Tuesday, 17 December 2024

SCHEIBENGERICH Nr. 33: Jeff Parker – The Way Out of Easy

Entspanntes Fließen

Der Tortoise-Gitarrist mit eigenem Bandprojekt



Der Gitarrist Jeff Parker, in Los Angeles daheim, ist seit über drei Jahrzehnten ein Fixstern am Firmament im Grenzland zwischen Jazz und Rock. Zuerst mit Tortoise, dann mit Isotope 217 und dem Rob Mazurek’s Chicago Underground Trio bzw. Quartet hat er das Terrain immer wieder neu durchstreift, dabei erstaunliche, zum Teil innovative Entwürfe zu Tage gefördert.

 

Mit seinem neuen ETA IVtet knüpft er nahtlos an frühere Fusionsversuche an. Dieses Mal setzt Parker auf einen hypnotischen „laid back“-Groove, der sich völlig unaufgeregt und scheinbar endlos wiederholend durch die Zeit schiebt. Dieser Beat bildet das Fundament, über das Parker mit Hilfe etlicher Pedale und Josh Johnson mit seinem „processed saxophone“ ätherische Melodielinien legen, die sich ineinander verschlingen und fein kräuselnd durch die Lüfte schweben. Das minimalistische Prinzip von Repetition und Variation bildet den Kern dieser Musik, wobei Parkers behutsame Spielweise eher an die Gitarristen der alten Bebop-Schule erinnert, als an die Exorzismen von Hendrix & Co..

 

Das Grundprinzip dieser Ensemble-Musik, die sich über Jahre durch regelmäßige Gigverpflichtungen entwickelt hat, ist das sich Einfühlen in einen simplen Beat oder eine Akkordfolge, aus denen die Band dann alles entwickelt und erstaunliche Funken zu schlagen weiß. Nicht dass hier große Virtuosität zur Schau gestellt wird, auf technischen Exhibitionismus wird gänzlich verzichtet. Vielmehr kommt eine große Musikalität zum Tragen, die die Teilchen und Membrane zum Schwingen bringt. Das entspannte Fließen ist die entscheidende Komponente dieser Andachtsmusik, die sich jede Zeit der Welt nimmt. Vier Stücke befinden sich auf dem Album, keines kürzer als eine Viertelstunde. Hektisches kommt nicht vor. Entschleunigung ist Trumpf. Bezeichnend dafür ist, dass bis auf die Kontrabassistin Anna Butterss, alle anderen Musiker im Sitzen musizieren.


Jeff Parker ETA IVtet: Freakadelic (youtube)


 

Jahrzehnte zurück – Mitte der 1970er Jahre – hatte der englische Drummer John Stevens mit seiner Gruppe Away einen ähnlichen Fusionsversuch unternommen, über einem konstanten Rockgroove, frei zu musizieren. Mit der damals modischen „Fusion Music“ hatte das ebenfalls nichts zu tun, so wenig wie heute.

 

Jeff Parker ETA IVtet: The Way Out of Easy (International Anthem)

 

 

Monday, 16 December 2024

BEST OF 2024

Ein paar bemerkenswerte Alben von 2024:


The Necks: Bleed (Northern Spy / H’Art)


Graindelavoix / Björn Schmelzer: Ex Nihilo – Polyphony Beyond The Order of Things (Glossa Platinum)



Foto: Graindelavoix

Zum Reinhören:

https://www.youtube.com/watch?v=RDGkp9IYx70


J.J. Whitefield & Forced Meditation: The Infinity of Nothingness (Jazzman)


Ingrid Laubrock & Tom Rainey: Brink (Intakt)


Kudsi Erguner & Lamekan Ensemble: Fragments Des Cérémonies Soufies – L’Invitation à L’Extase (Seyir Muzik)


Eric Schaefer & Ensemble: Hayashi (blue pearls music)


Veretski Pass: The Peacock And The Sundflower (Borscht Beat)


Nite Bjuti (Candice Hoyes, Val Jeanty, Mimi Jones): Nite Bjuti (Whirlwind Recordings)



Zum Reinhören:

https://www.youtube.com/watch?v=tyG6PX-IIkg


Nightports / Matthew Bourne: Dulcitone 1804 (Leaf)


Samuel Rohrer: Music For Lovers (Arjuna Music)


Jeff Parker ETA IVtet: The Way Out of Easy (International Anthem)





Tuesday, 10 December 2024

LautYodeln Vol. 3 auf CD

CD-Taufe am 16. März 2025 im Münchner 'Fraunhofer'

Das 3. LautYodeln-Festival, das im Mai 2024 in München über die Bühne ging, wird – wie schon die beiden Editionen zuvor – auf CD dokumentiert werden. Die CD wird im März 2025 beim Münchner Trikont-Label erscheinen. Auf dem Album mit dabei ist die ganze Bandbreite aktueller Gruppen, die das Festival wieder zu einem einzigartigen Glanzpunkt machten, ob Vue Belle, Stimmreise.ch, Ernst Molden & Maria Petrova, Ganes oder Opas Diandl. Die CD-Taufe wird am Sonntag, den 16. März 2025 in Form eines Frühschoppens im München Traditionslokal Fraunhofer stattfinden, mit 'Live'-Musik versteht sich.

Als 'Appetizer' hier der 'Honde N-Da Da Jodler' von der Gruppe Opas Diandl aus Südtirol, 'live' at LautYodeln-Festival Vol. 3, Munich.




Trau di Jodeln

 Die dreifache Traudi (Siferlinger).



Wednesday, 4 December 2024

Scheibengericht Nr. 32: Veretski Pass & Joel Rubin

Klezmer mit Akkuratesse

 

Veretski Pass

The Peacock And The Sunflower

 

(Borscht Beat)



 

Klezmer-Gruppen gibt es wie Sand am Meer, doch nur die wenigsten haben die Klasse von Veretski Pass. Das Trio aus Kalifornien, das aus Cookie Segelstein (Geige), Joshua Horowitz (Akkordeon und Hackbrett) und Stuart Brotman (dreisaitiges Bassetl) besteht, spielt eine Klezmer-Musik, die sich um historische Akkuratesse und Authentizität bemüht, um einem Klang nahezukommen, wie wir ihn von alten Schellack-Platten kennen, den eingefrorenen Beispielen einer Klezmermusik, wie sie vor mehr als hundert Jahren geklungen hat. Zum dritten Mal haben sich die drei für ein Album mit Joel Rubin zusammengetan, vielleicht der beste Klarinettist der aktuellen Klezmerszene.

