Thursday 30 March 2023

SCHEIBENGERICHT: Drummer Samuel Rohrer – zwischen Minimal Techno und Ambient

SCHEIBENGERICHT 13:

Samuel Rohrer 

Codes Of Nature  

(Arjunamusic Records; Vinyl / Digital) 

4 von 5 Sterne



Samuel Rohrer, 1977 in Bern geboren, ist über die Jahre von einem Jazzschlagzeuger zu einem Elektroniker im Kraftfeld zwischen Minimal Techno (der komplexeren Art) und Ambient Music geworden. Der Drummer, der bei Billy Brooks das Rhythmus-Handwerk gelernt hat, war anfangs mit den Pianisten Malcolm Braff oder Colin Vallon im zeitgenössischen Jazz unterwegs. Nach einem Umzug nach Berlin vor zwanzig Jahre hat er sich mehr und mehr ins Umfeld der Elektronik-Szene begeben, wo er mit Gruppen und Musikern wie Ambiq, Ricardo Villalobos, Tobias Freund, Dark Star Safari, Nils Petter Molvaer, Max Loderbauer oder Oren Ambarchi gearbeitet hat. Das färbt ab.  

Rohrer hat die verschiedensten Impulse aufgenommen und in ein Soloprojekt einfließen lassen, das ihn nun schon seit Jahren beschäftigt. Jetzt legt er mit „Codes of Nature“ sein viertes Solo-Album vor. Es enthält ein halbes Dutzend Stücke, die zwischen fünf und zehn Minuten lang sind. Überwiegend werden Rohrers Kompositionen von rhythmischen Ideen bestimmt und wären auf dem Dance- bzw. Chill-Out-Floor eines elektronischen Tanzclubs nicht völlig fehl am Platz, obwohl sie um einiges ausgeklügelter daherkommen. Mit dem Etikett IDM – Intelligent Dance Musik – wurde derart subtile Clubmusik in den 1990er Jahre versehen. 

Rohrer bleibt auch als Elektroniker immer Schlagzeuger. Er verwebt elektronische Klicks, Blobs und Piepstöne zu dichten Kreuz- und Gegenrhythmen und unterlegt sie mit mächtigen Bässen vom Synthesizer sowie prägnanten Schlagzeug-Beats, die an die repetitiven Schlagmuster der menschlichen Groove-Maschine, Jaki Liebezeit, in seinen späteren Jahren erinnern. 

Samuel Rohrer: Fourth Desnity (vom Album: Codes of Nature) youtube


Darüber, dazwischen und dahinter legt und schiebt er Partikel aus Elektronik-Sounds, verzerrten Stimmen und verquirllten Geräuschen, die sich gelegentlich zu rauschenden Sphärenmelodien verdichten, wobei sich das ganze komplexe Gebilde fortwährend unmerklich verändert und anders gruppiert. Rohrer entgrenzt seine One-Man-Band aus Laptop und Schlagzeug zu einem riesigen Xylophon- und Marimba-Orchester elektro-akustischen Zuschnitts.
 

Ruhiger fallen dagegen ein paar Stücke aus, die eher der Kategorie Ambient Music zuzurechnen sind und in der Tradition eines Aphex Twin und seinen Ambient Works stehen. Diese Musik ist luftiger gehalten und läßt den einzelnen Tönen mehr Raum. Wie im ewigen Auf und Ab der Gezeiten schwellen die Klänge an, um bald wieder zu verebben, wobei die Musik – rätselhafterweise – immer gleich bleibt und sich doch ständig verändert. 

Das Album-Besprechung erschien zuerst in der Zeitschrift JAZZTHETIK – für Jazz und anderes, Heft 3/4 2023

 

Monday 27 March 2023

Soko Steidle mit Schlippenbach in Villingen

Vom Chaos zur Form 

Im Jazzclub Villingen sorgte die Berliner Gruppe Soko Steidle mit Alexander von Schlippenbach für Begeisterung

Fotos: Christoph Wagner

 

Als „Konzert des Jahres“ kündigte der Ansager den Auftritt der Formation Soko Steidle im Jazzclub Villingen an. Das Berliner Quartett, angeführt vom Schlagzeuger Oliver Steidle mit Rudi Mahall (Klarinetten), Henrik Walsdorff (Altsaxophon) und Jan Roder am Bass, vereint vier Spitzenkönner der deutschen Jazzszene. Als Gast hatten sie den fast 85jährigen Pianisten Alexander von Schlippenbach ins Boot geholt, ein Urgestein des modernen Jazz, der bereits in den frühen 1960er Jahren mit dem Manfred Schoof Quintett und später mit dem Globe Unity Orchestra für Furore gesorgt hatte.

