“Wir müssen uns aktuellen Entwicklungen öffnen!”
Seit Graham McKenzie das Huddersfield Contemporary
Music Festival leitet, geht das bedeutenste Festival zeitgenössischer Musik in
Großbritannien neue Wege
Ein Interview von Christoph Wagner
Was in Deutschland “Donaueschingen”, ist in Großbritannien
“Huddersfield”: ein Ort als Synonym für
zeitgenössische Musik! Das hat einzig und allein mit dem Huddersfield
Contemporary Music Festivals (hcmf) zu
tun, das in der nordenglischen Industrie- und Universitätsstadt seit 1978 stattfindet. Doch Huddersfield will nicht mehr Donaueschingen sein. Das sei 'Old School', sagt Graham McKenzie, der 2006 die
Leitung des Festivals übernommen hat, das jedes Jahr Ende November 10 Tage lang stattfindet. McKenzie hat das Konzept neu ausgerichtet, um aktuellen
Entwicklungen, ob in der freien Improvisation oder der Elektronik, besser gerecht
zu werden und den experimentellen Geist neu zu beleben.
Foto: Christoph Wagner
Was
ist ihr biographischer Hintergrund, wie sind Sie nach Huddersfield gekommen?
Graham McKenzie: Vor
Huddersfield war ich Direktor des “Centre for Contemporary Art” in Glasgow. Das
CCA ist das schottische Äquivalent zum ICA (Institute for Contemporary Arts) in
London und deckt das ganze Spektrum der Künste ab: visuelle Kunst, Film, Musik,
Tanz, Literatur. Ursprünglich arbeitete ich als Sozialarbeiter, dann habe ich über
zeitgenössische Kunst geschrieben, auch Fernsehspiele und Theaterstücke verfasst.
Danach engagierte ich mich kulturpolitisch, um später im Kulturmanagement zu
landen.
Was
war ihre Vision des Festivals, als sie 2006 die Leitung übernahmen?
GMK: Besonders wichtig war
mir, dem Festival wieder mehr Relevanz zu verschaffen, es aus der akademischen
Ecke herauszuholen. Das Festival hatte damals ein beachtliches Stammpublikum,
das jedes Jahr nach Huddersfield pilgerte. Das Programm bediente genau den
Geschmack dieser Besucher. Aber es wusste wenig über den Geschmack und die
Vorlieben der Leute, die nicht kamen. Dort setzte ich an. Das Festival sollte
für ein jüngeres Publikum wieder an Bedeutung gewinnen. Huddersfield liegt im
Zentrum vieler großen Städte in Nordengland wie Manchester, Leeds, York,
Liverpool und Sheffield, aber wir waren kein Magnet etwa für Studenten von den
dortigen Universitäten. Entscheidend war also, für ein junges Publikum
attraktiv zu werden.
Was
war ihre Strategie?
GMK: Drei Dinge waren
wichtig: Erstens mussten wir den Begriff der neuen Musik breiter definieren, um
auch das widerzuspiegeln, was musikalisch in der jungen Generation vor sich
geht. Es gibt viele junge Musiker und Komponisten, die ganz konventionell
avantgardistische Musik komponieren, aber gleichzeitig als Klangkünstler aktiv
sind und etwa in Gallerien Klangobjekte installieren, und darüber hinaus noch
als Performer und Improvisatoren auftreten. Deshalb umfasst der Begriff “zeitgenössische
Musik” für mich alles von Noise Music auf der einen Seite bis zu Orchestermusik
auf der anderen, und vieles dazwischen inklusive Klangkunst und
Soundinstallationen. Wenn wir die junge Generation mehr ansprechen wollen,
müssen wir in Komponisten zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Karriere
investieren. Wenn man ein jüngeres Publikum gewinnen will, muß diese Generation
auch auf der Bühne präsent sein, als eine Art Vorbild. Ich komme aus der
visuellen Kunst, wo die Gallerien ihre Aufmerksamkeit immer auf die nächste
Generation richten. Im Gegensatz dazu werden in der zeitgenössischen Musik vor
allem die Geburtstage von 70 oder 80jährigen Komponisten gefeiert. Die “jungen”
Komponisten, deren Namen mir zugetragen wurden, waren 50 Jahre alt. Das wollte
ich ändern. Wir müssen uns den neuen Entwicklungen öffnen.
