Der nächste Schritt
Kamasi Washington setzt Los Angeles auf die Landkarte des
Jazz
Los Angeles wird als Jazzstadt oft
übersehen. Wie sieht die dortige Szene aus?
KW: Los Angeles ist eine riesige Stadt, und es
gibt viele Stadtteile, die für sich genommen das Ausmaß einer Großstadt haben.
Ich komme aus dem Stadtteil South Central und dort aus einem Viertel, das
Leimert Park heißt und ein bißchen wie das East Village von New York ist: ein
Zentrum der afroamerikanischen Kultur und der Künste. Viele Musiker,
Filmemacher, Schauspieler, Künstler und Schriftsteller leben dort. Es gibt den
Jazzclub ‘The World Stage’, der vom Schlagzeuger Billy Higgins gegründet wurde
und der bis heute eine wichtige Rolle spielt. Ich wuchs im angrenzenden
Stadtviertel Inglewood auf, und wir alle spielten in diesem Club, der ein
Fixpunkt für die künstlerischen Aktivitäten des Viertels ist. Diese Ort ist voll auf Avantgarde
programmiert, wirklich ein kreatives Zentrum und wichtig für das Selbstverständnis
des Stadtteils. Die Jamsessions beginnen dort nicht vor 2 Uhr früh. Horace
Tapscott trat regelmäßig auf. Das ist bis heute ein cooler Auftrittsort. Es
gibt ein paar Hiphop-Clubs gleich um die Ecke, und es herrscht generell eine
sehr offene Atmosphäre. Ich wuchs in dieser Umgebung auf, weil mein Vater Jazzmusiker
ist und all diese Musiker in der Nachbarschaft wohnten. Sie waren exzellent,
aber leider außerhalb von LA kaum bekannt. Sie spielten diesen Avantgarde-Jazz,
aber sehr bluesig und mit viel Seele. Das war der Sound, den ich in meiner
Jugend hörte.
Sie haben seit Jahren eine feste Band
namens ‘The Next Step’. Wie kam die Gruppe zustande?
KW: Die Bruner Brüder, Ronald und Stephen,
kannte ich von klein auf. Sie waren meine Spielkameraden und kamen zu meinen
Geburtstagfesten. Zu meinem dritten Geburtstag bekam ich von meinem Vater ein kleines
Schlagzeug. Ronald Bruner war da und fing an, darauf herumzutrommeln. Heute ist
er einer der beiden Drummer in meiner Band. Die anderen Mitglieder traf ich in
der Schule und später auf der Musikhochschule. Ich kenne also alle Mitglieder
meiner Gruppe seit Urzeiten.
Dein aktuelles Album ist ein Monumentalwerk
- eine 3er-CD-Box mit Jazzensemble, Orchester und Chor. Wie gelingt es, heute
so etwas zu realisieren?
KW: Der Produzent Flying Lotus von der
Schallplattenfirma Brainfeeder wollte ein Album von mir. Er ließ mir völlig
freie Hand, was ich als sehr befreiend empfand. Ich war plötzlich keinen
Restriktionen mehr unterworfen. Dazu kam, dass mich der Jazzmusiker Gerald
Wilson vor Jahren in die klassische Musik eingeführt hat, weshalb die Idee
aufkam, etwas mit meiner Band sowie einem Orchester und einem Chor zu machen.
Mir schwebte vor, die Musik meiner Gruppe mit einem Streicherklang à la
Strawinsky zu unterlegen. Ich habe dann zuerst die Kompositionen für meine
Gruppe ausgearbeitet und dann die Orchestrierung und die Chorsätze erstellt.