 

Mit der aktuellen Tournee feiert die Steidle-Truppe ihr 20jähriges Bestehen, was in der kurzlebige Jazzszene ein doch recht respektables Alter für eine Gruppe ist. In dieser Zeit haben die Musiker zu einem Stil gefunden, der Elemente des modernen und avantgardistischen Jazz mit Einsprengsel eher traditionellen Formen wie Swing oder Boogie vereint. Dass Klarinettist Rudi Mahall ein leidenschaftlicher Verehrer von Duke Ellington ist, blitzte in seinem Spiel gelegentlich auf, wobei der Exzentriker Thelonious Monk auch bei den anderen Bandmitgliedern hoch im Kurs zu stehen scheint, was sich an der Freude am musikalisch Vertrakten und Verquerten zeigte.

 

Bei ihrem Auftritt in Villingen spannten die fünf den Bogen weit, wobei die Musik zwischen den Eckpunkten melodisch und disharmonisch, leise und aufbrausend sowie einfühlsam und brachial viele Varianten kannte. Oft mit spontanem Stegreifspiel beginnend, fanden die Improvisationen immer wieder aus dem Chaos zu Form und Struktur.


 

Vom Alter gebeugt am Klavier kauernd, ließ Avantgarde-Altmeister Schlippenbach mit Einwürfen aufhorchen, die seine Mitmusiker aufgriffen und weiterführten, um dabei ihrerseits wiederum frische Ideen ins musikalische Geschehen einzuspeisen. Daraus erwuchs ein kollektives Ensemblespiel, das am Ende zumeist in ein loses Arrangement mit einfacher Melodie und durchlaufendem Rhythmus mündete. Klarinettist Mahall begeisterte sich an schrillen Überblaseffekten, während Saxofonist Henrik Walsdorff einen weicheren Ton bevorzugte. Die Rhythmusgruppe sorgte für exaktes Timing und pendelte zwischen hektisch-rasanten und gemächlich-entspannten Tempi. Leider verrutschte der Musik in der zweiten Konzerthälfte manchmal etwas der Fokus, weshalb es am Ende fraglich schien, ob man wirklich dem „Konzert des Jahres“ beigewohnt hatte?  

Friday 24 March 2023

Sebastian Rochfords Traueralbum

 Töne, die Trost spenden

 

Der englische Schlagzeuger und Komponist Sebastian Rochford über sein neues Album „A Short Diary“, das dem Andenken seines Vaters gewidmet ist 



Interview von Christoph Wagner

 

Wenn Patti Smith auf Tournee nach Europa kommt, ist „Seb“ Rochford ihr Drummer. Der Schotte, Jahrgang 1973, der seit langem in London lebt, hat sich einst mit seiner Band Polar Bear einen Namen gemacht. Nach zwölf Jahren löste er die Gruppe auf, um mit Pulled By Magnets ein Trio zu gründen, das musikalisch seine indische Herkunft (mütterlicherseits) mit seinem Faible für Hardcore und Grunge verbindet. Daneben war er in den letzten Jahren in eine Vielzahl anderer Projekte involviert: Unlängst hat er die LP „A Kind of Blue“ von Miles Davis mit einem Quartett aus zwei E-Gitarren, Kontrabaß und Drums neu interpretiert. Jetzt ist bei ECM das Album „A Short Diary“ erschienen, das Rochford mit dem Pianisten Kit Downes eingespielt hat und das einem traurigen Anlaß entsprang.

 

Ihr neues Album ist für sie eine ganz spezielle Einspielung – warum?