 

Die vier Musiker sind hochvirtuose Instrumentalisten, die mit allen Wassern der Klezmer-Spielweise gewaschen sind. Sie kennen die Tricks der Intonation, die kleinen melodischen Verschiebungen und harmonischen Dissonanzen, das Biegen der Töne, die Ornamentierung und die Triller, was alles zusammen einen Gruppenklang ergibt, der dicht und kompakt, rauh und doch voller Leben ist. Die meisten Stücke sind traditionelle Melodien aus der Ukraine, andere neue Kompositionen, die überwiegend von Cookie Segelstein stammen und die sich doch strikt in der Klangwelt des alten jüdischen Osteuropas bewegen. Manchmal handelt es sich um schnelle Tänze, dann wieder um langsame getragene Melodien, in denen fast immer eine feine stille Traurigkeit schwingt. 

 

Im Booklet-Text spricht Joel Rubin von Klezmer als einer Fusion-Musik, weil sie Spurenelemente  regionaler Volksmusikstile übernommen, aber auch populäre Melodien und Gassenhauer aufgesogen hat. Der „Novosilky March“, einer von 29 Titeln des Albums und kaum eine Minute lang, ist das beste Beispiel für diese Art von musikalischem Borschtsch, ein Marsch, der irritiert, weil man in jedem zweiten Takt die Verbindung zu einem anderen populären Stil zu erkennen meint. So fremd kann Klezmer klingen.

 

Auf bandkamp zum Reinhören:

https://borschtbeat.bandcamp.com/album/the-peacock-and-the-sunflower

Tuesday, 26 November 2024

Scheibengericht Nr. 31: Ingrid Laubrock / Tom Rainey

Ingrid Laubrock / Tom Rainey

Brink

(Intakt / Harmonia Mundi)


 

 

Gleich vorneweg: Dies hier ist ein superbes Album. Es ist das Kondensat unzähliger Sessions, die Ingrid Laubrock (Saxofone) und Tom Rainey (Drums) in den letzten Jahre miteinander gespielt haben. Auf intensivste Weise pflegte das Musikerehepaar das Duospiel gezwungenermaßen in den Monaten der Pandemie, als man keine anderen Musiker und Musikerinnen treffen konnte und die beiden anfingen, jeden Freitag ein Duo „online“ zustellen, welches sie während der Woche in ihrer Booklyner Wohnung entworfen, geprobt und aufgezeichnet hatten. So kamen genau 60 „Stir Crazy“-Editionen zustande. Den Wohnungsnachbarn sei gedankt für ihre unendliche Geduld.

 

Die Essenz dieser akribischen Beschäftigung mit dem Duo-Format ist jetzt auf diesem Album zu hören: 13 kurze Titel (der längste ist 5 Minuten lang, der kürzeste knapp eine Minute) entfalten eine Klanglichkeit wie sie unterschiedlicher nicht hätte sein können. Spaltklänge, Obertöne und Klappengeräusche bestimmen neben Laubrocks brüchigen, stillen oder aufbrausenden Saxofonlinien das musikalische Geschehen, das Tom Rainey in höchst sensibler Manier perkussiv zu kolorieren weiß. Kurze Interludes namens „Brink I – VI“ wirken als Kontrastmittel, bei denen sich das Saxofon manchmal wie eine stark verzerrte E-Gitarre anhört. Jedes Stück ist ein Balanceakt, der offen läßt, ob es komponiert oder improvisiert ist und so die Schwebe als idealen Aggregatzustand wählt. 


Zum reinhören:

https://laubrock-intakt.bandcamp.com/album/brink


 

Thursday, 21 November 2024

James Brandon Lewis mit dem Red Lily Quintet in Singen

Aus Gospel wird Jazz

James Brandon Lewis würdigt Mahalia Jackson beim Jazzclub Singen 


Fotos: C. Wagner

 

Im Kinofilm „Selma“ von 2014, der den Protestmarsch der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung 1965 von Selma nach Montgomery nachzeichnet, hat sie einen kurzen Auftritt. Am Telefon macht Mahalia Jackson dem verzweifelten Martin Luther King Mut, indem sie ihm ein Spiritual singt. Jackson (1911-1972) gilt als die Urmutter des religiösen Gesangs des schwarzen Amerikas und genießt als „Gospelkönigin“ höchstes Ansehen.

 

Der amerikanische Saxofonist James Brandon Lewis, der in seiner Jugend viel in Kirchen musizierte und dem seine Oma Mahalia Jackson nahe brachte, hat mit „For Mahalia, with love“ 2023 der Gospelsängerin ein ganzen Album gewidmet, als Würdigung der großen Vokalistin, die ihr Leben lang gegen die Erniedrigung und Herabwürdigung ihrer schwarzen Landsleute mit religiösen Hymnen ansang. Der Glaube an einen gerechten Gott ließ sie die Hoffnung auf ein Ende der Rassendiskriminierung nicht verlieren. 

 

Zu seinem Konzert beim Jazzclub Singen brachte James Brandon Lewis das hochkarätige Red Lily Quintet mit, das allerdings im Unterschied zu der Besetzung, die letztes Jahr das Album einspielte, inzwischen mehrheitlich aus Jazzmusikerinnen besteht, ein weiterer Beweis dafür, dass die Frauen im Jazz mächtig auf dem Vormarsch sind. 


 

Herausragend Tomeka Reid, momentan die tonangebende Cellistin im modernen Jazz. Ebenso überzeugend die Schlagzeugerin Lily Finnegan aus Chicago. Das Spiel der beiden besticht durch Präzision, Virtuosität und Energie, was auch für die Kontrabassistin Silvia Bolognesi aus Italien gilt, das einzige Mitglied der Band, das nicht aus den USA kommt. 

 

Angesichts solcher Power-Frauen muß sich Flügelhornspieler Kirk Knuffke mächtig ins Zeug legen, was ihm problemlos gelingt, gilt er doch als einer der besten Blechbläser der New Yorker Szene: Sein Ton ist glasklar, seine Melodielinien messerscharf. Über all dem schwebt der Geist von John Coltrane, dem Urvater des modernen Jazz, dessen tiefe Spiritualität in jeder Note von James Brandon Lewis‘ Saxofonspiel schwingt. Mit bebendem Ton schmettert der 41jährige die Gospelmelodien nur so heraus und treibt so die anderen zu immer größeren Höchstleistungen an.  


