Bedeutsames gefragt zu haben. Ich verabschiedete mich nach einer Stunde in äußerst guter Stimmung.

Er erzählte von seinen frühen konzeptionellen Arbeiten (“schlage einen Gong ganz leise unendlich lange an“), und was er damals unter der Praxis der Ambient Music verstand, als deren Erfinder er ja gilt. In freundlichem Ton unterstrich er seine Vorliebe für eine Kunst, die leicht zu machen ist, dabei einfach und nicht kompliziert ist. “Das kommt mir menschlicher vor“, meinte er. Ich bin mir nicht sicher, aber der Mann aus Kalifornien schien Buddhist zu sein und mit allen Wassern der Kunsttheorie gewaschen.

 

Ich habe dann später John Foxx in einem Londoner Studio besucht, als der ehemalige Sänger von Ultravox an einem Dreier-Album mit Pianomusik von Harold Budd arbeitete, d.h. im Studio mit Reverb (Hall) das äußerst simple Klavierspiel in ein Bad des Wohlklangs tauchte. Es kam wohl dem recht nahe, was Budd unter “pretty music“ verstand: schöne, süße Klänge! “As pretty as possible“, pflegte er zu sagen. 


Sein Ansatz ist als Herausforderung an all diejenigen zu begreifen, die sich als Avantgardisten mißverstehen, weil sie meinen, experimentelle Musik müsste garstig, verzerrt und extrem schrill klingen, kurz gesagt Bürgerschreckmusik sein! “Pustekuchen!” hätte Harold Budd gelassen eingewandt. Dabei war er selbstverständlich der Meinung, dass die Welt groß genug sei für eine Vielfalt von ästhetischen Ansätzen und Positionen.

Simon Steiner: Das kosmopolitische Smyrna und seine Musik


Gastbeitrag von Simon Steiner


Das kosmopolitische Cafe Aman und die Amanes aus Smyrna (Izmir)

 

"Griechenland war und ist musikalisch ein Teil des sog. Orients". (Joannis Zelepos)

 

 


Mit der Zeitmaschine nach Smyrna (Izmir) um 1860

 

Der springende Punkt ist das Kommen und Gehen, das Austauschen von Sprachen und Dialekten, verschiedene Menschen strömen von überall ins Kaffeehaus des Ostens, ins Cafe Aman. Griechen und Türken, Serben und Bulgaren, Armenier, Araber und Italiener, alle tummeln sich im Cafe Aman (Aman: arab.-türkisch = Barmherzigkeit, Mitgefühl oder aus dem Türkischen man = Vierzeiler) und zelebrieren Klagelieder, die Amanes. 

 

Anis - und Walnuss-Säcke lehnen an der Wand, es duftet nach Ouzo und Mokka und qualmende Wasserpfeifen hüllen die Kneipe in Rauch. Manche spielen Karten oder treiben es im Separee frivol. Schurken, Seeleute, Fischer, Marktarbeiter und Händler sitzen zusammen und warten auf den Zauber von Tanz und Musik. Wenn ein Wandermusiker aus Neapel Mandoline spielt, schwingen in ihm die Kantaten seiner Heimat mit, er lauschte Romanzen, Serenaden oder schnappte ein paar Walzertakte auf und er hat kein Problem, sich auf die osmanischen Klänge eines Oud-Spielers einzulassen, der mit einer ganzen Horde türkischer Nomaden herum hängt. Er sitzt hier mit Fez und Fustanella, er riecht nach Kamel und Esel und wartet auf den Einsatz eines Violinisten oder eines Kanun (Zither) - oder Santur (Hackbrett) - Spielers. Ein Gyftos (Gipsy) befeuchtet das Mundstück seiner Klarinette, ein Serbe schleppt eine gigantische Davul-Trommel über den Mosaikboden und ein Grieche spielt Lyra. Eine Gruppe Derwische hat es aus einem Kloster in die Stadt verschlagen und sie warten auf Klänge, die sie in Ekstase treiben. Ein Armenier spielt eine alte Volksweise auf einer Duduk (Holzrohr) und ein Freiheitskämpfer, ein Klefte berauscht sich erst einmal mit Wein. Vornehme Oper und Operette waren keine Fremdwörter, denn nicht Wenige hatten den Zeitgeist und die Musik, die sich nicht aufhalten lässt mitbekommen, egal ob Habanera, rumänische Manea oder Horo aus dem Balkan.... . Im Cafe Aman trifft sich Gott und die Welt, ein buntes Treiben: Araber, Levantiner, Juden mit ihren Klezmer-Songs, Türken, Griechen. Frauen singen und begleiten sich mit Tamburin, Holzlöffel oder Finger-Zimbeln und erregen diese Art Ballroom mit ihrem erotischen Bauchtanz Tsifteteli. Dagegen wirkt der herrische Zeybekiko der Freischärler und Partisanen furchterregend aber die Paar-Tänze Karsilamas, der Metzgertanz Hasapiko und der Kreistanz Kalamatianos fühlen sich geschmeidig an. Die Koexistenz aus Mentalitäten, Religionen, Schichten, Kulturen, Instrumenten und Stile sollte später zur Keimzelle des Rembetiko werden.