 

Sebastian Rochford: Das Album war nicht geplant. Die Kompositionen entstanden direkt nach dem Tod meines Vaters. Ich war bei ihm, als er starb. Gleich am nächsten Tag begann diese Musik in mir zu singen. Zuerst wollte ich nichts davon aufschreiben, weil ich den Tod meines Vaters nicht für andere Zwecke instrumentalisieren wollte. Als ich dann aber diese Melodien am Klavier zu spielen begann, war das ein echter Trost für mich. Ich hatte ähnliches schon beim Tod meiner Mutter 1991 erfahren, als ich achtzehn war. Ich versenkte mich damals in Musik. Ich notierte dann die Melodien und machte erste Aufnahmen am Klavier. Das wäre ganz im Sinne meines Vaters gewesen, der ein paar Tage vor seinem Tod noch davon sprach, wie ihn das Musikmachen in unserem Haus immer erfreut hatte. Die Erkenntnis reifte, dass ein Album mit diesen Stücken, eine Gelegenheit wäre, meinen Vater zu ehren. Auch war es eine letzte Chance, die Atmosphäre unseres Hauses einzufangen, in dem ich aufgewachsen bin, und das nach dem Tod unseres Vaters verkauft wurde. So ist wenigstens eine letzte Audio-Erinnerung entstanden.



Mir war nicht bewußt, dass sie auch Klavier spielen. Sie haben sich vor allem als Schlagzeuger einen Namen gemacht ...

 

SR: Klaviermusik war bei uns daheim immer präsent. Mein Vater mochte Bachs Goldberg-Variationen von Glenn Gould, während meine Mutter Platten von Bill Evans und Keith Jarrett auflegte. Als ich als kleiner Knirps den Wunsch äußerte, Schlagzeug spielen zu wollen, schlugen mir meine Eltern einen Deal vor: Zuerst sollte ich Klavier lernen, dann Schlagzeug. Das Klavier war deshalb das erste Instrument, das ich spielte, und bedeutet mir viel, weil es mich an meine Kindheit und Jugend erinnert.

 

Die Stücke auf dem neuen Album sind kein Jazz, eher kleine songhafte Stücke, die manchmal an Kirchenhymnen erinnern....

 

SR: Ich bin katholisch getauft und hörte Hymnen im Gottesdienst, die aber keinen größeren Eindruck hinterließen. Allerdings spielte mein Vater daheim neben Bach auch Musik des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis. Diese Einflüsse sind unterbewußt immer präsent. Als ich die Stücke komponierte, ging es mir darum, die Schwingungen nach dem Tod meines Vaters einzufangen. Ich stellte mir die Frage: „Welche Musik hätte er gerne gehört?“ Er schätzte Musik, die einen an einen anderen Ort transportierte. Darauf zielte ich ab.

 

Wie wurde das Album aufgenommen?

 

SR: Um es einzuspielen, dachte ich sofort an den Pianisten Kit Downes, mit dem ich vor Jahren ein Duo bildete. Ich fragte ihn, und er bekundete Interesse. Ich schickte ihm meine Aufnahmen der Stücke samt den Noten. Dann trafen wir uns und probten. Um die Stücke aufzunehmen, fuhren wir nach Aberdeen ins Haus meiner Eltern, wo wir eines Abends aufnahmen. Jedes Stück klappte auf Anhieb. Es war mir wichtig, die spezielle Atmosphäre des Raums einzufangen, auch den Klang des Klaviers, auf dem ich das Klavierspiel erlernt hatte und das ursprünglich meinem Großvater gehörte.


Sebastian Rochford / Kit Downes: Silver Light (youtube)


Wie passten sie ihr Schlagzeugspiel den Songs an?

 

SR: Ich habe versucht, der Einfachheit der Kompositionen gerecht zu werden, die Stücke bewußt als Songs zu begleiten. Es ist ja eigentlich ein Piano-Album. Ich habe mit Besen gespielt, gelegentlich auch mit Drumsticks. Das Schlagzeug ist manchmal da, manchmal abwesend. Darin lag eine Herausforderung, weil es technisch gesehen nicht sehr anspruchsvoll ist, was ich spiele. So habe ich das Schlagzeugspiel immer aufgefaßt: im Dienste der Komposition zu spielen. Paul Motian war mein Vorbild, weil sein Spiel soviel Raum hatte.

 

Die Platte erscheint bei ECM. Wie kam der Kontakt zustande? 

 

SR: Ich kannte Manfred Eicher von Studiosessions mit Andy Sheppard, weshalb ich instinktiv an ECM dachte. Ich schickte ihm das Tape und er sagte zu. Ich überließ ihm komplett das Abmischen, da ich ihm voll vertraute, was sich als richtig erwies: Der finale Mix war genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte - perfekt!