 

Aus dem riesigen Repertoire von Mahalia Jackson hat Brandon Lewis ein halbes Dutzend Gospels und Spirituals ausgewählt – so „Swing Low, Sweet Chariot“ oder „Wate in the Water“ – und sie für Jazzensemble arrangiert. Oft wird die Melodie nur angespielt, dann variiert, bevor der Faden improvisatorisch bis ins Freie weitergesponnen wird, wodurch ein fast hymnischer Sog entsteht, der die Zuhörer mitreist. In solch einem Moment springen in den schwarzen Kirchen der USA die Leute auf und tanzen und singen in ekstatischer Verzückung. So weit kam es bei den Zuhörern in der Gems allerdings nicht, die trotzdem vor Begeisterung eine Zugabe erklatschten.

Wednesday, 20 November 2024

Scheibengericht Nr. 30: Gerry Hemingway – Schlagzeuger UND Singer-Songwriter

Die Verwandlung

Der Jazzschlagzeuger Gerry Hemingway wird zum Singer-Songwriter



Der Amerikaner Gerry Hemingway gilt als einer der versiertesten Schlagzeuger des modernen Jazz. Die Referenzliste der Musiker und Musikerinnen, mit denen er seit Mitte der 1970er Jahre gespielt hat, ist ellenlang und enthält ein paar der illustersten Namen des zeitgenössichen Jazz. In den 1990er Jahre war er oft mit seinem Quintet in Europa unterwegs, auch mit dem Trio BassDrumBone. In der Balinger Siechenkirche bleibt ein Soloauftritt von ihm in bleibender Erinnerung. Die letzten 20 Jahre lehrte Hemingway als Schlagzeugprofessor an der Musikhochschule in Luzern, gab aber weiterhin Konzerte, ob in Europa oder den USA.

 

Jetzt ist das Schlagzeug ein Instrument, mit dem sich schwer konkrete Emotionen und Gefühle ausdrücken lassen, was zu den Beschränkungen des Perkussionsinstruments zählt, auch wenn seine Kapazitäten weit über den einer bloßen Rhythmusmaschine hinausgehen, was niemand besser gezeigt hat als Gerry Hemingway. 




Gerry Hemingway hat dieses Manko offensichtlich gespürt und mehr und mehr als Einschränkung empfunden. Nun hat er 2022 ein Album veröffentlicht, das ihn als Singer-Songwriter präsentiert, auf dem er Schlagzeug spielt, aber auch singt. Und die Texte und Songs sind sowieso von ihm. Eine solche Konversion ist kein leichter Schritt, weil es gegen verbreitete festsitzende Vorurteile geht, die da lauten: Schuster bleib bei deinem Leisten! 

 

Und nun die Überraschung: „Afterlife“ (Auricle Records), so der Titel des Album, ist ein durchweg ausgeklügeltes Werk. Mit Sampler, Drums und der Hilfe einiger Gastmusiker hat Hemingway eine CD mit neun Songs geschaffen, die originell, musikalisch vielfältig, wunderbar arrangiert und von großer Sensibilität sind. Gelegentlich klingt es calypsohaft karibisch, manche Melodien offenbaren Ohrwurmcharakter, der Gesang ist einfühlsam und zurückhaltend und die Arrangements flimmern in den buntsten Farben. Ein rundum gelungenes Album. 


Auf Bandcamp kann man in die Platte reinhören:


https://auriclerecords.bandcamp.com/album/afterlife


 

 

Scheibengericht Nr. 29: Knipsen das Licht an

Bemerkenswertes aus Stuttgart

Das Elektronik-Trio Knipsen

Dass Stuttgart doch immer wieder interessante Musik hervorbringt, beweist die Gruppe Knipsen. Mein Kumpel Simon Steiner, der sie im Ritterstüble in Stuttgart-Heslach neulich hörte und ziemlich begeistert war, hat mich auf sie aufmerksam gemacht. Knipsen sind ein Trio mit elektronischer Schlagseite, das aus Carsten Netz (Flöte, Saxofon), Markus Merkle (Electronic, Perkussion) und Michael Fiedler (Noise, Loops) besteht. 

Den dreien gelingt es, eine außergewöhnliche Musik zu kreieren, deren Fundament aus elektronischen Sounds und Loops besteht, die schwebt, und doch rhythmisch pulsiert und über die Saxofon oder Querflöte sparsam, lange, oft angeraute Töne legen. Wie Simon berichete zog die Band das Publikum im Ritterstüble von Anfang an vollständigt in den Bann. 


 

Mich erinnert ihre Musik an frühe Aufnahmen von Terry Riley, als dieser noch Sopransaxofon spielte, auch an Cluster oder die frühen Kraftwerk, als die Band aus Düsseldorf 1970 noch mit rudimentären elektronischen Apparaten hantierte. „Ruck Zuck“ war damals Kraftwerks Paradenummer, in welcher die Tonstöße der Querflöte den Rhythmus formten. So ähnlich agieren auch Knipsen. Sie entwerfen weite, anschwellende Klangfelder oder rhythmische Loops, die in vielfältigen Farben schillern und flimmern. Meditativ, minimalistisch, sensibel und äußerst originell – absolut überzeugend!

 

Auf Bandcamp kann man in ihr Debutalbum reinhören:

 

https://knipsen.bandcamp.com/album/knipsen

Monday, 18 November 2024

Griechischer Rembetiko – heute heiter

GASTBEITRAG VON SIMON STEINER:


TO GNOSTO TRIO

Melancholie wie weggefegt

Fotos: Kostas Anagnostopoulos


Der Höhepunkt des 1. Athener Rembetiko Festival am 12. und 13. Oktober 2024 war To Gnosto Trio - „Das berühmte Trio“, mit Tassos Giannoussis an der Bouzouki, Panagiotis Katsimanis, Gitarre und Antonis Tzikas, Contrabass. Die drei Musiker geben sich gut gelaunt, singen, lachen, das Publikum tanzt, singt und klatscht. Prima Stimmung. Das Derbe oder Melancholische des Rembetiko ist wie weggefegt. Stürmischer Beifall!

To Gnosto Trio tritt seit 2005 regelmäßig in der Athener Taverne Klimataria auf. Ein historisches Lokal, das 1927 gegründet wurde und in dem unter anderem auch Markos Vamvakaris Mitte der 50er Jahre gespielt hat. Das Trio ist damit eines der am längsten bestehenden Rembetiko-Formationen in Griechenland mit über 3.500 Auftritten in den letzten 20 Jahren. Die drei Musiker lieben Rembetiko, spielen aber auch Weltmusik, Folk, Rock, Blues, Jazz oder Gypsiestyle. Rembetiko spielen sie auf ihre eigene Art und Weise. Contrabass, Phrasierung, freie Improvisation mit Session-Charakter und flinke Akkorde assoziieren sofort: Jazz!



