Witz und Weisheit
Der New Yorker Anti-Folksänger
Jeffrey Lewis führt ein Doppelleben als Comic-Autor
Fotos: Manuel Wagner, New York 2012
cw. Jarvis Cocker, Bandleader von Pulp,
hält ihn für “den besten Liedtexter im heutigen Amerika”, und Will Oldham,
alias Bonnie ‘Prince’ Billy, geizt ebenfalls nicht mit Lob: “Es gibt nicht viele, die mit Musik eine Geschichte so erzählen und so
mit Sprache umgehen können wie Jeffrey Lewis. Er ist einfach toll,
eindrucksvoll, inspirierend und aufregend.” Vor fünfzehn Jahren begann der heute
37jährige New Yorker neben Adam Green und Kimya Dawson unter dem Banner des
“Anti-Folk” im Sidewalk Cafe in Downtown Manhattan mit eigenen Songs aufzutreten.
Inzwischen gilt Jeffrey Lewis als einer der originellsten Liedermacher der
alternativen Rockszene.
Seit er 2001 beim legendären
Independent-Label Rough Trade unterkam, zeigt die Erfolgskurve nach oben. Bei
der Londoner Firma hat er inzwischen sechs Alben veröffentlicht, darunter eine Platte,
die ausschließlich Lieder der anarchistischen englischen Punkband Crass enthält.
Lewis hat die “12 Crass Songs” zu akustischen Folkballaden mit farbigen
Arrangements umgeschneidert, ohne ihnen ihren inhaltlichen Biß zu nehmen – im
Gegenteil: “Crass spielten die Songs so schnell und laut, dass die Texte untergingen.
Ich singe die Lieder dagegen langsam, damit sie jeder versteht.”
Im Unterschied zu
den Crass-Songs kommen Jeffrey Lewis’ eigene Lieder nicht so aggressiv-politisch
daher, wenn man von seinem Solidaritätslied “What would Pussy Riot do?” einmal
absieht. Mit seinen Versen beschreibt Lewis eher Erlebnisse aus seiner unmittelbaren
Umgebung, die als symptomatisch für die gesellschaftlichen Verwerfungen gelten
können, denen man fast täglich begegnet. Lewis gelingen dabei poetische Zeilen,
die eine genaue Beschreibung der Gegenwart liefern und dennoch voller Witz und
Weisheit sind.
Lewis ist mit Punk
und Indie-Rock groß geworden. Als wichtigen Einfluß nennt er Sonic Youth. Seine
Bewunderung reicht so weit, dass er unter dem Namen “Sonnet Youth” begonnen
hat, das komplette Songbook der New Yorker Indie-Band in Sonettform umzudichten,
die er in kleinen fotokopierten Heftchen vertreibt.
Folk ist eine andere
Inspirationsquelle, wobei seine Helden Woody Guthrie, Bob Dylan und The Holy
Modal Rounders heißen. Zwischen Punk und Folk ist dann auch Jeffrey Lewis’
Musik angesiedelt, in der sowohl die Nachdenklichkeit und Harmonieseligkeit des
Folk als auch der Furor von Punk und Grunge rumort. Seine Akustikgitarre versinnbildlicht
diese Karambolage gegensätzlicher Stile. Auf Knopfdruck verwandelt sich die verschrammte
buntbemalte Klampfe mittels Wah-Wah-Pedal und Verzerrer in ein kreischendes
Monster.
Lewis ist auf der
Lower East Side in Downtown Manhattan aufgewachsen und fühlt sich der langen
Tradition alternativer Klänge dieses Stadtteils verbunden. Im Titel “A Complete
History of Punk on the Lower East Side from 1950 - 1975“ kommt diese Affinität
zum Ausdruck. Da tauchen sie alle auf: Harry Smith, Herausgeber der
bahnbrechenden LP-Serie “Anthology of American Folk Music”, Velvet Underground
und die Fugs. Dazu: Patti Smith, die New York Dolls sowie die Ramones. Lewis
feiert diese Künstler als visionäre Pioniere der amerikanischen Subkultur, die
Musikern wie ihm den Weg bereiteten.
Mit Tuli Kupferberg
(1923 - 2010) von der dadaistischen Politband The Fugs verband Lewis eine enge
Freundschaft. Der junge Singer-Songwriter besuchte den anarchistischen
Beatlyriker noch im hohen Alter regelmäßig. “Tuli wohnte gleich um die Ecke,” erzählt er. “Wir haben geredet, Meinungen
ausgetauscht, und manchmal habe ich ihm einen neuen Song vorgesungen.”
Peter Stampfel ist
ein anderer Bruder im Geiste. Mit dem Veteran, der 1964 mit den Holy Modal
Rounders den psychedelische Folk erfand, hat Lewis vor ein paar Jahren eine
gemeinsame Band gegründet. “Wenn möglich treffen wir uns sonntags zum
Liederschreiben in Stampfels Loft in SoHo,” berichtet Lewis. Zwei Alben sind aus
der Kooperation bereits hervorgegangen.
Ein Faible für Comics
verbindet die beiden. Einmal in der Woche geht es zum Kiosk, um einen Stapel
Neuerscheinungen zu erwerben. Doch ist Jeffrey Lewis nicht nur ein fanatischer Leser,
er entwirft auch eigene Bildergeschichten. In seiner “Fuff”-Serie sind bisher sieben
Hefte erschienen, die er bei Konzertauftritten und auf Comic-Messen verkauft.
Die Comics tauchen in
überdimensionalem Format bei seinen Live-Auftritten wieder auf. Seite um Seite blättert
Lewis dann die “Lo-Fi Videos” durch, um anstatt der Sprechblasen witzige Verse
zu rezitieren. Dabei schreckt er nicht vor großen Themen zurück. Mit ein paar pfiffigen
Reimen und prägnanten Strichzeichnungen wird etwa “The Fall of the Soviet
Union” in drei Minuten dargestellt. Unterhaltsamer kann Geschichtsunterricht nicht
sein!
Der Artikel erschien zuerst in Die Wochenzeitung (WoZ), Zürich
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