Darüber hinaus schien mir
wichtig, die Musik aus dem Konzertsaal heraus zu holen und sie in anderen
Örtlichkeiten zu plazieren und anders zu präsentieren. Das Festival sollte eine
Art Reise für das Publikum sein. Wenn fünf Konzerte an einem Tag stattfinden,
sollte es unterschiedliche Musik an fünf verschiedenen Orten sein. Das Publikum
soll Musik auf fünf verschiedene Weisen erleben. Bei meinem ersten Festival lag
der Anteil der Besucher unter 25 Jahren bei 3%, heute sind es fast 30%.
Bei
meinen Besuchen des hcmf hatte ich oft Eindruck, dass kaum Einheimische aus Huddersfield
die Konzerte besuchen….
GMK: Das möchte ich bezweifeln.
Mehr als die Hälfte der Konzertbesucher kommen aus der Stadt und der Region und
ungefähr 40 Prozent von weiter her. Wir nutzen den Montag während des Festivals,
um eine Reihe von kostenlosen Kurzkonzerten an verschiedenen Orten zu
veranstalten, die um 11 Uhr morgens beginnen und bis in die Nacht dauern. Für
diese Auftritte sind die Besucherzahlen in den letzten beiden Jahren um fast
50% angestiegen. Letztes Jahr kamen 2500 Besucher zu den Montagskonzerten, was
natürlich ein sehr guter Werbeeffekt ist, weil diese Leute möglicherweise auch Karten
für andere Konzerte kaufen. Unsere Zahlen zeigen, dass wir in den 10 Tagen des
Festival ungefähr 1,5 Million Euro für die lokale Ökonomie generieren. Wenn wir
also Konzerte überall in der Stadt veranstalten, werden die Besucher auch die
Café, Restaurants und Geschäfte frequentieren. Es ging mir also darum, das
Festival aus dem akademischen Hochschulbereich herauszuholen und mitten in der
Stadt zu plazieren. Wir sind zur Festivalzeit überall in der Stadt sichtbar.
Wir haben ein Schulprogramm, wir arbeiten mit Obdachlosen, Flüchtlingen und
Asylanten. Wir versuchen also, so inklusiv wie nur möglich zu sein und trotzdem
Musik zu präsentieren, die eine Herausforderung ist. Ob die Besucher diese
Musik im akademischen Sinne “verstehen”, ist völlig irrelevant – wichtig ist,
dass sie sich die Musik anhören und dann entscheiden, ob sie sie mögen oder
nicht. Auch zeitgenössische Musik muss unterhalten, Kunst muss unterhaltsam
sein. Man kann natürlich auf Pop und Videospiele herunterschauen, aber
letztendlich konkurriert man mit diesen Formen der Freizeitgestaltung. Wenn man
ein Konzert ansetzt, konkurriert man bei den Besuchern um ihre Freizeit. Sie
kommen zu dem Konzert, anstatt Fernsehen zu schauen oder ins Kino oder in den
Fitness-Club zu gehen oder sich mit Freunden im Pub zu treffen. Das gilt es zu
akzeptieren, was nicht bedeutet, dass man sich anbiedert oder musikalische
Kompromisse macht.
Gibt
es Anknüpfungspunkte an die Popmusik?
GMK: Um aus dem
Elfenbeinturm herauszukommen, muss man neue Schritte gehen, wobei es nicht
darum geht, Ansätze der Popmusik zu integrieren, nur um populistisch zu sein. Im
Gegenteil: Ich fühle eine Verantwortung gegenüber den Künstlern aus den
Bereichen, die wir abdecken, von der zeitgenössischen Kammermusik über die
freie Improvisation bis zu Klanginstallationen und elektro-akustischen
Experimenten. Wir sind ihre Plattform, ihr Forum. Es gibt Chancen der
gegenseitigen Befruchtung, auch was das Publikum anbelangt. Lange Zeit haben
zeitgenössische Musikfestivals geglaubt, Publikum aus der klassischen Musik
anziehen zu können. Vielleicht war das ein Irrtum. Möglicherweise kann man eher
Leute der zeitgenössischen Kultur, die an dem interessiert sind, was um sie
herum vor sich geht, für avantgardistische Sounds begeistern. Ein großes
Potential sehen ich im Publikum moderner Kunst, das in den letzten Jahrzehnten
enorm gewachsen ist. Diese Leute kann man auch für neue Musik gewinnen.