Bouzoukispieler Tasos meint: "Nun, man spielt, was man hört, nichts anderes. Ich höre Rembetiko und Jazz seit ich ein Kind war, so führte es zur Verschmelzung dieser beiden Genres in meinem Spiel, ohne es absichtlich zu tun! Das Instrument ist also nur das Werkzeug, das Medium, um deine musikalische Persönlichkeit auszudrücken. Bouzouki kann Jazz, Rock, Funk sein, aber im Kern ist es immer Rembetiko!"

Gitarrist Panagiotis, der früher in der griechischen Rockband ENDELEXIA spielte, schrieb aus Piräus: "Rembetiko ist mit Jazz verbunden, vor allem aber mit Gypsy Jazz und Django Reinhardt. Das sind zwei Musikrichtungen aus der gleichen Zeit, die von Musikern aus sozialen Randgruppen geschaffen wurden. Das Gleiche gilt für den Blues in Amerika. Der ähnliche Lebensstil schuf eine Musik mit der gleichen Seele! Ich lasse viele Rockelemente in mein Spiel einfließen, besonders in den Songs von Markos Vamvakaris. In anderen Songs spiele ich so, wie Johnny Cash seine akustische Gitarre gespielt hat. Ich bin immer daran interessiert, dass unser Spiel groovy ist."

To Gnosto Trio live auf dem Festival: https://www.youtube.com/watch?v=idlRFQHmlhE


Saturday, 16 November 2024

Dave Douglas Quartet in Reutlingen

Die Tradition abstrahiert

Dave Douglas im Jazzclub 'In der Mitte'

                                            Foto: C. Wagner



So eine hochkarätige Band gibt es im Jazzclub „In Der Mitte“ in Reutlingen sicher nur alle paar Jahre zu hören, denn eigentlich hätte sie ein viel größeres Publikum verdient. Bandleader Dave Douglas gilt als einer der profiliertesten Trompeter des post-avantgardistischen Jazz, der sich in den 1990er Jahren einen Namen in John Zorn’s Masada Quartet machte und danach mit eigenen Gruppen brillierte. Bei Masada saß Joey Baron am Schlagzeug, den Douglas jetzt wieder in seine aktuelle Band geholt hat. Komplettiert wird die Gruppe durch den amerikanischen Kontrabassisten Nick Dunstan, der in Berlin lebt, und die polnische Pianistin Marta Warelis, die in den Niederlanden daheim ist.

 

Douglas versteht es, eine Musik zu entwerfen, die aus vielerlei Quellen schöpft. Seine Kompositionen haben oft etwas Hymnenhaftes, wobei er manchmal selbst Märsche aus dem alten New Orleans kurz anspielt oder Melodiekürzel von Thelonious Monk einstreut. Doch all diese Zitate aus der Jazztradition sehen sich in eine fantasievolle musikalische Architektur integriert, werden modern gewendet und abstrahiert, wobei die Musik manchmal bis an die Grenzen des Freejazz geht, dann aber wieder die Kurve kriegt und in harmonisch und rhythmisch gebundene Bahnen zurückfindet. 

 

Die Rhythmusgruppe agiert hochsensibel, mit enormem Swing und großer Virtuosität, wobei Drummer Joey Baron immer wieder einmal durch blitzartige Einwürfe aufhorchen läßt. Ein sicheres Fundament legt Nick Dunstan, der auch in seinen Baßsoli zu glänzen weiß. Die eigentliche Überraschung des Abends aber ist die junge Pianistin Marta Warelis, die wie ein abstrakter Thelonious Monk agiert. Ihr kommt in der Gruppe die Rolle zu, gelegentlich aus der Reihe zu tanzen und den erwarteten Lauf der Dinge zu unterminieren und zu stören. 


Mit großer Gelassenheit setzt sie dissonante Intervalle neben glotzige Cluster, um anschließend noch ein paar perlende Läufe anzuhängen. Ist Warelis sonst in der radikalen, frei-improvisierenden Szene daheim, wird sie durch die Kompositionen von Douglas gezwungen, sich in rhythmisch-harmonischen Systemen zu bewegen, was originelle Lösungen zu Tage fördert. Die vier hatten offensichtlich ziemlich Spaß an ihren kühnen Interaktionen und verstanden es gleichzeitig, das Publikum mitzureißen.   

 

Tuesday, 12 November 2024

Zum Tod des Malers Frank Auerbach

Vor den Nazis nach England in Sicherheit gebracht

Frank Auerbach (1931 -2024)



Letztes Jahr hörte ich im Kulturkanal der BBC eine Sendung, in der der jüdisch-englische Künstler Frank Auerbach (Jahrgang 1931) über sein Leben befragt wurde. Auerbach gilt als einer der bedeutendsten Künstler der Gegenwart. 

Er war 1939 im Auftrag seiner Eltern, die in Berlin lebten, von einem Kindermädchen mit drei anderen Kindern nach England gebracht worden, um vor den Nazis in Sicherheit zu sein. Seine Eltern wurden später beide im Vernichtsungslager ermordet. 

Auerbach sprach sehr lobend über die Schule, in welcher er die ersten Jahre in der Fremde verbracht hatte. Ich wurde hellhörig, weil es sich um genau jene Schule in Herrlingen bei Ulm handelte, deren Schülerschaft – mehrheitlich aus jüdischen Kindern bestehend – nahezu geschlossen im Sommer 1933 nach der Machtergreifung der Nazis – mit Einverständnis der Eltern – unter Führung der Schulleiterin Anna Essinger nach England ins Exil gegangen war. In dieser New Herrlingen School in der Grafschaft Kent, später Bunce Court School genannt, wurde der achtjährige Frank Auerbach untergebracht, als er 1939 in England ankam.




Es gelang mir, Auerbach mein Buch "Lichtwärts! Lebensreform, Jugendbewegung und Wandervogel – die ersten Ökos im Südwesten (1880 – 1940)" zukommen zu lassen, in welchem ein ganzes Kapitel der Herrlinger Schule und ihrer so turbulenten wie bemerkenswerten Geschichte gewidmet ist. Wenig später erhielt ich eine Postkarte, mit der sich Auerbach herzlich für das Buch bedankte. Im Frühjahr habe ich noch eine Ausstellung seiner frühen Kohlezeichnungen in London besucht. Jetzt ist er im Alter von 93 Jahren in London verstorben.