 

Ein weltoffener Mix

 

Jeder Wandermusiker steht für eine Tradition: Westeuropäische Weisen la franka, osmanische Klänge ala turka, griechische Verse ala greca und Balkanmusik vermischten sich. Südosteuropa und der Vordere Orient bildeten musikalisch  einen Großraum. "Griechenland war und ist musikalisch ein Teil des sog. Orients". (Joannis Zelepos). Die Cafe Aman als stilvolle Kaffeehäuser entstanden nicht von heute auf morgen: Im Laufe der Zeit entwickelten sich Bretterbuden, Kneipen, Spelunken oder Tavernen zu schicken Salons. Es wurde angebaut, vergrößert und aufgestockt, Bühne und Zuschauerränge wurden gezimmert, reich geschmückt mit Teppichen, Vorhängen, Säulen und Kacheln. Ein Musiktheater in großem Stil, in dem die Kompanias, die ersten Bands dieser Art und später Orchester live auftraten und ein neues Musik Genre entfalteten.

 

                                                         Das Cafe AMAN



 

Amanes beginnen meist mit einem Taximi, einer (kontrolliert) improvisierten Reise auf Viola und anderen Streichinstrumenten oder Santur. Grundlage sind die Straßen oder Wege (gr. dhromoi), wie u.a. Chitzas, Ousak oder Rast. Es wird immer nur eine Melodielinie oder Skala verwendet. Das besondere Merkmal eines Amanes ist der Ausruf "aman aman!" (Gnade), der mit musikalischen Verzierungen anfangs ohne, später mit rhythmischer Begleitung umspielt wird. Die Ausrufe können auch verzweifelte "ach", "och" oder nur ein schmerzhaft in die Länge gedehntes "A", "aaahhh" sein. Verzweifelte Bemerkungen oder Aufmunterungen, teils auf arabisch ("tsimi rimbi giala") können auch von einer zweiten Stimme eingestreut werden, die der Seele befreienden Trost spenden soll. Der eigentliche Melodiebogen, der Makam (arab.-persisch, türk.) enthält per Gesang oder Streichinstrument gezogene Viertelnoten oder Mikronoten und klingt deshalb für nicht wenige West-Europäer "orientalisch", als wäre das Instrument verstimmt. Für Instrumente ohne Bünde, Streichinstrumente wie Geige, Gambe, Cello oder Oud kein Problem. Die angewandten Melismen (griech. melos: Lied, Weise, Gesang) bezeichnen Tonfolgen oder Melodien, die auf einer Silbe oder einem Vokal gesungen werden. Der Musikwissenschaftler Niko Ordoulidis beschäftigt sich mit der Unterscheidung von Makam und dhromoi. Erstaunlich: Ein immer wiederkehrendes Schema, das aus dieser Zeit stammt, wird im Rembetiko bis heute gespielt und fungiert als Widmung und Wiedererkennung. Wie ein Weckruf aus alten Zeiten, der sich für jeden Griechen selbstverständlich anhört (vgl. Musikbeispiel Glykeria ab 0:38). Das Wort Aman ist heute noch alltäglich: "Ach Mann" oder "Oh jeh" oder "Oh Gott!"wären in etwa geeignete Übersetzungen. Für kleinasiatische Amanes gibt es mehrere inhaltliche Kategorien, z.B. erotische Amanes, Gute Nacht Amanes, Gefängnis Amanes, Sultan Amanes, Amanes zu den dhromoi/Makams, Amanes der Hirten und Reisenden, Amanes für Feierlichkeiten, Freude und Tänze, militärische Amanes aber auch Amanes aus der Athener Ära  ... . Verkürzt könnte man vielleicht sagen: Amanes sind griechische Texte in türkischer Musik; gemeinsames kleinasiatisches Gedächtnis von Türken und Griechen, mit  Farbtupfer anderer Kulturen.

