Saturday, 5 December 2015

Graham McKenzie: Avantgarde raus aus dem Ghetto


“Wir müssen uns aktuellen Entwicklungen öffnen!”

Seit Graham McKenzie das Huddersfield Contemporary Music Festival leitet, geht das bedeutenste Festival zeitgenössischer Musik in Großbritannien neue Wege

Ein Interview von Christoph Wagner

Was in Deutschland “Donaueschingen”, ist in Großbritannien  “Huddersfield”: ein Ort als Synonym für zeitgenössische Musik! Das hat einzig und allein mit dem Huddersfield Contemporary Music Festivals (hcmf) zu tun, das in der nordenglischen Industrie- und Universitätsstadt seit 1978 stattfindet. Doch Huddersfield will nicht mehr Donaueschingen sein. Das sei 'Old School', sagt Graham McKenzie, der 2006 die Leitung des Festivals übernommen hat, das jedes Jahr Ende November 10 Tage lang stattfindet. McKenzie hat das Konzept neu ausgerichtet, um aktuellen Entwicklungen, ob in der freien Improvisation oder der Elektronik, besser gerecht zu werden und den experimentellen Geist neu zu beleben. 
                                                                                                                                                                Foto: Christoph Wagner

Was ist ihr biographischer Hintergrund, wie sind Sie nach Huddersfield gekommen?

Graham McKenzie: Vor Huddersfield war ich Direktor des “Centre for Contemporary Art” in Glasgow. Das CCA ist das schottische Äquivalent zum ICA (Institute for Contemporary Arts) in London und deckt das ganze Spektrum der Künste ab: visuelle Kunst, Film, Musik, Tanz, Literatur. Ursprünglich arbeitete ich als Sozialarbeiter, dann habe ich über zeitgenössische Kunst geschrieben, auch Fernsehspiele und Theaterstücke verfasst. Danach engagierte ich mich kulturpolitisch, um später im Kulturmanagement zu landen.

Was war ihre Vision des Festivals, als sie 2006 die Leitung übernahmen?

GMK: Besonders wichtig war mir, dem Festival wieder mehr Relevanz zu verschaffen, es aus der akademischen Ecke herauszuholen. Das Festival hatte damals ein beachtliches Stammpublikum, das jedes Jahr nach Huddersfield pilgerte. Das Programm bediente genau den Geschmack dieser Besucher. Aber es wusste wenig über den Geschmack und die Vorlieben der Leute, die nicht kamen. Dort setzte ich an. Das Festival sollte für ein jüngeres Publikum wieder an Bedeutung gewinnen. Huddersfield liegt im Zentrum vieler großen Städte in Nordengland wie Manchester, Leeds, York, Liverpool und Sheffield, aber wir waren kein Magnet etwa für Studenten von den dortigen Universitäten. Entscheidend war also, für ein junges Publikum attraktiv zu werden.

Was war ihre Strategie?

GMK: Drei Dinge waren wichtig: Erstens mussten wir den Begriff der neuen Musik breiter definieren, um auch das widerzuspiegeln, was musikalisch in der jungen Generation vor sich geht. Es gibt viele junge Musiker und Komponisten, die ganz konventionell avantgardistische Musik komponieren, aber gleichzeitig als Klangkünstler aktiv sind und etwa in Gallerien Klangobjekte installieren, und darüber hinaus noch als Performer und Improvisatoren auftreten. Deshalb umfasst der Begriff “zeitgenössische Musik” für mich alles von Noise Music auf der einen Seite bis zu Orchestermusik auf der anderen, und vieles dazwischen inklusive Klangkunst und Soundinstallationen. Wenn wir die junge Generation mehr ansprechen wollen, müssen wir in Komponisten zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Karriere investieren. Wenn man ein jüngeres Publikum gewinnen will, muß diese Generation auch auf der Bühne präsent sein, als eine Art Vorbild. Ich komme aus der visuellen Kunst, wo die Gallerien ihre Aufmerksamkeit immer auf die nächste Generation richten. Im Gegensatz dazu werden in der zeitgenössischen Musik vor allem die Geburtstage von 70 oder 80jährigen Komponisten gefeiert. Die “jungen” Komponisten, deren Namen mir zugetragen wurden, waren 50 Jahre alt. Das wollte ich ändern. Wir müssen uns den neuen Entwicklungen öffnen.
Darüber hinaus schien mir wichtig, die Musik aus dem Konzertsaal heraus zu holen und sie in anderen Örtlichkeiten zu plazieren und anders zu präsentieren. Das Festival sollte eine Art Reise für das Publikum sein. Wenn fünf Konzerte an einem Tag stattfinden, sollte es unterschiedliche Musik an fünf verschiedenen Orten sein. Das Publikum soll Musik auf fünf verschiedene Weisen erleben. Bei meinem ersten Festival lag der Anteil der Besucher unter 25 Jahren bei 3%, heute sind es fast 30%.