Wie
schätzen Sie die aktuelle Szene der neuen Musik weltweit ein? Wo passsiert Aufregendes?
GMK: Ich glaube, dass es in
jedem Land interessante Künstler gibt – man muss sie nur finden. Was sich in
Europa abzeichnet, ist, dass viele der zeitgenössischen Musikfestivals heute
ein breiteres Programm bieten. Es beschränkt sich nicht mehr nur auf Kammer- und
Orchestermusik. In Großbritannien habe ich den Eindruck, dass die experimentelle
Musik sehr stark ist. In jeder größeren Stadt gibt es eine experimentelle
Szene, auch Festivals, die diese Musik präsentieren – also mehr experimentelle
Musik als jemals zuvor. Das macht es nicht unbedingt leichter für Musiker und
Komponisten, ein Auskommen zu finden. In England mangelt es an längerfristiger
Förderung, die es Künstlern erlaubt, Ideen über ein paar Jahre zu entwickeln.
Es dominiert die Projekt-Förderung, was Komponisten zwingt, von einem Projekt
zum nächsten zu springen.
AMM - einer der Höhepunkte beim diesjährigen Huddersfield Contemporary Music Festival
Wie
informieren Sie sich über neue Komponisten, Werke und Tendenzen?
GMK: Ich reise viel, weil
ich einen Grundsatz habe und nur solche Künstler und Komponisten einlade, die
ich zuvor persönlich im Konzert erlebt habe. Da hilft keine CD und kein
Youtube-Clip. Sie sagen nichts darüber aus, wie ein Künstler sich präsentiert
und mit dem Publikum kommuniziert. Das muss ich erleben, auch um einen Eindruck
zu bekommen, in welcher Örtlichkeit er oder sie am besten zu plazieren ist.
Das
hcmf vergibt auch Kompositionsaufträge. Welche Rolle spielen sie?
GMK: Wir versuchen unser
Profil und unsere Stellung auf dem Markt für britische Komponisten und Künstler
zu nutzen. Wir geben Kompositionen in Auftrag und versuchen sie nach dem
Festival international zu vermarkten durch unsere Kontakte und unsere
Kooperation mit anderen Festivals.
Ich
nehme an, dass sie viele Angebote erhalten. Wie gehen sie damit um?
GMK: Pro Woche bekommen ich
ungefähr 80 Angebote, was eine ungeheure Menge ist. Manchmal fühle ich mich
überwältigt von der Masse an Information, aber dann sage ich mir, was für ein
ungeheures Privileg es ist, ein solches Festival gestalten zu dürfen.
Schlußendlich bin ich ein Musikfan, der auf Entdeckungen aus ist. Es fällt mir
immer noch schwer an einem Plattenladen vorbei zu gehen, ohne eine CD oder eine
LP zu kaufen. Deshalb sehe ich meine Aufgabe nicht nur als Job, es ist mein
Lebensstil. Jedoch brauche ich nach dem Festival eine Pause vom Musikhören.
Dann gehe ich für ein paar Wochen in kein Konzert. Meine Ohren sind übervoll von
den 50 oder mehr Konzerten, die wir beim hcmf bieten. Aber natürlich fühle ich
eine große Verantwortung gegenüber dem Festival und den Komponisten und
Musikern. Wir sind das einzig große Festival für zeitgenössische Musik in
Großbritannien und für Künstler oft die einzige Chance, ihre Kompositionen in
diesen Breiten einem Publikum vorzustellen.
Wie
sehen Sie die Position von Huddersfield im Kontext anderer Festivals für
zeitgenössische Musik auf dem Globus?
GMK: Es gibt die eher
traditionellen Festivals für neue Musik, die ich als “Old School” bezeichnen
würde. Wir haben mehr Gemeinsamkeiten mit Festivals wie dem Ultima-Festival in
Oslo, MaerzMusik in Deutschland, die Dark Music Days in Island oder November
Music in Holland, die gleichfalls versuchen, neue Wege zu gehen, um aktuelle
Tendenzen besser zu spiegeln.
Der Text erschien zuerst in NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 6-2015, Themenschwerpunkt ENGLAND http://www.musikderzeit.de