Empfindungen wie Verzweiflung und Qual, Elend und Schmerz, Schicksal, Untreue, existentielle Nöte wie Armut, Trunkenheit, Drogenabhängigkeit, Verluste und die allgemeine Ungerechtigkeit des Lebens bilden den inhaltlichen emotionalen Themenkreis der Amanes. Politische Ereignisse wie Krieg und Unterdrückung durch die Osmanische Besatzung, Macht und Herrschaft, Migration, Staatsbankrott, Balkankriege und die Trauer um das Exil stimmen ohnmächtig und finden durch  Amanes Erleichterung.


Quay von Smyrna

 

 

 

Smyrna zwischen 1870 und 1922                                           


Karawanen, Schiffe fränkischer Kaufleute und die Eisenbahn verbanden die Handelsmetropole Smyrna seit dem 17. Jahrhundert mit Europa. Das wohlhabende Smyrna der Belle Epoque hatte sich herausgeputzt, Geschäfte und Handel florierten und ermöglichten ein Dolce Vita! Die alten Postkarten in Pastelltönen wirken heiter. Der Quai bildete Smyrnas europäische Fassade: An der Promenade stand das berühmte Cafe de Paris, das Cafe de Boston, das Cafe John Bull, der griechischen Club Cercle levantin und Brauereigaststätten. Orchester mit Absolventen europäischer Konservatorien, Chöre, Buchverlage, Clubs und Casinos, die Vereine Panionios und Apollo, das Theater Efterpi, in dem französische und italienische Melodramatruppen auftraten, 11 Zeitungen (3 türkische, 3 griechische, 4 französische, 1 spanische) und zwei Magazine (griechisch, armenisch) hüllten Smyrna in eine kosmopolitische Atmosphäre.

Vor der Kleinasiatischen Katastrophe 1922 hatte Smyrna ca. 350 000 Einwohner, die Hälfte waren Griechen, ca. 80 000 waren Osmanen, ca. 55 000 Juden, ca. 40 000 waren Armenier und 6 000 Levantes, d.h. Europäer, die sich niedergelassen hatten, wie z.B. Italiener, die die Oper und neapolitanische Lieder und Kantaten mitbrachten. Die sog. Franken lebten in einem Viertel unmittelbar am Hafen, orthodoxe Griechen und Armenier siedelten in eigenen Quartieren ebenfalls in der Unterstadt und die steilen Hänge hinauf zog sich der jüdische und der von Türken bewohnte muslimische Stadtteil. Die Nichtmuslime stellten die Mehrheit der Bevölkerung, weshalb die Türken vom ungläubigen Smyrna sprachen. Während Musik die Menschen verbinden konnte, wurden im Alltag viele Levantiner als Halborientale verunglimpft. Ihre mit französischen, italienischen und türkischen Worten durchsetzte Sprache wurde als Bastard-Sprache benannt. Eine weitere Barriere: Griechen und Türken standen sich seit dem griechischen Aufstand von 1821 mit Misstrauen gegenüber, die aber von gemeinsamen Geschäftsinteressen überlagert wurden. 

 

 

Einflüsse aus Spanien und Italien

 

Das Estudiantina Ensemble bestand aus spanischen Universitätsstudenten. Sie stellten ihr Programm 1886 in Konstantinopel Sultan Abdülhamid II. vor. Das kleine Orchester weilte einige Zeit in Konstantinopel und Smyrna und beeinflusste die dortige Musikszene. Die typische Zusammensetzung der spanischen Estudiantinas bestand vorrangig aus Gitarren, italienischen Mandolinen und manchmal auch Bläsern. Die erste bekannte griechischsprachige Estudiantina wurde von Aristidis Peristeris und Vasilios Sideris gegründet. Sie nannten ihr Orchester Ta politakia, die Jungs aus Konstantinopel. Im Geiste der alten Orchester wurde das Estoudiantina Neas Ionias 1999 von einer Gruppe von 20 jungen Musikern in Volos gegründet.

