Labelportrait: ARHOOLIE - Roots Music, Weltmusik und Blues
Musik vor der Haustür
Das amerikanische
Arhoolie-Label des deutschen Emigranten Chris Strachwitz
CW. Die Geschichte der Emigration
schreibt die abenteuerlichsten Biographien: Nach dem 2. Weltkrieg kommt ein
16jähriger Teenager von Deutschland nach Amerika, wo er ein paar Jahre später
ein Schallplatten-Label gründet, das zu einem der bedeutendsten Klangarchive
amerikanischer Regionalmusik wird. Der Einwanderer heißt Chris Strachwitz, sein
Label: Arhoolie Records. Im September 1960 gegründet, hat sich die Firma in den mehr als 50 Jahren ihres Bestehens zu einem der einflussreichsten Rootsmusic-Labels der
USA entwickelt und der “Weltmusik” den Weg geebnet.
Was für ein Schock muss es
gewesen sein, aber auch was für eine Befreiung, als der Teenager 1947 in
Amerika an Land ging, geflohen aus Schlesien mit Mutter und Geschwistern vor
den russischen Soldaten. Glücklicherweise hatte die Familie eine Großmutter in
den USA, die nur zu gerne half. Sie wurde zur ersten Anlaufstelle. Bald fanden
sie bei einer der Tanten in Nevada Unterkunft.
In Amerika war alles anders.
Verwirrend und überwältigend empfand Christian “Chris” Strachwitz die fremde
Umgebung. Neue Eindrücke prasselten auf ihn ein. Wenn man das Radio
einschaltete, ertönte eine Musik, wie sie der Teenager noch nie gehört hatte,
Klänge, die ihm ziemlich exotisch vorkamen. Aber vielleicht war es gerade
dieser fremde Reiz, der ihnen eine so ungeheure Faszination gab.
Rasch lernte Strachwitz zu
unterscheiden: Blues, Hillbilly, Gospel, mexikanische Musik. “Ich habe
Hillbilly-Platten gekauft, auch Boogie-Woogie und Rhythm & Blues,” erinnert
er sich. “Die Schellacks waren richtig teuer und ich habe mein ganzes bisschen
Taschengeld dafür ausgegeben.” Im Kino hörte er zum ersten Mal Jazz und war wie
benommen.
Nach Schule, College und
Wehrdienst trat Strachwitz eine Lehrerstelle in Kalifornien an. In der Freizeit
klapperte er Flohmärkte ab auf der Suche nach Schellacks. Sie wurden Ende der
50er Jahren billigst verramscht, als Läden und kleine Schallplattenfirmen für
die neuen Vinyl-Singles ihre Lager räumten. Manchmal standen ganze
Lastwagen-Ladungen zum Verkauf. Strachwitz nutzte die Gelegenheit. Seine
Sammlung wuchs rapide. Viel verkaufte er an Sammler nach Europa. “Auf diese
Weise habe ich im Plattengeschäft angefangen. Ich habe alles erstanden, wo
‘Bluessänger mit Gitarre’ draufstand,” erzählt er.
Die Einnahmen investierte der
Junglehrer in ein Tonbandgerät und erkundigte sich bei Freunden nach
Bluessänger mit der Absicht, sie aufzunehmen. Jesse Fuller wohnte nicht weit,
auch K.C. Douglas. “Ungeheure Musiker lebten in der Gegend um San Francisco,”
erinnert sich Strachwitz. “Einen lernte man durch den anderen kennen. Ich fing
an, Detektiv zu spielen, um Bluessänger aufzuspüren.”
