Sie schnaufen, sie atmen
Als „organische Geschöpfe“ begreift Catalina Vicens mittelalterliche Orgelinstrumente
cw. Catalina Vicens ist eine Spezialistin für historische Tasteninstrumente. Besonders haben es ihr Organetti, Portative und frühe Kirchenorgeln angetan. Auf ihrem Doppelalbum „Organic Creatures – Medieval Organs Composed Decomposed Recomposed“ (Consouling Sounds) schlägt die Chilenin, die seit langem in Europa lebt, den Bogen von mittelalterlichen Werken von Perotin, Philip the Chancellor und Francesco Landini bis zu zeitgenössischen Kompositionen von Ivan Moody, Prach Boondiskulchok, Olli Virtaperko und Carson Cooman. Neben ihren Aktivitäten als Organetto-Solistin ist Vicens mit Ensembles der Alten Musik unterwegs.
Wie haben Sie die historischen Orgelinstrumente für sich entdeckt?
Vicens: Ursprünglich hatte ich Klavier studiert und mich dann dem Cembalo zugewandt, das ich Jahre lang als Konzertsolistin und mit Ensembles spielte. Dann begann ich mich für die Musik der Renaissance zu interessieren, woraus ein Interesse an der Musik des Mittelalters erwuchs. Damals studierte ich Cembalo an der Schola Cantorum Basiliensis in Basel, wo es einen Studienzweig für mittelalterliche Musik gibt. Obwohl ich von den mittelalterlichen Vorgängerinstrumenten des Cembalos gehört hatte, blieb mir deren Musik doch verschlossen. In einem Seminar über mittelalterliche Musiktheorie wies mich der Dozent auf ein Tasteninstrument hin, das die Schola in den 1970er Jahren angeschafft hatte und das seither auf dem Dachboden verstaubte. Dieses Instrument war das Organetto, auf dem ich dann zu spielen begann.
Wie funktioniert das Organetto?
Das Instrument ist ein Paradox: Es ist eine Orgel und doch auch wiederum nicht, da es anders gespielt wird. Unter einer Orgel versteht man ja üblicherweise ein Tasteninstrument mit Pfeifen und einer konstanten Luftzufuhr. Das Organetto hat normalerweise keine kontinuierliche Luftzufuhr. Der Ton wird mit einem Blasbalg erzeugt, der normalerweise mit der linken Hand aufgezogen und zusammengedrückt wird. Die Ikonographie lehrt uns, dass das Instrument sitzend, 90 Grad gedreht, auf dem Schoß gespielt wurde oder stehend mit einem Tragegurt über der Schulter. Die Tastatur wurde mit der rechten Hand bedient. Das Fehlen einer permanenten Luftzufuhr macht die Eigenart des Instruments aus. Es gibt Momente, wo das Instrument „atmen“ muß, der Balg also wieder mit Luft gefüllt werden muß, sonst stockt die Tonerzeugung. Daraus ergibt sich eine ganz spezielle Spielart, die der des Akkordeons nicht unähnlich ist.
Ist es eine Beschränkung, dass man nur mit einer Hand die Tasten bedienen kann?
Selbstverständlich! Doch man kann diese Limitierung auch als eine Herausforderung begreifen und ihr mit Kreativität begegnen. Dass die Zuhörer keine Erwartungen an das Organetto haben, hilft. Sie sind neugierig, welche Musik sich mit diesem außergewöhnlichen Instrument machen läßt und haben keine vorgefaßten Vorstellungen.
Wie sieht das Repertoire des Organettos aus?
Es gibt kein spezifisches Repertoire. Die mittelalterliche Musik, die ich auf dem Organetto spiele, ist ein- bzw. zweistimmig und war ursprünglich für Gesang bestimmt. Wenn die Komposition zweistimmig ist, kommt es darauf an, ob sie mit einer Hand gespielt werden kann, was gelegentliche Anpassungen erfordert. Theoretisch können sogar dreistimmige Kompositionen gespielt werden, da ich ja fünf Finger zur Verfügung habe. Ob das dann auch praktisch geht, gilt es herausfinden. Aus den nicht-existenten Erwartungen, dem Mangel einer spezifischen Literatur und dem Fehlen einer verbrieften Spieltechnik ergeben sich Freiheiten. Ich kann Entdeckungen machen und sehen, welche Möglichkeiten im Instrument schlummern. Von der Notwendigkeit des „Atmen holens“ hängt es z.B. ab, wie man eine Melodie spielt und phrasiert. Diese Charakteristik können zeitgenössische Komponisten nutzen. Der Blasbalg wird zur Lunge, die atmet. Im Umkehrschluß beeinflusst die Klangsprache der zeitgenössischen Kompositionen wiederum die Art, wie ich mittelalterliche Musik spiele.