 





Ta politakia

 

 

Amanes und das Cafe Aman in Athen

 

Fahrende Musikanten, auch als orientalische Musiktruppen aus Kleinasien bezeichnet, brachten die Klagegesänge nach Griechenland. Jeden Sommer wanderten sie vom östlichen Mittelmeer nach Athen und Piräus und lagerten auf Plätzen. Die langsamen und traurigen Weisen kamen nicht überall gut an. Dem kultivierten Athener Establishment, das raffinierte westeuropäische Musik bevorzugte und von einem dem Westen zugewandten griechischen Nationalstaat träumte, waren diese Klänge zu orientalisch. Trotzdem eröffneten Ende des 19. Jahrhunderts auch in Athen Cafe Aman, denn die Wandermusiker brachten nicht nur türkische, arabische, jüdische oder armenische Weisen mit, sondern auch griechische Volkslieder wie Gianniotika, Kleftika und Moraitika. Amanes waren überall zu hören: In den Bergen, am Meer, in Villen, in der Kirche oder in Theatern. Zeitungen meldeten Auftritte von Musikgruppen aus Kleinasien: Im Panathon, im Odiki, in der Höhle der Nymphen, im Cafe Santour, im Garten der Musen und am 27.5.1898 spielte auch die "Erste Geige des Ostens", Giovanikas aus Smyrna in Begleitung einer Santur.

Die AKROPOLIS ZEITUNG meldet am 25.8.1891, dass sich Piräus vulgär orientalisiert und der Massenmob den Nachttau bei östlichen Lieder und Tänze in glücklichster Faulheit genießt. Die Seufzer hallen durch die Straßen und die Passanten klagen mit: "Ah, aman!" Enttäuschte Athener beklagen mit gebrochenem Herzen die hasserfüllten Seufzer der türkischen Lieder. "Es inspiriert dich nicht aber es erniedrigt dich und macht dich zum Sklaven abscheulicher Leidenschaften", ist in der Zeitungsmeldung zu lesen.

 

 

Schallplattengesellschaften stürzen sich auf Amanes


Aus subkultureller Sicht entwickelten sich aus spontanen Underground-Sessions einstudierte Amanes Kompositionen. Sie wurden unterschiedlich arrangiert und von Solisten oder Formationen interpretiert. Schließlich wurden sie von internationalen Schallplattengesellschaften vermarktet. Wie fast immer entwickelte sich ein neues, populär gewordenes Genre aus Gehegen und Verflechtungen der Subkultur, denn die eigentliche Entstehung basierte aller Wahrscheinlichkeit nach auf dem Zusammenspiel von Wandermusiker aus vielerlei Territorien. Einzelne Melodieteile und Schemen tauchen immer wieder auf und sind Ergebnis stundenlanger interkultureller Sessions. Aus der Underground-Ära liegen keine Quellen vor, da es weder Live-Mitschnitte noch Fotos gibt. Übrig bleibt eine Schallplatten-Elite.

Ab 1905 erscheinen in Smyrna die "sprechenden Maschinen", die Grammophone und in Istanbul öffnen die Plattenfirmen Zonophone, Gramophone, Odeon und Favorite. Masterkopien wurden im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit mobilen Crews in Theater, Kinos und Hotelzimmer in Smyrna, Konstantinopel und Thessaloniki und danach in Athen von besuchenden Ingenieuren aufgenommen, die Discs in England und Deutschland hergestellt und dann in den Nahen und Mittleren Osten exportiert. Die Aufnahmen in Griechenland begannen erst um 1920 in temporären Studios, darunter im Hotel "Tourist" und  im "German Club" in Athen und die Tonmeister wurden zur endgültigen Herstellung nach Europa geschickt. Bereits 1896 werden die ersten Aufnahmen mit griechischen Amanes in Amerika gemacht. Die zweite Welle erfolgte nach der Kleinasiatischen Katastrophe 1922, der gewaltsamen Ausbürgerung und der Flucht nach Griechenland und Amerika.