Mehr Information:

https://www.theguardian.com/artanddesign/2024/nov/12/frank-auerbach-dies-aged-93-painter 

Das BBC-Radio-Interview mit Frank Auerbach in der Sendung 'This Cultural Life':

https://www.bbc.co.uk/sounds/play/m001vsbv

Thursday, 7 November 2024

Das deutsche Woodstock – Flower-Power in der Pfalz

Jetzt steht die ARTE-Doku über das 2. British Rock Meeting 1972 in der Nähe von Germersheim online – unbedingt sehenswert:

https://www.arte.tv/de/videos/117162-000-A/das-deutsche-woodstock/

Curved Air in Germersheim, die Band, die das Festival am Pfingstdienstagmorgen beendete. Es war eine der Gruppen, wegen denen mein Kumpel Bernhard Schuler und ich zu dem Festival gepilgert sind. Nach drei Tagen fast ohne Schlaf überfiel Bernhard eine Art bleierne Müdigkeit, die so überwältigend war, dass er den Auftritt von Curved Air schlafend verpasste. Ich versuchte ihn noch wach zu rütteln, doch da war nichts mehr zu machen.  

Foto: Manfred Rinderspacher




Tuesday, 5 November 2024

Émile Parisien zum sechsten Mal in Singen

Im Gegensatz vereint

 

Das Émile Parisien Quartet begeistert vor vollem Haus beim Jazzclub Singen

 

Fotos: C. Wagner



 

Der Sopransaxofonist Émile Parisien ist einer der nicht gerade zahlreichen französischen Jazzmusiker, die auch in Deutschland über ein beachtliches Renommee verfügen. Nach ein paar Veröffentlichungen bei kleineren französischen Plattenfirmen, erschien 2014 sein Debutalbum auf dem renommierten deutschen Jazzlabel Act, das er mit dem Akkordeonisten Vincent Peirani eingespielt hatte und ihn schlagartig zu einem Star auf der deutschen Jazzszene machte. Seitdem hat er durch die Zusammenarbeit mit bekannten Namen wie Joachim Kühn und Michael Wollny seinen Ruf noch steigern können, gekrönt durch den ECHO-Jazzpreis und den Preis der deutschen Schallplattenkritik, den er 2019 erhielt.

 

Nach fünf Auftritten in den letzten Jahren, das letzte fand vor genau zwei Jahren mit einer All-Star-Besetzung statt, war jetzt Parisien erneut beim Jazzclub Singen im Kulturzentrum Gems zu Gast. Dieses Mal kam er mit seinem französischen Quartett, das in den letzten zwei Jahrzehnten maßgeblich zu seinem kometenhaften Aufstieg beigetragen hat. Das Ensemble steht für einen modernen Jazz, der mitreißt und auf überzeugende Weise Elemente aus verschiedenen musikalischen Gattungen, ob Rock, Latin oder avantgardistische E-Musik, zu einem ausdrucksstarken Stil verbindet. Ob Groove oder Swing, ob freies Spiel oder ausgetüftelte Kompositionen, ob impressionistische Träumereien oder aufbrausendes Power-Play – alles sieht sich in Parisiens Musik vereint.




 

Sehr dezent und auf leisen Sohlen hat mittlerweile die Elektronik Einzug gehalten. War Parisiens Jazzmusik zu Beginn seiner Karriere noch rein akustisch gehalten, kommen jetzt gelegentlich synthetische Klangfarben ins Spiel. Der Bandleader hat neben sich auf der Bühne ein kleines Tischchen aufgebaut, übersät mit Knöpfen und Reglern, mit denen er sein Sopransaxofon zu einem riesigen Saxofonchor aufblasen oder einen enormen Nachhall erzeugen kann. 

 

Der zweite Elektroniker in der Band ist Schlagzeuger Julien Loutelier, der gleichfalls neben seinem exzellenten Trommelspiel ein kleines Mischpult bedient, auf dem er vorgefertigte elektronische Rhythmen abrufen kann. „Tiktik“ hieß eine der originellsten Kompositionen des Abends, deren Rückgrat ein konstantes Klickgeräusch bildete, um das die Musiker ein hochkomplexes Arrangement flochten mit überraschenden Wendungen und Pausen, die nicht ohne Witz und Humor waren. Das Publikum geriet angesichts einer solch exzellenten Jazzmusik richtiggehend aus dem Häuschen, so daß Parisien und seine Mannen erst nach einer längeren Zugabe von der Bühne gelassen wurden. 

Monday, 4 November 2024

Baba Zula mit neuem Album

Baba Zula – Straßen von Istanbul

Foto: C. Wagner


Baba Zula sind eine Rockband aus Istanbul, die einen Brücke schlägt zwischen den Klängen vom Bosperus und psychedelischen Sounds. Über einem so dichten wie steten Rhythmusgeflecht aus Drums, türkischen Handtrommeln und treibendem Baßspiel, legen die türkischen Rockmusiker weitausholende Solos auf der Saz, einer Langhalslaute, deren Töne durch allerlei Verzerrer und Wah-Wahs gejagt werden. 

 Die Titel auf dem neuen Album sind oftmals als Collagen konzipiert, wobei die Blende als wichtiges Stilmittel fungiert. Wir hören Stimmen wispern, historische Feldaufnahmen vom Hafen, Mövengeschrei und die Wellen ans Ufer schlagen, während die Saz oder eine verzerrte E-Gitarre über einem hypnotischen Beat ihre Improvisationen legen.


 

Obwohl die Musiker von Baba Zula um einiges älter sind – Bandleader Murat Ertel ist Jahrgang 1964 – spielt die Band doch eine Musik, wie sie wohl nur aus den Teilen der türkischen Jugendkultur kommen kann, die – westlich orientiert – vor mehr als zehn Jahren wegen der drohenden Vernichtung des Gezi-Parks in Istanbul eine massive Protestwelle startete, die vom Erdogan-Regime brutal unterdrückt wurde. In der Musik von Baba Zula brodelt der Geist der Revolte. 


Baba Zula: Istanbul Sokaklari (Glitterbeat Records)


You tube video:


https://www.youtube.com/watch?v=w6THsB95Nrc




Mehr zum Thema:

Sunday, 6 October 2024

Sufi-Musik auf der Flöte Ney

Wiederbegegnung mit Kudsi Erguner

Um 1990 hatten wir beim Balinger Kulturverein in unserer Konzertreihe "Musik der Fremde" zweimal Ensembles von Kudsi Erguner zu Gast, einem Spezialisten der islamischen Sufi-Musik und Meister der Flöte Ney. Das eine Ensemble war eine achtköpfige Formation mit Kudsi Erguners Bruder, der ebenfalls Ney-Flöte spielte, und türkischen Musikern mit Oud, Kanun, Trommeln und einer Sängerin. 

