Wurzeln des Reggae
Ein Sampler widmet sich der populären Musik von Jamaika vor Bob Marley
cw. “Meine Großeltern erinnerten sich noch an die Sklaverei. Sie erzählten, dass auf den Zuckerrohrplantagen Mento-Lieder gesungen wurden, wenn die Sklaven müde und erschöpft waren,” wußte Albert Minott (Jahrgang 1938) zu berichten. Bis zu seinem Tod im Jahr 2017 war Minott Sänger der Jolly Boys gewesen, einer Combo, die so etwas wie der Buena Vista Social Club von Jamaika war – seit 1955 im Geschäft. Die Jolly Boys standen für Mento, die traditionelle Folkmusik Jamaikas, und hatten all die Höhenflüge und Niedergänge des rustikalen Stils miterlebt. Mento war bis in die 1960er Jahre die populärste Musikform auf der Karibikinsel gewesen und gilt als Wurzel von Blue Beat, Dub und Reggae.
Der traditionelle Stil war, wie all die anderen kreolischen Musikrichtungen der Karibik, aus dem Zusammenprall zweier Musikkulturen hervorgegangen: Afrika und Europa. Noch im frühen 19. Jahrhundert war es den afrikanischen Sklaven verboten, überhaupt Musik zu machen und sich zum Tanzen zu treffen. Aus Angst vor Aufständen wurde jede Zusammenkunft als Bedrohung der kolonialen Ordnung empfunden. Haiti wirkte für die Skalvenhalter als abschreckendes Beispiel: dort war es 1791 zur einer erfolgreichen Sklavenrevolte gekommen. Sklaven spielten deshalb ihre Musik lange im Geheimen, wobei sie afrikanische Rhythmen und Lieder mit den Tanzweisen und Melodien vermischten, die sie als Zaungäste bei den Festbällen ihrer weißen Herren aus Europa aufgeschnappt hatten. Mit der Zeit entwickelte sich daraus Mento, was sowohl ein Tanz als auch eine Musikform war.
In neuerer Zeit wurde Mento von sogenannten “Scratch-Bands” gespielt, die es überall in der Karibik gab. Solche Gruppen musizierten aus Geldmangel häufig auf Instrumenten der Marke Eigenbau wie einem Besenstielbaß, einer Bambusklarinette und ein paar Maracas, die aus Dosen und Kieselsteinen gebastelt worden waren. Dazu kam die „Rhumba-Box“ für den Baß, was eine Holzkiste mit flachgehämmerten Metall-Lamellen war, und vielleicht noch eine Mundharmonika oder ein verbeultes Banjo.
Laufend nahm die Musik neue Einflüsse auf. Wanderarbeiter brachten Latin-Rhythmen aus Kuba ins Land. Amerikanischer Jazz und populäre Schlager standen hoch im Kurs. 1956 schlug der „Banana Boat Song” von Harry Belafonte alle Rekorde. Obwohl die Nummer als „Calypso” vermarktet wurde, handelte es sich bei dem Lied um einen traditionellen Mento-Song, den Belafonte kurzerhand von einer älteren Aufnahme abgekupfert hatte.
Auf Jamaika reagierten die Musiker prompt auf den von Belafonte ausgelösten „Calypso”-Boom. „Bis vor kurzem hieß unsere Musik noch Mento,” gab der Bandleader Lord Flea 1957 zu Protokoll. „Heute sagt man ‘Calypso’ dazu, wie zu vielen anderen Musikstilen aus der Karibik. Das hat kommerzielle Gründe, wirkt verkaufsfördernd. Wenn die Touristen ‘Calypso’ wollen, bekommen sie ‘Calypso’ – kein Problem!”
Gruppen wie Count Owen & His Calypsonians fanden in den großen Touristen-Hotels in der Hauptstadt Kingston oder an der Nordküste Arbeit, wo sie ihre Musik mit den neusten Modetänzen verbanden und den „Calypso Cha-Cha”, den „Rhumbina“ oder den „Mango Walk“ erfanden. Mento nahm eine auf Hotelgäste und Kreuzfahrt-Touristen zugeschnittene Form an, geglättet und weichgespült.
In den 1950er und 1960er Jahren erlebte das jamaikanische Musikgeschäft einen Boom. Die „Insel in der Sonne” avancierte zu einem Magneten für die amerikanische „High Society”. Filmstars wie Noel Coward und Ian Fleming lebten hier, Millionäre ankerten mit ihren Jachten vor der Küste, Elisabeth Taylor und Richard Burton machten Urlaub auf der Karibikinsel, und in den Hotelbars, Nightclubs und Tavernen brauste das Leben. Für die Musiker war das ein Segen: Auftrittsmöglichkeiten gab es in Hülle und Fülle. Wegen der vielen Amerikaner war Jazz hochgefragt, aber nicht der nervöse expressive Bebop aus New York, sondern eine gezähmte Version, die eher nach Barmusik klang und zu der man tanzen konnte. Exzellente Musiker wie der Gitarrist Ernest Ranglin, der Vibrafonist Lennie Hibbert und der Pianist George Moxey gewannen diesem „Easy Listening Jazz“ dennoch Erstaunliches ab.
Viele der Musiker, die in der jamaikanischen Musik in den 1950er und 1960er Jahren den Ton angaben ob der Saxofonist Bertie King, der Trompeter Alphonso Reece oder die Brüder Wilton und Bobby Gaynair, hatten ihr Handwerkszeug auf der Alpha Boy School in Kingston gelernt, einer Lehranstalt für gefährdete Jugendliche, das von katholischen Nonnen geführt wurde und für seine Disziplin und seine exzellente Blasmusikkapelle bekannt war.
Federführend in dieser Phase der Musikgeschichte Jamaikas war das Schallplattenlabel Federal Records, das von Ken Khouri (1917-2003) geleitet wurde. Khouri betrieb das erste Tonstudio in Jamaika überhaupt. Als findiger Geschäftsmann und rühriger Unternehmer deckte er das ganze Spektrum karibischer Musik ab. Ob Mento oder Latin, ob Afro-Cuban oder Lounge Jazz, Rhumba oder Merengue – alles fand sich im Katalog des Labels wieder, das wegweisend für Rocksteady, Dub und Reggae wurde. Kein Wunder, dass Bob Marley 1981 Federal Records aufkaufte und seinem Label Tuff Gong Recordseinverleibte.
Seit einiger Zeit hat sich das japanische Label Dub Store Records an die Wiederveröffentlichung der Schätze aus dem Tresor von Federal Records gemacht. Nach mehreren Alben, die einzelnen Musikern wie Ernest Ranglin oder gewidmet waren, ist jetzt ein Sampler erschienen, der einen Überblick über die jamaikanische Musiklandschaft von 1960 bis 1968 gibt. Das ist nicht alles Gold, was hier erklingt, doch sind die 20 Titel hilfreich, um die Genese der jamaikanischen Musik besser zu verstehen.
Jamaica Jazz From Federal Records – Carib Roots, 1960 – 1968 (Dub Store Records)