 

  

Nach der megali idea und der Katastrophe 1922

 

Nach der gescheiterten Idee eines Groß-griechischen Reiches und der Kleinasiatischen Katastrophe, dem Massaker von Smyrna und dem organisierten Bevölkerungsaustausch nach religiöser Zugehörigkeit flüchteten 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien nach Griechenland. Unter den Geflüchteten befanden sich viele Musiker und Sängerinnen des Cafe Aman Genres. Die 20er Jahre waren in Athen und anderen Städten, in die die Geflüchteten zogen, vom Smyrna-Stil, den Smyrneika geprägt und viele geflüchtete Musiker waren auch in den folgenden Jahren erfolgreich. In den 30er Jahren dominierte allerdings das Piräotische Quartett (aus Piräus) mit Markos Vamvakaris, genannt "der Franke", aus Smyrna kam "Artemis" Anestis Delias,  "O Magkas" Giorgos Batis aus Methana und "Faulpelz" Stratos Pagioumtzis kam aus Ayvalik, Kleinasien. Hauptinstrumente waren die Bouzouki und der griechische Baglamas. Gespielt wurde seltener in den ala turka dhromoi (Tonleitern), die eigene Piräotischen Tonleiter wurde bevorzugt. Die Musiker würdigten die kleinasiatischen Wurzeln und nannten sich neckisch "ach mein Mechmet" oder nahmen die alten Zwischenrufe "aman aman" "och, ach" wieder auf. Der historische Ort der 30er Jahre war nicht mehr das Cafe Aman sondern der Tekes, eine Haschisch-Höhle, in der sich die Magkes, die Vagabunden, Knast-Brüder und Szene-Kerle herumtrieben. Subkultur wurde frenetisch gefeiert und vom Mainstream aufgesaugt und vermarktet. Gefängnis-Lieder, das Schäbige und Verruchte gehörte zum guten Geschmack, denn das Establishment wollte nichts verpassen. Es entstand eine neue musikalische Epoche, in der das orientalische Flair aus Kleinasien in den Hintergrund rückte.

Roza Eskenazi, geboren in Konstantinopel, begann ihre Karriere als Tänzerin im Cafe Aman. Sie und Rita Abatzi, geboren in Smyrna, sangen, wie alle Sängerinnen des Smyrna-Stils, Smyrneika und Amanes und wurden in Griechenland die Stars der 30er Jahre.

Die wichtigsten männlichen Cafe-Aman Vertreter sind Andonis Diamandidis, Spyros Peristeris, Stellakis Perpiniadis, Kostas Roukounas, Lefteris Menemenlis und Giannis Tsanakas. Bekannte Cafe-Aman-Instrumentalisten sind der Oud-Spieler Agapios Tomboulis, der Lyra-Spieler Lambros Leondaridis und der bekannteste griechische Geiger ala turka, Dimitrios Semsis. 

 

Griechische Einwanderer aus Kleinasien und Griechenland nahmen in Amerika zahlreiche Schallplatten auf. Dazu gehörte Marika Papagika. Sie war Inhaberin und Sängerin des ersten Cafe Aman, das 1925 in New York eröffnete. Eine sehr beliebte Sängerin im Cafe Aman Stil in Amerika war Mrs. Koula oder Kyriaki Giortzi Antonopoulou (ca. 1880-1954). Die wichtigsten männlichen Musiker des amerikanischen Cafe Aman Stils waren Achilles Poulos aus Istanbul, der Kreter Charilaos Piperakis, der armenische Oudist Marko Melkon Alemsherian und der Gitarrist und Sänger Georgios Katsaros.

                                                Marika Papagika 


Quellen und Beispiele

 

Auf den Seiten des Griechisches Musikarchiv Εικονικο Μουσειο Αρχειου Κουναδη findet man u.a. Amanes, Postkarten und traditionelle Lieder aus Smyrna.

Ein typisches Aman-Stück von Giannis Tsanakas, Smyrna, 1910, in der Tonfolge Usak Gazel: https://www.vmrebetiko.gr/item/?id=5041

Die 12-seitige Sammlung der Αμανές:

https://www.vmrebetiko.gr/item/?id=5040

mit Lefteris Menemenlis und einer typischen Aman-Begleitung, die sich durch Hunderte Amanes zieht.