 

Sebastian Rochford & Kit Downes: A Short Diary (ECM)


Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift JAZZTHETIK – für Jazz und anderes, Heft 3/4 2023


 

Tuesday 14 March 2023

Rembetiko fürs elektronische Zeitalter

GASTBEITRAG VON SIMON STEINER


Post-Rembetiko: Antonia Kattou geht andere Wege


Portrait der zypriotischen Musikerin 


 

Auf einem unüblichen Rembetiko-Pfad befindet sich die griechische Zypriotin Antonia Kattou, geboren 1999 in Nikosia. Kattou ist vom Genre Rembetiko begeistert, respektiert die Originale aber arrangiert sie neu.



Antonia Kattou, geboren 1999 in Nikosia, mischt zu den alten Liedern Geräusche aus ihren field-recordings, Effekte, Synthesizer, elektrische Gitarre, Schlagzeug-Samples und mehrstimmigen Gesang, es entsteht  ein „Rembetika-Mix.“ Kattou schrieb mir: „Ich wollte verstehen, wie ich als griechische Zypriotin mit dem Rembetiko verbunden bin. ... Ich habe schon als Jugendliche im Elternhaus die Rembetika der Nachkriegszeit gehört, Sotiria Bellou und Tsitsanis, aber ich erinnere mich auch, dass ich dabei als Kind gemischte Gefühle empfand.“


Kattous Musik ist von östlichen mediterranen Klängen, traditioneller zypriotischer Musik und griechischen Volkstanzrhythmen beeinflusst. Verzögerungen und Ausdehnungen lassen ihre Musik sphärisch klingen. Es entstehen große Klanghallen, wie „wattiges“ Ambiente. Ein mit einem Geigenbogen gestrichenes Becken oder dezente Trommeln ertönen behutsam. Das mehrstimmiges Mitsingen der Original-Rembetika klingt bezaubernd. Ihre Musik klingt nostalgisch, zeitgenössisch und futuristisch zugleich. Man befindet sich auf einer Reise durch verschiedene Orte und Zeiten. Kattou produzierte ihr Album sound adaptations of rebetika tsimpita in Glasgow, Athen und Nikosia mit der Unterstützung anderer Mitmusiker.


 

Diaspora und Migration


Griechische Migranten, die nach der sogenannten Kleinasiatischen Katastrophe 1922 erst nach Griechenland und wenige Jahre später in die USA auswanderten, haben es der Migrantin Kattou angetan. Sie beschäftigt sich mit Maqam (oder Makam, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Maqam_(Musik)), den türkisch-arabisch-persischen Tonleitern der Smyrneika-Musik, die um 1900 in der multikulturellen Café-Aman-Musik aus Smyrna und Istanbul verwendet wurden. (hier: https://christophwagnermusic.blogspot.com/2020/12/das-kosmopolitische-smyrna-und-seine.html) Sie ist selbstverständlich auch Kennerin der Dromoi, also „Wegen“ oder modalen Tonleitern, die den Rembetika ihre eigenen unverwechselbaren Melodien geben. (hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Dromos_(Musik))


Klangadaptionen Rembetika Tsimpita


Kattou weist in ihren Internet-Texten auf zwei Gemeinsamkeiten von Blues und Rembetiko hin, die ihr auch persönlich wichtig sind: die Spielweise Tsimpita und die Improvisation.


Tsimpita


Giorgos Katsaros, dem Kattou zwei ihrer Arrangements widmet, wanderte als junger Mann in die USA aus und zupfte auf seiner Gitarre Rembetika mit den Fingernägeln. Diese Spielweise nennt sich Tsimpita. Zupfen ist auch für afro-amerikanische Bluesgitarristen eine Selbstverständlichkeit.



Improvisation


Die freie Improvisation ist eine weitere Gemeinsamkeit von Blues und Rembetiko. Im Rembetiko heißt sie Taximi. Sie macht die Einleitung eines Rembetiko aus und ebnet den Weg des Liedes. Im Blues finden die Improvisationen durch die Betonung der Blue Notes (kleine Terz, kleine Septime und verminderte Quinte) auf der Tonleiter statt.

Lebensweltlich betrachtet spüren wir in beiden Musik Genres die Emotionen Schmerz und Leidenschaft von migrierten Randgruppen und Außenseitern – sowohl im traurigen afro-amerikanischen Blues als auch im melancholischen Rembetiko. Teilen beider Randgruppen gelang es im Laufe der Zeit, Underground oder Subkultur zu verlassen und in die Salons des Establishment aufzusteigen. Beiden Musikgenres ist auch die Elektrifizierung ihrer Hauptmusikinstrumente Gitarre und Bouzouki gemeinsam. Beide phrasieren teilweise „schleppend“, manchmal hören sich beide Genres „hinkend“ an: Der Blues mit seinen Synkopen, Rembetiko mit seinem Kofto, dem „geschnitten“ wirkenden Rhythmus.