1959 erreichte ihn eine
Postkarte seines Freunds Sam Charters (heute ein bedeutender Bluesforscher):
“Habe Lightnin Hopkins gefunden!” Strachwitz war wie elektrisiert. Sofort
schmiedete er Pläne für eine Pilgerreise in den amerikanischen Süden, um den
legendären Bluessänger in Houston, Texas aufzustöbern. “Als ich ihn am ersten
Abend in dieser winzigen Kneipe hörte, war das unglaublich!” begeistert sich
Strachwitz noch heute. “So etwas hatte ich noch nie erlebt, wie er das Publikum
in seinen Auftritt einbezog, spontane Verse über die Ereignisse des Tages
erfand. Das war phänomenal! Ich dachte: ‘Das müsste man doch einmal so
aufnehmen - nicht im Studio, sondern ‘live’ vor Heimpublikum’!”
Im folgenden Jahr reiste
Strachwitz abermals nach Houston, diesmal mit einem Tonbandgerät im Gepäck. Auf
dem Hinweg machte er in Dallas Aufnahmen mit zwei Bluessängern, doch sein
eigentliches Ziel hieß Lightnin Hopkins. Als er in Houston ankam, war die
Enttäuschung groß: Der Bluessänger war gerade nach Kalifornien zum Berkeley
Folk Festival abgereist! Strachwitz beschloss, seinen Aufenthalt zu nutzen,
fuhr aufs Land raus, um andere Bluesmusiker aufzustöbern. Leute, die er fragte,
brachte ihn mit Mance Lipscomb in Kontakt, den Strachwitz noch am selben Abend
in seinem Wohnzimmer aufnahm. Lipscomb war ein Songster, mit einem riesigen
Repertoire. Er kannte Dutzende von Songs, darunter viele Bluestitel, aber auch
Balladen, Ragtime-Nummern, Lullabies, Spirituals und Worksongs - viele älter
als der Blues.
Die Session war so ergiebig,
dass Strachwitz genügend Tonmaterial beisammen hatte, ein eigenes Label aus der
Taufe zu heben. Ein Freund schlug den Namen “Arhoolie” vor, ein Wort, das von
“Hoolie” herrührt, das wiederum von “Field-Hollers” abgeleitet ist und die
Bezeichnung für die heulenden Rufgesänge der schwarzen Baumwollpflücker auf den
Plantagen ist.
Im November 1960 lag die erste
Arhoolie-Platte vor - Heimarbeit! Das Cover bestand aus schwarzem Karton, auf
den Strachwitz mit Freunden am Küchentisch ein Deckblatt geklebt hatte,
bedruckt mit dem Name des Künstlers und des Titels: Mance Lipscomb: Texas
Sharecropper & Songster. Arhoolie 1001. Vorsichtshalber hatte Strachwitz
nur 250 Stück pressen lassen.
Doch das Blues-Revival sorgte
für Absatz. Der Verkauf war so ermutigend, dass bald weitere Produktionen
folgten: Bluesscheiben von Big Joe Williams, Black Ace und Lil’ Son Jackson.
Mit der Zeit weitete sich das Spektrum. Jazz, Barrelhouse-Piano und Gospel
brachten andere Töne ins Sortiment. Am Ende der Dekade hatte Arhoolie bereits
50 Titel im Katalog.
Oft spielte der Zufall
Schicksal. “Als ich 1965 Lightnin Hopkins besuchte, sagte er eines Abends:
‘Hast du Lust meinen Cousin zu hören - Clifton Chenier!’” erzählt Strachwitz.
“Ich kannte ein paar Platten von Chenier. Wir gingen in diese kleine schäbige
Kneipe, wo er mit seinem riesigen Akkordeon auftrat. Er sang tollen Blues in
diesem merkwürdigen Französisch, was sich wunderbar anhörte.”
Strachwitz erkannte die Chance.
Eine Single wurde aufgenommen, nur Akkordeon, Schlagzeug und Waschbrett. In den
Juke-Boxes von Louisiana und Texas hatte der Titel Erfolg, was Clifton Chenier
half, wieder Auftritte zu finden und künstlerisch abermals auf die Beine zu
kommen. Als “King of Zydeco” wurde er später weltberühmt. Zydeco war die
Bezeichnung für den “Louisiana-Blues”, auch “French Blues” genannt, den Chenier
spielte.