 

Eines der bekanntesten Lieder ist das kleinasiatische Tha spaso koupes - Ich werde Becher zerschlagen. (Paradosiako = Traditionell)

https://www.vmrebetiko.gr/item/?id=9399

oder

https://www.youtube.com/watch?v=tSERTUuG2Yw

 

1984 katapultierte die Griechin Eleftheria Arvanitaki diese uralte Weise zum Hit, der seitdem von vielen griechischen Sängerinnen, wie z.B. Glykeria interpretiert wurde und auf youtube in Pop-Versionen millionenfach angeklickt wird.  Beeindruckend: Das griechische Phänomen, Lieder mit  traurigem Inhalt zu feiern, tanzen und mitzusingen!

Hier ein sensationelles Live Beispiel der Arvanitaki:

https://www.youtube.com/watch?v=RlXyudzXLmA

und die Popversion: Μαρίνα Σάττι - Κούπες | (Θα Σπάσω Κούπες)

https://www.youtube.com/watch?v=l55LUEfnbX8

Die Version von Glykeria: Ab Minute 0:38 hören wir das typische Begleitschema der Smyrneika!

https://www.youtube.com/watch?v=2he5c1W8eTA

 

 

ICH WERDE BECHER ZERSCHLAGEN


Ich werde Becher zerschlagen für deine Worte
und Gläschen für die bitteren Wörtchen
αμάν αμάν - mein Gott, hör endlich auf zu weinen, Kleines
αμάν αμάν - mein Gott, du hast, was du willst

Ich zerschlage Teller

für deine beiden schwarzen Augen

Gestern Abend sah ich im Traum,
dass du deine Haare um meinen Hals gelegt hast
αμάν αμάν  - mein Gott, hör endlich auf zu weinen, Kleines
αμάν αμάν - mein Gott, du hast, was du willst

Ich zerschlage Teller

für deine beiden schwarzen Augen

 

The Eastern Piano Project

http://www.eastern-piano.com/

 

 

Ein Schwerpunkt der Forschung und spielerischen Anwendung des Eastern Piano Projektes ist, neben vielen anderen Exkursen, die Erinnerung an Smyrna, die historische Entstehung und Entwicklung der Amanes im entsprechenden Ort, dem Cafe Aman in Kleinasien, bzw. der Quellen. Das Eastern Piano Project konzentriert sich auf urbane populäre und volkstümliche Repertoires und pendelt zwischen Ost und West. Der Schöpfer des Eastern Piano Project, Nikos Ordoulidis spielt eine zweifache Rolle: als Performer / Künstler sowie als Musikwissenschaftler / Forscher (siehe auch www.ordoulidis.gr ). Das Klavier, ein Instrument, das für den Westen von wesentlicher Bedeutung ist, dient ihm als Dreh - und Angelpunkt für beide Pole: Ost und West. Ordoulidis entdeckt Melodien, die in verschiedenen Kulturkreisen gespielt werden, z.B. in jüdischen, griechischen, türkischen. Er sammelt historische Fotos und  Klaviermusik aus östlichen Ländern, die er mit verschiedenen Künstlern aufführt. Originalstücke werden zitiert aber auch weitgehend dekonstruiert. So erfahren manchmal melancholische Kompositionen luftig-leichte Ausflüge in eigenwillige Improvisationen und individuelle Gestaltungen, deren hohes Niveau über beliebige Pop-Spielereien der Postmoderne hinaus gehen. 



                             The Eastern Piano Project



 

Dankeschön:

Persönlicher Kontakt mit Dora Spetsioti und Niko Ordoulidis vom Eastern Piano Project, Rembetiko-Foren (rebetiko.sealabs.net, rebetiko.gr, rembetiko.gr  u.a.) und die gängige Rembetiko-Literatur, Roderick Conway Morris, George Kokkonis, Herbert Höffer und Vasilis Alexiadis.

