Was politisch war und was nicht in der Musikszene jener Jahre, ist freilich nicht immer so eindeutig zu sagen, der Grad der Politisierung hing auch mit dem Grad der Reibung zusammen, die die rebellischen Jugendlichen erzeugten. Am Anfang stand jedenfalls das Bedürfnis, Musik zu hören, neue, moderne, coole Musik, die nicht wie Schlager von Nazi-Geist und Nachkriegs-Muff kontaminiert war. Das war anfangs Jazz, schon vor Rock'n'Roll als "Negermusik" beschimpft, später Beat, Blues, Folk und die vielen sich auffächernden Pop- und Rock-Stile. Weil es dafür oft weder Strukturen noch Veranstaltungsorte gab, musste man selber für welche sorgen. Weshalb seit den späten 1950ern von Jugendlichen "überall im Südwesten Vereine, Ausschüsse und Clubs gegründet" wurden, so Wagner "um der allerneuesten Musik und der damit einhergehenden Jugendkultur Räume zu verschaffen". Das waren erst Jazzkeller, später Beatschuppen und schließlich "soziokulturelle Zentren" wie die Manufaktur und Jugendhäuser.
Nicht nur die besonders öde Kulturwüste halfen dem Underground im Südwesten auf die Sprünge, auch die stockkonservative Umgebung. "Es gab praktisch nur eine Partei, und die war reaktionär", erzählt Schretzmeier, "zum Glück". Denn dadurch war man in Baden-Württemberg "gesegnet mit dieser Möglichkeit, dagegen zu sein". Kurz: "Wenn du nur die Zunge raus'gstreckt hosch, warsch König", lässt der Theaterhaus-Chef die selige Protestjugend Revue passieren.
Konstanzer Open Air, August 1970
Im miefigen Schwaben kam die Subkultur nicht gut an
Nur lustig war es freilich nicht immer, wenn sich die Vertreter des Miefs provozieren ließen. Als die Lords aus Berlin, die vielleicht bekannteste deutsche Beatband, 1966 in Riedlingen auftrat, schrieb ein Kritiker der "Schwäbischen Zeitung": "Sicher ist, dass das Erlebte dem Empfinden der schwäbischen Volksseele nicht entsprechen konnte." Das klingt nicht allzu weit entfernt vom "gesunden Volksempfinden", das die Nazis oft bemühten, war aber nichts im Vergleich zu dem, was nach dem ersten großen Rockfestival im Südwesten passierte, dem Open-Air in Konstanz im August 1970. "Aufgepeitscht durch Flugblätter der NPD, hatte sich in Konstanz eine aggressive Stimmung gegen 'Gammler' und 'Langhaarige' aufgebaut", schreibt Wagner. Die hielt auch noch nach dem Festival an, mit tragischen Folgen. Drei Wochen nach dem Festival wurde ein Jugendlicher am Blätzle-Brunnen, dem Hippie-Treff der Stadt, von einem Angetrunkenen mit einem "Hasentöter", einem Bolzenschussgerät, erschossen. Als "Konstanzer Gammlermord" oder "Hippiemord" ging die Bluttat bundesweit durch die Medien (
hier ein ausführlicher Bericht der Konstanzer "Seemoz").
Politisch geworden war die Szene schon um 1967, als Hippiekultur, psychedelische Sounds und Protestsongs nach Europa schwappten und eine der kreativsten Phasen der deutschen Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg anbrach. Auch und gerade im Südwesten. Deutsche Texte waren auf einmal möglich – den Anfang machten die Karlsruher Checkpoint Charlie mit ihrem provokativen Politrock, die sich 1967 gründeten, drei Jahre vor den Berlinern von Ton Steine Scherben. Außerdem entstand Krautrock, diese erste originär in Deutschland entstandene Musikrichtung nach dem Krieg, die nicht etwa primär durch deutsche Texte geprägt, sondern durch endlose psychedelische Improvisationen, hypnotische Rhythmen, offene Songstrukturen. Im Grunde eine Abkehr vom klassischen angloamerikanischen Rock'n'Roll und – vom Vietnamkrieg befeuert – auch als Abgrenzung verstanden. Aus dem Südwesten kamen dabei einige der wegweisenden Gruppen, etwa Guru Guru aus Heidelberg, Kraan aus Ulm, Gila aus Stuttgart, Nine Days' Wonder aus Mannheim oder Exmagma aus Schwäbisch Gmünd.
Eulenspygel: Politrock aus Tübingen
Antikommerziell und nach drei Jahren pleite
Auch wenn diese Bands teils ganz ohne Texte auskamen, eine bestimmte politische Haltung drückten sie auch durch die Art ihres Zusammenlebens – oft in Kommunen wie etwa Exmagma – oder Arbeitens aus. "Wir wollten gemeinsam Musik machen", zitiert Wagner den Gila-Keyboarder Fritz Scheyhing, "demokratisch, gleichberechtigt, als politisches Statement. Jeder konnte sich einbringen. Wir haben frei über einen Rhythmus improvisiert, wobei sich immer wieder Themen und Motive herauskristallisiert haben."
Das erste wirkliche Rock Festivals, das ich besuchte.
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