Kudsi Erguner mit seinem Ensemble in der Balinger Stadthalle, 1990 (Foto: C. Wagner)




Das zweite Konzert, das ein Jahr später stattfand, bestritt Erguner mit einem Quartett bestehend aus drei seiner französischen Schülern. Beides Mal war es ein absolutes Konzert-Highlight und wurde damals vom SWR2 mitgeschnitten und übertragen. Nach wohl fast 40 Jahren habe ich jetzt Kudsi Erguner für ein Interview in Paris wiedergetroffen, wobei er mir sein aktuelles Album mitgegeben hat, das "Fragmente der Sufi-Zeremonien" enthält – wunderbare sakrale Musik aus dem Orient, wie sie bei den Tanzritualen der Sufi-Gläubigen gespielt wird, die im Westen als tanzende Derwische bekannt sind. 



 

Monday, 30 September 2024

Rock 'n' Roll Café, Texas 1969

Die Arhoolie Foundation hat begonnen, Fotos und Dokumente des legendären Plattenlabel-Betreibers, Musikforschers und Fotografen Chris Strachwitz (1931 – 2023) zu veröffentlichen, darunter ein fantastisches Foto von Aline Dillard's Rock and Roll Café, aufgenommen von Strachwitz in Texas, 1969.

Hier der Internet-Zugangs zu diesem interessanten Quellenmaterial, das Strachwitz im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat – eine Fundgrube für Roots-Music aus den USA:

https://digitalcollections.arhoolie.org/collections/chris-strachwitz-collection


Mehr zu Chris Strachwitz und Arhoolie Records:

https://christophwagnermusic.blogspot.com/2012/10/labelportrait-arhoolie-roots-music.html

Friday, 20 September 2024

Fabian Dudek in Singen

Jazzmusiker als Slalomläufer

Das Fabian Dudek Sextett beim Jazzclub Singen in der Gems


                                            Foto: Christoph Wagner

  

Neben Berlin gilt die Kölner Jazzszene zur Zeit als die interessanteste in Deutschland. In der Domstadt tummeln sich etliche hochkarätige Jazzmusiker, die mehr und mehr ins Rampenlicht drängen. Da schießt gerade eine junge Generation aus den Startlöchern, von denen Fabian Dudek einer der Talentiertesten ist. 

 

Der Altsaxofonist, Jahrgang 1995, begreift sich nicht ausschließlich als Instrumentalist und Bandleader, sondern vor allem als Komponist, der ambitioniert neue Wege geht. Mit seinem Sextett stellte er in der Besetzung mit Flöte, Altsaxofon, Trompete, Piano, Baß und Schlagzeug in Singen sein aktuelles Doppelalbum vor (Titel: Protecting A Picture, That’s Fading), das sich wie das Konzert in zwei Hälften teilt, mit einer kurzen Unterbrechung (zum Wechseln der beiden CDs) in der Mitte.  

 

Dudek entwirft Kompositionen im Großformat, die einem vertrakten Slalomlauf gleichen, unerwartete Haken schlagen, manchmal mächtig beschleunigen, um dann abrupt abzubremsen. Was die Klanglichkeit betrifft, bevorzugt der Kölner rauhe und schroffe Sounds genauso wie schrille Töne. Wenn er gelegentlich die Piccolo-Flöte von Pauline Turrillo und die hohen Tastenanschläge des Pianos von Felix Hauptmann in kurzen Staccati vereint, wirken solche Töne wie Nadelstiche, die durch Mark und Bein gehen.

 

Dudek baut Fallgruben, Geheimtüren und doppelte Böden in seine Stücke ein, deren Arrangements oft ganz andere Wege gehen, als erwartet. Die Melodien, unterlegt von diffizilen Rhythmen, sind voller Widerhaken, wobei manchmal neben dem Schlagzeug auch Klangstäbe und Metallperkussion Akzente setzen. 

 

Alle sechs Musiker sind versierte Könner auf ihren Instrumenten, die sie mit einer Virtuosität beherrschen, die einen bei solch jungen Musikern doch Staunen läßt. Darüberhinaus kennen sie die Jazzgeschichte in- und auswendig, sind mit den Konzepten der Jazz-Moderne ebenso vertraut wie mit den Techniken der E-Musik-Avantgarde. In seinem Saxofonspiel zieht Dudek immer wieder vor seinen Heroen den Hut, den Jazzgiganten Ornette Coleman, Albert Ayler und Anthony Braxton. 

 

Möglicherweise zielt der Komponist mit seinen Mega-Kompositionen zu hoch. Motive, Atmosphären und Stimmungen sehen sich selten zur Genüge erkundet, vielmehr springt die Musik wie bei einem Slalomlauf in atemloser Manier von einer Idee zur nächsten. Mehr Ruhe hätte ihr gut getan.

Saturday, 14 September 2024

Das Erbe des Merseybeat

Beatles-Archäologie

Liverpool und der Merseybeat


in einer Seitenstraße im Zentrum von Liverpool (Foto: Christoph Wagner)

Liverpool vermittelt das Gefühl einer leeren Stadt. In Zeiten des Empire war die Hafenstadt am Mersey das Tor nach Amerika, ein riesiger Seehafen mit kilometerlangen Dockanlagen. Davon zeugt heute noch die eindrucksvolle Architektur. Doch verglichen mit der glorreichen Vergangenheit, ist Liverpool heute nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Stadtkorpus wirkt um einiges zu groß für die geschrumpfte Einwohnerzahl. Die Prachtstraße entlang der Uferpromenade, gesäumt von den Protzbauten der ehemaligen Reedereien und Handelsgesellschaften, ist nur mäßig befahren und wenn man in der Innenstadt nur fünfzig Meter von der Haupteinkaufsmeile (Bold Street) abbiegt, geht man durch leeren Gassen. 


Allein die Geschichte verströmt noch etwas Glanz. Vor allem in der Mathew Street tummeln sich die Touristen. Das verwinkelte Sträßchen gilt als Wiege der Popmusik. Eine Metallstatue markiert den heiligen Ort, die John Lennon in Lebensgröße zeigt. Lässig steht er da in Halbstarken-Pose an eine Hauswand gelehnt mit spitzen Cowboystiefeln, Röhrenjeans, Pullover und  offener Lederjacke, dazu der typischen Pilzkopf-Frisur. Gelangweilt hat er die Hände in den Hosentaschen vergraben. 


Die Lennon-Statue ist hier nicht zufällig postiert. Schräg gegenüber befand sich einst der Eingang des legendären Cavern-Club, dem Ort, wo Anfang der 60er Jahre die Karriere der Beatles begann und der seither als Ausgangspunkt der Popmusik nicht nur in Liverpool und England, sondern in ganz Europa gilt, sprich: Heilige Erde! 