Film: Smyrna - the destruction of a cosmopolitan city, by Maria Iliou, Athen, 2012

 


Tuesday, 17 November 2020

Neues Studioalbum des Sun Ra Arkestra: Swirling

 Die älteste Band der Welt

 

Nach mehr als zwanzig Jahren erscheint ein neues Studioalbum des Sun Ra Arkestra

 

 

cw. Verglichen mit dem Sun Ra Arkestra sind selbst die Rolling Stones Jünglinge. Seit fast 70 Jahren gibt es das Arkestra, das zu den profiliertesten Gruppen des modernen Jazz zählt. Anfang der 1950er Jahre vom charismatischen Bandleader und Pianisten Sun Ra in Chicago gegründet, wird die Gruppe seit dem Ableben ihres Leiters 1993 vom inzwischen 96jährigen Saxofonisten Marshall Allen geleitet, dem letzten Urmitglied. Doch nicht alle Musiker der Formation sind so betagt: Seit Jahren hat die Band junge Talente aufgenommen und so ihren Sound auf die Höhe der Zeit gebracht. Gerade ist ein neues Studioalbum mit dem Titel «Swirling» bei Strut Records erschienen, das erste seit mehr als zwanzig Jahren.

 

Früher glich die Band eher einem Mönchsorden. Im Gemeinschaftshaus, in dem die Musiker zusammenlebten, herrschte äußerste Disziplin. Der Tagesablauf war streng geregelt, in dessen Mittelpunkt die Musik als spirituelle Praxis stand. Denn für Sun Ra, bürgerlich Herman Poole Blount(1914 – 1993),waren Klänge das Medium, um mit den höheren Sphären in Verbindung zu treten: Musik öffnete das Tor zum Kosmos. Ansonsten bestimmte Askese den Alltag. Alhokol und andere Drogen waren verboten, Mädchen verpönt. 

 

Und der Bandleader führte ein strenges Regime. Wer bei Vergehen ertappt wurde, aufbegehrte oder herumnörgelte, wurde mit vier Wochen Küchendienst bestraft, wenn man ihm nicht gleich den Koffer vor die Tür stellte. Trotz der rigiden Ordnung bewarben sich kontinuierlich neue Musiker um Aufnahme in die Gemeinschaft, von der eine enorme Faszinationskraft ausging. 

 

Das hatte vor allem mit der exzellenten Musik zu tun. Sun Ra spannte den Bogen von der Jazztradition bis zur Avantgarde, wobei sein bunter Mix aus Swing und Freejazz auch elektronische Klangnebel einschloß. «In der Schule lernt man alles zu wissen. Bei mir lernt man, dass man noch nicht alles weiß,» lautete ein Leitspruch, dem er unbeirrt folgte. Die Arrangements seiner Kompositionen, von denen er täglich neue schrieb, wurden mit Akribie einstudiert und mit Präzision in Szene gesetzt, die Improvisationen sprühten vor Feuer. 

 

Seit 25 Jahren führt nun Marshall Allen das Arkestra. Unter seiner Regie wurden die Verhaltensregeln gelockert, nicht aber die musikalischen Standards. Beim Soundcheck staucht der Senior seine Musiker gelegentlich ordentlich zusammen, wenn sie zu lasch und ohne Druck die Arrangements herunterleiern. Denn wie noch zu Sun Ras Zeiten gelten Disziplin und Präzision als oberste Prinzipien. 

 

Früher probte Sun Ra mit dem Arkestra nicht selten acht Stunden am Stück, wobei es nur ein Entkommen gab, wenn der Bandleader am E-Piano einschlief und die Musiker sich dann leise aus dem Staub machten. Statt wie einst täglich am Repertoire zu feilen, wird mittlerweile nur noch ein oder zwei Mal die Woche geprobt. Da alle mit Feuereifer bei der Sache sind, verwandeln sich «Live»-Auftritte in ein Spektakel, besonders dann, wenn die Musiker in ihren glitzernden, fantasievollen Astronauten-Kostüme von der Bühne heruntersteigen und improvisierend durchs Auditorium schreiten.

 

Das neue Studioalbum wirkt gegenüber den «Live»-Auftritten kontrollierter, und endlich einmal ist der Sound des Arkestras tontechnisch optimal aufgenommen. Mit Verve breitet die 15köpfige Formation ihren musikalischen Afro-Futurismus aus, der zwischen Jazz, Elektronik und Groove pendelt und mit Parolen gewürzt ist, die wie Urformen von Rap klingen. Das Arkestra hat es geschafft, auch Jahre nach dem Tod seines Anstifters frisch und aktuell zu klingen. Für eine fast 70 Jahre alte Band ist das keine geringe Leistung.