Bei meinen Besuchen des hcmf hatte ich oft Eindruck, dass kaum Einheimische aus Huddersfield die Konzerte besuchen….

GMK: Das möchte ich bezweifeln. Mehr als die Hälfte der Konzertbesucher kommen aus der Stadt und der Region und ungefähr 40 Prozent von weiter her. Wir nutzen den Montag während des Festivals, um eine Reihe von kostenlosen Kurzkonzerten an verschiedenen Orten zu veranstalten, die um 11 Uhr morgens beginnen und bis in die Nacht dauern. Für diese Auftritte sind die Besucherzahlen in den letzten beiden Jahren um fast 50% angestiegen. Letztes Jahr kamen 2500 Besucher zu den Montagskonzerten, was natürlich ein sehr guter Werbeeffekt ist, weil diese Leute möglicherweise auch Karten für andere Konzerte kaufen. Unsere Zahlen zeigen, dass wir in den 10 Tagen des Festival ungefähr 1,5 Million Euro für die lokale Ökonomie generieren. Wenn wir also Konzerte überall in der Stadt veranstalten, werden die Besucher auch die Café, Restaurants und Geschäfte frequentieren. Es ging mir also darum, das Festival aus dem akademischen Hochschulbereich herauszuholen und mitten in der Stadt zu plazieren. Wir sind zur Festivalzeit überall in der Stadt sichtbar. Wir haben ein Schulprogramm, wir arbeiten mit Obdachlosen, Flüchtlingen und Asylanten. Wir versuchen also, so inklusiv wie nur möglich zu sein und trotzdem Musik zu präsentieren, die eine Herausforderung ist. Ob die Besucher diese Musik im akademischen Sinne “verstehen”, ist völlig irrelevant – wichtig ist, dass sie sich die Musik anhören und dann entscheiden, ob sie sie mögen oder nicht. Auch zeitgenössische Musik muss unterhalten, Kunst muss unterhaltsam sein. Man kann natürlich auf Pop und Videospiele herunterschauen, aber letztendlich konkurriert man mit diesen Formen der Freizeitgestaltung. Wenn man ein Konzert ansetzt, konkurriert man bei den Besuchern um ihre Freizeit. Sie kommen zu dem Konzert, anstatt Fernsehen zu schauen oder ins Kino oder in den Fitness-Club zu gehen oder sich mit Freunden im Pub zu treffen. Das gilt es zu akzeptieren, was nicht bedeutet, dass man sich anbiedert oder musikalische Kompromisse macht.

Gibt es Anknüpfungspunkte an die Popmusik?

GMK: Um aus dem Elfenbeinturm herauszukommen, muss man neue Schritte gehen, wobei es nicht darum geht, Ansätze der Popmusik zu integrieren, nur um populistisch zu sein. Im Gegenteil: Ich fühle eine Verantwortung gegenüber den Künstlern aus den Bereichen, die wir abdecken, von der zeitgenössischen Kammermusik über die freie Improvisation bis zu Klanginstallationen und elektro-akustischen Experimenten. Wir sind ihre Plattform, ihr Forum. Es gibt Chancen der gegenseitigen Befruchtung, auch was das Publikum anbelangt. Lange Zeit haben zeitgenössische Musikfestivals geglaubt, Publikum aus der klassischen Musik anziehen zu können. Vielleicht war das ein Irrtum. Möglicherweise kann man eher Leute der zeitgenössischen Kultur, die an dem interessiert sind, was um sie herum vor sich geht, für avantgardistische Sounds begeistern. Ein großes Potential sehen ich im Publikum moderner Kunst, das in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen ist. Diese Leute kann man auch für neue Musik gewinnen.