Der Cavern-Club existiert schon lange nicht mehr. Er wurde vor Jahren abgerissen und durch einen modernen Funktionsbau ersetzt. Ein paar Meter weiter hat ein Dublikat seither die Pforten geöffnet. Eine Sanierungs-Sünde, die man  in Liverpool seit langem bereut. Nur ein Hinweistafel erinnert noch an die einst glorreichen Zeiten. 


Damals, zu Beginn der 1960er Jahre, herrschte in den engen Gassen der Altstadt jeden Abend Hochbetrieb. Ein neuer, schriller, ohrenbetäubender Sound sorgte für Hysterie. Hunderte von jungen Leuten strömten zu Auftritten der Beatles, von Gerry & The Pacemakers oder der Fourmost, die entweder gleich um die Ecke im Iron Door in der Temple Street auftraten oder hier im Cavern. Brav wurde vor dem Eingang Schlage gestanden, bis man eingelassen wurde und dann zwei Treppen in das riesige Kellergewölbe hinunterstieg, das an die 500 Besucher fasste.


Der Cavern Club war ein feuchtes Loch, das im 2. Weltkrieg als Luftschutzkeller gedient hatte. Er war schlecht beleuchtet, stickig und modrig. Frischluftzufuhr gab es kaum. Wenn der Laden voll war, tropfte das Kondenzwasser von den Wänden. Die jungen Leute kümmerte das wenig. Auf sie übte der Club eine magische Anziehungskraft aus, weil hier die heißesten Bands 

spielten.


John-Lennon-Statue schräg gegenüber vom ehemaligen Cavern-Club. (Foto: Christoph Wagner)

 


Ursprünglich war der Cavern 1957 als Jazzclub entstanden, doch änderte er mit der Zeit sein Konzept, um die neuen musikalischen Strömungen zu präsentieren. Das war kommerziell einträglicher. Zuerst wurde ein Abend für Skiffle eingerichtet, dann tauchten ab 1961 die erste Beatbands auf, die bald das Programm dominierten, weil der Publikumsansturm so gewaltig war. 


Die Beatbands gingen aus einer lebendigen Musikszene hervor, die in Liverpool eine lange Tradition hat. Wahrscheinlich war der Einfluss der  irischen Einwohner dafür verantwortlich, dass in fast jeder Kneipe Musik gemacht wurde, gehört in Irland das gemeinschaftliche Musikmachen und Liedersingen im Pub doch zur Alltagskultur. In Liverpool war der Anteil der Iren hoch. Sie waren Nachfahren von  Auswanderern, die auf dem Weg nach Amerika in der nordenglischen Hafenstadt zu Tausenden hängengeblieben waren. Irland, unter englischer Besatzung, hatte im 19. Jahrhundert keinen eigenen Überseehafen. 


Bei den Musikveranstaltungen ging es hoch her, oft kam es zu Schlägereien. “Da die Pubs um 10 Uhr dichtmachten, tranken die Leute dort so viel Bier wie möglich, bevor sie in die Tanzclubs weiterzogen,“ erzählt Billy Butler, ein Veteran der Liverpooler Szene. “Wenn ein paar Hundert Leute tanzten, und man aus Versehen jemanden anrempelte, der aber meinte, dass es Absicht war – ging es schon los. Wenn man mit jemanden einen Streit hatte, ging man danach besser nicht mehr alleine auf die Toilette, weil er einem vielleicht mit seinen Freunden folgte. Man kannte die Banden und wußte aus welchem Stadtteil sie waren. Man wußte, wem man aus dem Weg gehen mußte, wer der Anführer war. Das lernte man, indem man jede Woche ausging. Manchmal gab es Ärger nachts auf dem Heimweg. Vielleicht war da eine Bande auf der anderen Straßenseite, die herüber schrien. Man brüllte zurück. Dann kam es zum Tumult. Wenn sie in der Überzahl waren, rannten man besser so schnell man konnte. Wenn man ein guter Läufer war, konnte man entwischen.” 


1961 fing Billy Butler an, im Cavern-Club als Discjockey zu arbeiten. Fünf bis sechs Tage in der Woche legte er in der Mittagspause und abends zwischen den Auftritten der Bands aktuelle Scheiben auf. Butler war ein Teil der Szene und kannte sie alle: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Richard Starkey alias Ringo Starr, auch Pete Best und Stuart Sutcliffe, die ehemaligen Beatles, und noch viele mehr, denn die Beatles waren damals bei weitem nicht die einzige Band in Liverpool – im Gegenteil: Sie waren eine unter vielen. Vielleicht sogar nicht einmal die beste. Die Popszene in Liverpool vibrierte, und es wimmelt geradezu vor Beatgruppen. 


“Es gab damals Hunderte von Gruppen,” erzählt Butler, der selbst zuerst bei den Merseybeats, dann bei den Tuxedos spielte. “Um die Beschäftigung stand es damals nicht schlecht in Liverpool. Aber wenn man ein bisschen Geld nebenher verdienen wollte, konnte man entweder Fussball spielen, boxen oder Entertainer werden. Als ich dieTuxedos gründete, verdiente ich mit meinem normalen Job 2.50 Pfund die Woche. Für einen Auftritt bekamen wir 6 Pfund, was bei vier Musikern 1.50 Pfund pro Mann macht. Das war schon fast ein Wochenlohn. Hatte man zwei Auftritte in der Woche, konnte man damit sein Einkommen verdoppeln. Es war also eine gute Möglichkeit Geld zu verdienen, was für junge Leute Grund genug war, in eine Band einzusteigen. Und natürlich hatte man als Bandmitglied auch bei den Mädchen größere Chancen.”


The Merseybeats traten über 100 Mal im Cavern Club in Liverpool auf, hier am Pier in Liverpool vor dem Liver-Building, ein Wahrzeichen der Hafenstadt. (Foto: Peter Kaye)




Da Liverpool an der Mündung des Mersey liegt, wurde der neue Stil Merseybeat genannt. Bands wie The Merseybeats, Rory Strom & The Hurricans, The Clayton Squares, The Fourmost, Billy J Kramer & The Dakotas, The Remo Four, The Black Knights und die Kubas prägten ihn. Die meisten Bands brachten es jedoch zu keiner Platteneinspielung und sind darum heute längst vergessen. 


Schaut man sich die Plattencovers genauer an, fällt auf, dass viele Formationen aus drei singenden Gitarristen und einem Schlagzeuger bestanden, der Standardbesetzung einer Beatband, wie sie sich damals herausschälte. Die Beatles traten auch mit dieser Instrumentierung auf. 