Das Plattengeschäft war beileibe
keine Goldgrube, doch verdiente Strachwitz genug, um den Lehrerberuf an den
Nagel hängen zu können. Im Sommer 1965 erhielt er einen Anruf, ob er eine
Aufnahme für einen Friedensmarsch machen könnte, der in ein paar Wochen in San
Francisco stattfinden würde. Eine Single sollte aufgenommen werden, um sie bei
der Demonstration zu verkaufen.
Vier Hippiemusiker kreuzten mit
ihren Gitarren in Strachwitz’ Wohnung auf, der ein Mikrofon von der Decke
baumeln ließ. Alles lief glatt und nach ein paar Anläufen war die Einspielung
im Kasten. Beim Gehen, zwischen Tür und Angel, erkundigte sich der Bandleader,
was sie ihm für die Arbeit schuldeten. Strachwitz fragte, ob er den Song in
seinem Musikverlag veroffentlichen könnte - deal done!
Das Lied mit dem Titel “I Feel
Like I'm Fixing to Die Rag” von der mysteriösen Jug-Band, die sich als Country
Joe & The Fish entpuppte, wurde ein massiver Hit, das bekannteste Lied
gegen den Vietnamkrieg und eine der Hymnen einer ganzen Generation. Auf den
Woodstock-Alben und im Woodstock-Film spielt der Song eine zentrale Rolle, was
Strachwitz einen warmen Geldregen bescherte. Von den Verlagstantiemen konnte er
in El Cerrito, Kalifornien, einem Nachbarort von San Francisco, ein Gebäude für
seine winzige Firma kaufen.
Zu Blues, Gospel, Jazz und
Zydeco kam Cajun, Bluegrass, Klezmer und Tex-Mex. Mit der Zeit füllte die ganze
Vielfalt der amerikanischen Volksmusikstile den Arhoolie-Katalog. Doch Musik
nur akustisch zu dokumentieren, war Strachwitz nicht genug. In den 70er Jahren
hatte er 20 000 Dollar erspart, um mit dem Filmemacher Les Blank einen
Dokumentarfilm über die Musik im Grenzland zwischen Mexiko und den USA zu
drehen. “Die erste Reise führte nach Texas, wo wir Lydia Mendoza ausfindig
machen konnte, die große Tejano-Sängerin,“ erinnert sich Strachwitz. “Die
zweite Reise war noch ergiebiger. Wir haben viele Musiker getroffen, die wir
filmen konnten. Alle waren ungeheuer freundlich, haben uns zu Parties
eingeladen. Wir wollten unbedingt die Gruppe Los Alegres De Teran dabei haben,
die damals richtige Superstars waren. Durch einen Mittelsmann schaffte wir es,
mit Eugenio Abrego, dem Akkordeonspieler, in Verbindung zu treten. Er war
überhaupt nicht abweisend, sondern freute sich, dass endlich einmal ein paar
Gringos sich für seine Musik interessierten.”
Dann machte in den 90er Jahren
das Schlagwort “Weltmusik” die Runde, als ethnische Stile aus Afrika,
Lateinamerika, Asien und der Karibik im Westen immer populärer wurden. Der neue
Trend war Wasser auf die Mühlen von Chris Strachwitz, der durch die
Beschäftigung mit der ethnischen Musik Amerikas bereits tief in die sogenannte
“Weltmusik” eingedrungen war und darüber hinaus Aufnahmen mit Musikern aus
Hawaii, Kuba, Afghanistan, Belize, Mexiko oder Venezuela vorweisen konnte.
Eine Exkursion führte nach Peru.
Der Folkmusiker und Fotograf John Cohen lag Strachwitz in den Ohren, weil er
dort ein fantastisches Plattenlabel entdeckt hatte: “Discos Smith”. Die Firma
hatte seit den 60er Jahren exzellente Aufnahmen traditioneller Huayno-Musik
veröffentlicht, ein Stil, der aus den Bergen in die Städte gekommen war.