Wie schätzen Sie die aktuelle Szene der neuen Musik weltweit ein? Wo passsiert Aufregendes?

GMK: Ich glaube, dass es in jedem Land interessante Künstler gibt – man muss sie nur finden. Was sich in Europa abzeichnet, ist, dass viele der zeitgenössischen Musikfestivals heute ein breiteres Programm bieten. Es beschränkt sich nicht mehr nur auf Kammer- und Orchestermusik. In Großbritannien habe ich den Eindruck, dass die experimentelle Musik sehr stark ist. In jeder größeren Stadt gibt es eine experimentelle Szene, auch Festivals, die diese Musik präsentieren – also mehr experimentelle Musik als jemals zuvor. Das macht es nicht unbedingt leichter für Musiker und Komponisten, ein Auskommen zu finden. In England mangelt es an längerfristiger Förderung, die es Künstlern erlaubt, Ideen über ein paar Jahre zu entwickeln. Es dominiert die Projekt-Förderung, was Komponisten zwingt, von einem Projekt zum nächsten zu springen.

AMM - einer der Höhepunkte beim diesjährigen Huddersfield Contemporary Music Festival

Wie informieren Sie sich über neue Komponisten, Werke und Tendenzen?

GMK: Ich reise viel, weil ich einen Grundsatz habe und nur solche Künstler und Komponisten einlade, die ich zuvor persönlich im Konzert erlebt habe. Da hilft keine CD und kein Youtube-Clip. Sie sagen nichts darüber aus, wie ein Künstler sich präsentiert und mit dem Publikum kommuniziert. Das muss ich erleben, auch um einen Eindruck zu bekommen, in welcher Örtlichkeit er oder sie am besten zu plazieren ist.

Das hcmf vergibt auch Kompositionsaufträge. Welche Rolle spielen sie?

GMK: Wir versuchen unser Profil und unsere Stellung auf dem Markt für britische Komponisten und Künstler zu nutzen. Wir geben Kompositionen in Auftrag und versuchen sie nach dem Festival international zu vermarkten durch unsere Kontakte und unsere Kooperation mit anderen Festivals.

Ich nehme an, dass sie viele Angebote erhalten. Wie gehen sie damit um?

GMK: Pro Woche bekommen ich ungefähr 80 Angebote, was eine ungeheure Menge ist. Manchmal fühle ich mich überwältigt von der Masse an Information, aber dann sage ich mir, was für ein ungeheures Privileg es ist, ein solches Festival gestalten zu dürfen. Schlußendlich bin ich ein Musikfan, der auf Entdeckungen aus ist. Es fällt mir immer noch schwer an einem Plattenladen vorbei zu gehen, ohne eine CD oder eine LP zu kaufen. Deshalb sehe ich meine Aufgabe nicht nur als Job, es ist mein Lebensstil. Jedoch brauche ich nach dem Festival eine Pause vom Musikhören. Dann gehe ich für ein paar Wochen in kein Konzert. Meine Ohren sind übervoll von den 50 oder mehr Konzerten, die wir beim hcmf bieten. Aber natürlich fühle ich eine große Verantwortung gegenüber dem Festival und den Komponisten und Musikern. Wir sind das einzig große Festival für zeitgenössische Musik in Großbritannien und für Künstler oft die einzige Chance, ihre Kompositionen in diesen Breiten einem Publikum vorzustellen.

Wie sehen Sie die Position von Huddersfield im Kontext anderer Festivals für zeitgenössische Musik auf dem Globus?

GMK: Es gibt die eher traditionellen Festivals für neue Musik, die ich als “Old School” bezeichnen würde. Wir haben mehr Gemeinsamkeiten mit Festivals wie dem Ultima-Festival in Oslo, MaerzMusik in Deutschland, die Dark Music Days in Island oder November Music in Holland, die gleichfalls versuchen, neue Wege zu gehen, um aktuelle Tendenzen besser zu spiegeln.

Der Text erschien zuerst in NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 6-2015, Themenschwerpunkt ENGLAND  http://www.musikderzeit.de

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