Wie ganz England stand Liverpool Ende der 1950er Jahre im Zeichen des Skiffle. Skiffle-Bands mixten Jazz, Folk und Blues zu einer rustikalen Schrammelmusik, die mit Waschbrett, Wandergitarre und Kamm gespielt wurde. Aus den Kisten, in denen der Tee aus Indien und Ceylon in den Docks ankam, wurden mit einem Besenstil und Draht ein Zupfbass gebastelt. Zu Dutzenden gab es solche Sperrmüll-Gruppen in der Stadt. Selbst die Beatles waren ursprünglich aus einer Skiffleband namens The Quarry Men hervorgegangen. Skiffle war die ideale Musik für Jugendliche mit wenig Geld und geringen musikalischen Kenntnissen.


Nach Skiffle machte ein neuer Sound Furore. Als zuerst Gerry & The Pacemakers und dann die Beatles die Hitparaden stürmten, kannte die Begeisterung keine Grenzen. In den Zeitungen waren Bilder von kreischenden Teenagern zu sehen. Von “Beatlemania”  oder “Merseymania” war die Rede. Der Merseybeat avancierte zu einem nationalen Phänomen. Liverpool zum Gütesiegel. 


“Leute riefen mich aus ganz England an, um eine Gruppe aus Liverpool zu buchen,” erzählt Manager Joe Flannery. “Manchmal stellten wir einfach eine Ad-Hoc-Band zusammen, die erst im Bus auf dem Weg nach Südengland eine Show einstudierte. Den Clubbesitzern im Süden war das egal, solange sie auf das Plakat ‘Direct from Liverpool’ schreiben konnten. Damit waren sie zufrieden, weil es einen vollen Saal garantierte.”


Trittbrettfahrer versuchten auf den Erfolgszug aufzuspringen. Beatles-Imitatoren schossen wie Pilze aus dem Boden. Gruppen schrieben einfach den Zusatz “Mersey” auf ihre Platten oder Plakate und der Erfolg war garantiert. Andere änderten ihren Bandnamen, nahmen ein paar Beatles-Hits ins Programm und nannten sich jetzt “The Merseyboys” oder “The Merseysound”, obwohl sie eigentlich aus Birmingham kamen und ursprünglich unter dem Namen The Runaways firmiert hatten. Alles wurde unternommen, um ein Stück vom Kuchen abzubekommen.


Nach den grauen Jahren der Nachkriegszeit, als der Wiederaufbau mit Lebensmittelrationierungen, Armut und Entbehrungen den Alltag bestimmte, hatte man in England Anfang der 1960er Jahre endlich das Gefühl, dass es aufwärts ging. Die Löhne stiegen und Politiker verkündeten, dass “der Wohlstand noch nie so groß war”. Waschmaschinen und Fernsehgeräte wurden zu Symbolen des Aufschwungs. 


Junge Leute hatte zum ersten Mal übriges Geld, das für Konsumgüter und Freizeitvergnügen ausgegeben werden konnte. Sie kauften sich tragbare “Dancette”-Plattenspieler, was den Schallplattenverkauf noch oben schnellen ließ. Waren 1955 9 Millionen Langspielplatten verkauft worden, waren es 1960 schon fast doppelt so viele. Die neue Beatmusik gab dem optimistischeren Lebensgefühl der Jugend Ausdruck. 


Selbst zur Mittagszeit von 12 bis 14 Uhr trat man sich im Cavern-Club auf die Zehen. “Es gab die Lunchtime-Sessions, wo normalerweise zwei Liverpooler Gruppen spielten, oder eine lokale Band und eine berühmtere Gruppe von auswärts, die abends nocheinmal auftrat,” erzählt Billy Butler. “Es war immer genagelt voll. Es kostete kaum Eintritt und wir verkauften Suppe, Kaffee, Hotdogs und Sandwiches, und man konnte den Gruppe zuhören.”


Bob Wooler, der Betreiber des Cavern Club, mit dem amerikanischen Bluesharmonikaspieler Sonny Boy Williamson, backstage im Cavern (Foto: Peter Kaye)





In den musikalischen Vorlieben unterschied sich Liverpool nicht wesentlich von anderen englischen Großstädten. Höchstens wurden hier die Akzente etwas anders gesetzt. Das hatte mit der Vergangenheit zu tun: Als Hafenstadt war Liverpool immer ein Fenster zur Welt gewesen und nach London die kosmopolitischste Stadt des Vereinigten Königreichs. Vor allem nach Amerika bestanden enge Verbindungen. Liverpool galt als die amerikanischste Stadt Großbritanniens. Kein Wunder, dass die neusten Trends von Übersee hier früher ankamen und schneller aufgegriffen wurden als im übrigen England. Amerikanische Einflüsse wie Soul, Blues, Country und Gospel waren im Sound der Liverpooler Bands stärker präsent.


Als Trendsetter konnte sich Liverpool nicht lange behaupten. Bald war der Hype vorbei. Hatte der Merseybeat 1963 und 64 noch die Hitparaden beherrscht, ging die Erfolgsstory jetzt rapide zu Ende. Der Knock-out kam als die Beatles nach London zogen und das Medieninteresse und den Starrummel mitnahmen. Schlagartig rutschte Liverpool in die Normalität zurück. Knappe zwei Jahre war man Welthauptstadt des Pop gewesen, jetzt kehrte der Alltag wieder ein. Und der war grau! 


Denn ökonomisch ging es kontinuierlich bergab. Liverpool, einst einer der größten Seehäfen der Welt (1912 ging 15 % des gesamten Weltseehandels durch die Stadt), verlor vollständig an Bedeutung. Die Stadt wurde zum Problemfall, Arbeitslosigkeit, soziale Verwerfungen und Slums chronisch. In den 1980er Jahren kam es zu “Riots”. Mit Geld versuchte die Zentralregierungen in London die Wut zu befrieden. Das Albert Dock wurde zu einem Museums-, Shopping- und Café-Komplex umgebaut, der heute ein Touristenmagnet ist. Vor allem das Beatles-Museum, das Museum of Liverpool und die Kunstgalerie “Tate North” zieht Massen von Besuchern an. Doch nur ganz allmählich verbesserte sich die Situation. 


Inzwischen signalisieren chromgläserne Capuccino-Bars, dass es aufwärts geht. Und 2008 war Liverpool Kulturhauptstadt Europas. Seither hat sich viel verändert, viele moderne Bauten, Kaufhäuser und Shops sind in der Innenstadt entstanden, jedes angesagte Label ist hier präsent, doch kaum weicht man von den Hauptadern des Kommerzes ab, steht man wieder im alten Liverpool, wo die Häuser vor sich hinrotten und sich in den Hinterhöfen der Müll häuft.