Jeder Beteiligte war von der Idee begeistert und trug zur Verwirklichung dadurch
bei, dass auf ein Honorar verzichtet wurde. Unter regulären Umstände wäre
dieses 3er-Album nie entstanden – viel zu kostenaufwendig. Wir buchten ein
Studio für einen Monat, ich streckte das Geld vor, jedes Bandmitglied
beteiligte sich finanziell, und dann machten wir uns an die Arbeit. Ich wollte einmal
alle finanziellen Erwägungen außer Acht lassen und nicht über Plattenverkäufe nachdenken,
sondern wirklich ein Album machen, das mich musikalisch repräsentiert. Viele
Leute aus dem Orchester und dem Chor sind Freunde von mir. Nur auf diese Weise
konnte ein derart ambitioniertes Werk realisiert werden. Ich werde mich bei
jedem einzelnen eines Tages mit einem Gefallen revanchieren.
Ein Titel auf “The Epic” ist Malcolm X
gewidmet. Ein Ausschnitt aus einer seiner Reden wird eingeblendet. Was hat es
damit auf sich?
KW: Das ist eine sehr persönliche Widmung
meinerseits. Ich wuchs in South Central LA auf, und trotz des künstlerischen Charakters
unseres Viertels gab es viel Kriminalität und Banden. Als Teenager begann ich
in dieses Milieu abzurutschen und wäre wohl in eine ziemlich dunkle Sackgasse geraten,
wenn nicht meine Eltern gewesen wären, sowie ein Cousin, der sich mit Bandenkriminalität
auskannte und mir heraushalf. Zur gleichen Zeit fiel mir die Autobiographie von
Malcolm X in die Hände, was mein Leben veränderte. Deshalb wollte ich mich mit
dem Track bei ihm bedanken. Junge Leute wissen nicht mehr, wer er ist, obwohl er weiter von großer Wichtigkeit wäre.
Er kann jungen Afroamerikanern helfen, sich über sich selbst und über ihre
Situation klar zu werden.
Jazz steht nicht mehr im Zentrum der
populären Musik. Was kann man gegen die Marginalisierung tun?
KW: Für mich ist die heutige Jazzszene viel zu
sehr auf die Vergangenheit fixiert. Bei jungen Leute gilt Jazz als antiquiert.
Ich will mich aber mit der Jetztzeit auseinandersetzen. Ich will aktuelle Musik
machen, die relevant für die Gegenwart ist. Natürlich sind Musiker der
Vergangenheit meine Helden, trotzdem sollte man sich nicht immer vor ihnen
verbeugen. Die Musiker meiner Band spielen auf dem gleichen Niveau. Wir machen
unsere Musik für unsere Zeit und das überträgt sich auf die Zuhörer. Wir haben
begeisterte Zuhörer in unseren Konzerten, aber wenn man sie fragen würde, ob
sie Jazz mögen, würde sie mit “nein” antworten. Deshalb lassen wir die Musik direkt
zu den Herzen und Seelen der Zuhörer sprechen. Jeder hat ein Herz und eine
Seele und begreift, um was es geht. Es ist eine sehr offene und freie Musik,
die bei den Leute ankommt - im wahrsten Sinne des Wortes.
Hälst Du das Etikett Jazz für noch
zeitgemäß?
KW: Nicht wirklich! Es hält junge Leute davon
ab, sich auf die Musik einzulassen. Deshalb spielen wir an allen möglichen
Orten - und es funktioniert! Warum sollen wir ein Teil des Publikums dadurch
abschrecken, dass wir unsere Musik “Jazz” nennen. Das macht keinen Sinn, weil
unsere Intention eine andere ist. Oft treten Jazzmusiker mit der Haltung auf,
dass ihre Musik sowieso niemand mag. Das merken die Leute. So kann man
niemanden für sich gewinnen. Ich arbeite viel mit Musikern aus anderen Stilen
zusammen und habe Tourneen z. B. mit Snoop Dogg absolviert. Dabei habe ich
begriffen, was junge Leute musikalisch bewegt, was sie auf die Beine bringt.
Diese Elemente, diese Energie will ich auch in meiner Musik zum Ausdruck
bringen. Das bedeutet nicht, dass man Jazz wie Hiphop spielen soll, sondern
dass wir eine andere Einstellung entwickeln müssen.
Kamasi Washington: The Epic (Brainfeeder)
Das Interview erschien zuerst in Jazzthetik (jazzthetik.de)
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