 

 

Friday, 30 October 2020

Buchbesprechung: Klangmaschinen

 Klangmaschinenträume

 

Über Visionäre elektronischer Klänge und die Musik der Zukunft



                                                      Leon Theremin an seinem Instrument, ca. 1920

cw. Musikinstrumente-Erfindungen kommen in Schüben, und zwar immer dann wenn technische Innovationen neue Möglichkeiten zur Tonerzeugung bieten. Die 1920er Jahre waren so eine Ära, in der die neue Runkfunktechnik die elektronische Tonerzeugung auf die Tagesordnung setzte. Neue Instrumente wie Theremin, Trautonium, Sphärophon oder Ondes Martenot sowie diverse elektronische Orgeln entstanden, die sich allerdings oft als Eintagsfliegen erwiesen und bald wieder verschwanden oder sich bestenfalls als Außenseiter im Musikbetrieb halten konnten. In seinem Buch „Musikmaschinen“ zeichnet Peter Donhauser „die Geschichte der Elektromusik“ nach.

 

Oft waren es Techniker, die mit Leidenschaft an neuen Verfahren der Tonerzeugung bastelten, welche sich häufig später musikalisch als völlig unbrauchbar erwiesen. Despoten erkannten in den neuen Klangerzeugern ein Mittel zum Machterhalt. Das Theremin, vom russischen Physiker Leon Theremin Anfang der 1920er Jahre entwickelt, erregte das Interesse von Revolutionsführer Lenin, der das Instrument und seinen Erfinder zu Propagandazwecken in den Westen schickte, um aller Welt die techologischen Errungenschaften der Revolution vor Augen zu führen.  


                                            Sphärophon, 1924

 

Ähnlich erging es den neuen Musikmaschinen aus der Weimarer Zeit (Trautonium, Neo-Bechstein-Flügel, Großtonorgel etc.), die von den Nationalsozialisten ab 1933 für ihre Zwecke instrumentalisiert wurden. Anfangs als „entartete Musik“ mit Verbot bedroht, drehte sich der Wind, als das NS-Regime deren Potential zur Beschallung von Aufmärschen und Kundgebungen erkannte. Manche Erfinder und Musiker dienten sich den Nazis an, andere versuchten irgendwie durchzukommen, wobei der Vorwurf des „Musikbolschewismus“ wie ein Damoklesschwert immer über ihnen hing. Donhauser gelingt es, die Wirrnisse der NS-Musikpolitik auf differenzierte Weise nachzuzeichnen und zwischen glühenden NS-Anhängern, willfährigen Dienern, Opportunisten und Gegner zu unterscheiden, wobei die
Gemengelage nicht immer eindeutig ist. 


                                                             Ondes Martenot 

 


Erst das Ende des Nazi-Regimes verhalf den musiktechnologischen Innovationen abermals zur Blüte. Während in den neueingerichteten elektronischen Musikstudios, wie etwa das beim WDR in Köln oder beim Pariser Rundfunk, in der Nachkriegszeit Kompositionsverfahren mit Tonbändern im Vorderpunkt standen (Schneiden, Verfremden, Neuordnen und Kleben), wurde in den USA an neuen Klangerzeugern getüftelt, die u.a. in der Erfindung der Hammond-Orgel, des Fender-Rhodes-E-Pianos, aber vor allem des Synthesizers mündeten. Den Visionären de Synthesizers schwebte anfangs eine „Klangfarbenmusik“ vor, die jenseits der wohltemperierten Stimmung die Musik in andere Sphären katapulieren sollte. Allerdings zwang kommerzieller Druck die Hersteller zur Tastatur und ins konventionelle Notensystem zurück. Die Digitalisierung verwandelte dann das Laptop in ein Musikinstrument, das heute in der elektronischen Clubmusik (Techno, Drum ‘n’ Bass etc.) den Ton angibt und zum konstituierenden Element geworden ist. Mit seiner Publikation ist Donhauser ein kompetentes, detailreiches und übersichtliches Werk gelungen, das auch für bereits Sachkundige, noch so manches unbekannte Details enthält.

 

 

Peter Donhauser: Klangmaschinen – Die Geschichte der Elektromusik. Vergangenheitsverlag; Berlin 2019; mit zahlreichen Abbildungen. E 19,99.