Wieviele Freiheiten nehmen Sie sich?
Da wir kaum etwas über das Organetto wissen und ebenso wenig über die Musik, die darauf gespielt wurde, müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass es die eine richtige Art gibt, diese Musik zu spielen. Dass keine solche Zwangsjacke existiert, bedeutet im Gegenzug: Freiheit! Freiheit zu erkunden und zu experimentieren. Die Freiheit muß aber mit einer intensiven Analyse der Musik einhergehen, damit sie nicht zur reinen Beliebigkeit wird. Die Tonstimmung, die Struktur, auch der Text der ursprünglichen Vokalstimme – all das fließt in mein Spiel ein. Diese Aspekte sind wichtig, weil sie einen tieferen Einblick in den Charakter der Musik erlauben. Zusammen mit meinem Wissen über die Klangquelle – ob ein Organetto oder eine frühe Orgel – ergibt sich daraus meine Interpretation. Dazu kommen Fragen: Wie phrasiere ich? Welches Tempo macht Sinn? In welchem Kontext steht das Stück, ist es weltlicher oder sakraler Natur? Für welchem Anlaß wurde es komponiert? Das sind alles wichtige Punkte für die Interpretation. Daneben braucht es viel Fantasie, Kreativität und Vorstellungskraft.
Wie sind die zeitgenössischen Kompositionen zustande gekommen, die auf Ihrem Doppelalbum zu hören sind?
Auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Carson Cooman, ein amerikanischer Komponist und Organist, spielt selbst Organetto und schreibt Stücke für das Instrument, deren Notenbild wie mittelalterliche Kompositionen aussehen. Als er von mir hörte, schickte er mir ein paar seiner Stücke, die ich dann auf meine Art interpretierte. Auch das Werk „Lamento of Ananias“ von Olli Virtaperko gab es bereits. Es war ursprünglich für Solo-Gambe geschrieben worden, dann hat es der Autor für Organetto transkribiert. Weil es mit Bordunen arbeitet, funktionierte das. Wegen der Verzierungen erinnert mich diese Komposition an ein Stück von Guillaume De Machaut. Virtaperko forderte mich auf, damit improvisatorisch umzugehen, also zu ornamentieren.
Haben Sie auch neue Stücke in Auftrag gegeben?
Das war bei Prach Boondiskulchok der Fall, einem thailändisch-britischen Komponisten. Er hat zwei Kompositionen für mich geschrieben. Ich habe ihm das Organetto ausführlich vorgeführt und seine Möglichkeiten erläutert: Etwa wie der Blasbalg funktioniert oder auch die Option, die Stimmung des Instruments zu verändern, was er mit einer südostasiatischen Stimmung nutzte.
Auf ihrem Doppelalbum spielen Sie die unterschiedlichsten Orgelinstrumente. Stehen die alle bei Ihnen zuhause?
Keineswegs. Es ist eher so: Ich reise viel und suche gezielt Kirchen auf, in denen sehr alte Orgeln stehen, etwa die St. Andreaskirche in Ostönnen in Nordrhein-Westfalen. Dort befindet sich ein Instrument aus dem frühen 16. Jahrhundert. Ein anderes gibt es in der Mariakerk in Krewerd in den Niederlanden. Ich fahre hin, spiele darauf und versuche ein Gefühl für seinen Klang und seinen Charakter zu bekommen. Abgesehen davon gibt es auch Orgelbauer, die solche frühen Instrumente nachbauen. Es ist ein Abenteuer, sich in ein solches Instrument zu vertiefen. Manchmal nehmen auch Leute Kontakt mit mir auf und erzählen mir von einer interessanten Orgel, die ich dann möglicherweise in Augenschein nehme.
Welches Instrumentarium setzen Sie bei Auftritten ein?
Konzerte bestreite ich allein mit dem Organetto. Zudem wurde mir eine Renaissance-Orgel in Obhut gegeben, die ich gelegentlich ebenfalls einsetze. Allerdings erfordert das einen Bus für den Transport, während ich mit meinem Organetto mit der Bahn reisen kann.
Catalina Vicens: Organic Creatures – Medieval Organs Composed Decomposed Recomposed (Consouling Sounds)
Das Interview erschien zuerst in NEUE ZEITSCHRIFT FÜR MUSIK 4-2021. Zu beziehen über:
https://de.schott-music.com/shop/series/index/index/id/1000037
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