Die Bandbreite der Huayno-Klänge
war enorm und reichte von Blaskapellen bis indianischen Gesängen. “Eigentlich
wollten wir nur für ein paar Stücke die Linzenzen erwerben, was sich angesichts
des Bergs an Tonbändern, die sich in dem kleinen Büro stapelten, als
undurchführbar erwies. Wie hätten wir die alle durchhören sollen?” erinnert
sich Strachwitz. ”Wir fragten den Labelchef, was es kosten würde, die ganzen
800 Bändern zu kaufen. Wir wurden handelseinig, haben die Bänder in eine große
Kiste verpackt und nach Amerika geschafft.” Arhoolie hat dann die besten
Aufnahmen auf mehreren CDs veröffentlicht.
Über die Jahre hatte Strachwitz’
Schellackplatten-Sammlung solche Ausmaße angenommen, dass er für die
Wiederveröffentlichung alter Schellackaufnahmen nicht selten auf Schätze seiner
eigenen Sammlung zurückgreifen konnte. Ob für eine Doppel-CD mit früher
kroatischer Tamburitza-Musik oder ein Album mit historischen puerto-ricanischen
Aufnahmen, Strachwitz hatte genug interessantes Material im Kontor.
.
Zur Musik kommt die Information.
Jede Veröffentlichung von Arhoolie wird von einem dicken Booklet begleitet, das
Erklärungen und diskographischer Details über den jeweiligen Stil und die
Musiker enthält und den kulturellen und historischen Background beleuchtet. Mit
diesem Konzept knüpfte Strachwitz an die Tradition seines Vorbilds, des
legendären Folkways Labels an, das der Information fast soviel Gewicht beimaß
wie der Musik.
Inzwischen 81jährig hat
Strachwitz in den letzten Jahren etwas Tempo weggenommen. Dennoch kommt er noch
jeden Nachmittag ins Büro. Eine Stiftung, die Arhoolie Foundation, kümmert sich
inzwischen um seine riesige Schellacksammlung und unterstützt Forschungs- und
Filmprojekte über regionale Musikstile. Gerade hat die Arhoolie Foundation mit den Autoren Augustin Gurza und Jonathan Clark ein umfassendes Werk über "Strachwitz Frontera Collection of Mexican and Mexican American Recordings" herausgegeben, in dem man alles, aber auch wirklich alles, über die sogenannte Tex-Mex Musik am Rio Grande findet.
Außerdem gibt Arhoolie immer noch ein
paar Alben pro Jahr heraus. Doch das Geschäft wird schwieriger. Der Niedergang
der Musikindustrie setzt auch Arhoolie zu. “Kann ein kleines Label wie Arhoolie
in einer Zeit überleben, die durch eine totale Überflutung mit Musik aus der
ganzen Welt gekennzeichnet ist?” fragt der Labelchef und ist sich der Antwort
nicht sicher. Er denkt an Amazon, Youtube, Spotify und illegale Downloads, die
Entwertung konventioneller Tonträger generell. Schade, dass es für Arhoolie nicht mehr zum Feiern gibt. Gründe gäbe es genug!
Information: www.arhoolie.com
Auswahldiskographie:
Lightnin Hopkins: The Best of
Lightnin Hopkins (Arhoolie CD 499)
Mance Lipscomb: Texas Country
Blues (Arhoolie CD 9026)
Clifton Chenier: Louisiana Blues
and Zydeco (Arhoolie CD 9053)
Lydia Mendoza: The Best of Lydia
Mendoza (Arhoolie CD 536)
Los Alegres De Teran: Original
Recordings 1952-1954 (Arhoolie CD 9048)
Tamburitza! Early Recordings
(Arhoolie CD 7051)
Lamento Borincano - Puerto Rican
Lament (Arhoolie CD 7037)
Huayno Music Of Peru - Vol. 1
(Arhoolie CD 320)
Huayno Music Of Peru - Vol. 2
(Arhoolie CD 338)
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