Der große Unterschied zwischen ihnen: Der Blues ist harmonisch, basiert auf drei Akkorden und dem bekannten 12-Takt Schema, das Rembetiko primär auf den Melodien von Maqam und Dromoi.


Hören:

https://antoniakattou.bandcamp.com/album/sound-adaptations-of-rebetika-tsimpita


soundcloud.com/kattouxo/sets/sound-adaptations-of-rebetika-tsimpita-excerpts

 

Mehr:

https://linktr.ee/antoniakattou


Vollständiger artikel auf griechisch und deutsch:
 

Saturday 11 March 2023

Thursday 2 March 2023

Zum Tod von Peter Weibel (5.3.1944 - 1.3.2023)

Exzess, Enthemmung, Skandal


“Underground Explosion” 1969 – ein vergessener Höhepunkt der Revolte


Peter Weibel, ZKM 2008 (Foto: Christoph Wagner)


Ein Interview von 2008 mit dem Performance-Künstler Peter Weibel, der damals Direktor des Zentrums für Kunst und Medien in Karlsruhe war   


Es kam regelmäßig zum Tumult, sogar zur Saalschlacht, so provokativ war die Tournee “Underground Explosion” im April und Mai 1969 ausgerichtet. Selbst für die wilden sechziger Jahre wurde sie ein leuchtendes Fanal an Radikalität, indem sie durch die Verbindung von Rockmusik, freier Improvisation, Kunst, Performance-Art und Theater die wichtigsten Strömungen der damaligen Avantgarde zusammen brachte.


Das Interview fand im ZKM in Karlsruhe statt. Weibel nahm sich richtig Zeit, es war im wichtig, die 'Underground Explosion' aus der Vergessenheit hervorzuholen. Am Schluß fragte er mich, ob ich mit dem Auto oder mit dem zug angereist sei. Als ich 'Auto' sagte, gab er mir zwei bleischwere Kunstkataloge, Dokumentation seines Gesamtwerks.



Christoph Wagner: Sie haben als Performance-Künstler im April und Mai 1969 an einer Tournee mit dem Titel “Underground Explosion” mitgewirkt. Was war die Intention?


Peter Weibel: Die Tournee “Underground Explosion” war ein echtes Phänomen für mehrere Bewegungen, die hier kulminierten: die Studentenrevolte, die Poprevolte und die Avantgarde-Kultur, was damals für Multimedia und Aktionismus stand. Die Tournee, die in Köln, München, Essen, Stuttgart und Zürich Station machte, hatte einen erstaunlichen Erfolg. Das war extrem populär, obwohl die Inhalte unvorstellbar radikal für heutige Verhältnisse waren. Um so erstaunlicher ist es, dass diese Tournee heute völlig vergessen ist. 

Ich glaube, dass diese Tournee ein einsamer Höhepunkt war für diese Zeit, in der viele künstlerische Bestrebungen zusammen kamen.

Da war zum einen das Wath-Tholl-Theater von Pjotr Kraska, dann zwei Bands - großartige Musikgruppen: Guru Guru Groove aus der Schweiz und Amon Düül 2 aus Bayern. Die gehören für mich in den Olymp der Rockkultur. Die haben eine absolut fantastische Musik gemacht. Dann war da noch Anima dabei, also Paul und Limpe Fuchs, die eine extreme Avantgarde-Musik auf selbstgebauten Instrumenten spielten. Valie Export und ich machten Aktionen und Multimedia-Aktionen mit viel Nacktheit, wie das damals der Brauch war.


Wie hat sich das Theater in die Rockmusik eingefügt?


Peter Weibel: Das Wath-Tholl-Theater war keine übliche Theatergruppe, die in einem geschlossenen Raum auftritt und dann ihre Texte sagt. Vielmehr sind die über verschiedene Orte aus dem Publikum langsam ins Zentrum der Bühne hineingeströmt. Sie haben aber den Großteil ihrer Aktionen stumm oder mit Geräuschen im Publikum gemacht. Sie haben halluzinogene Erfahrungen dargestellt und psychiatrische Störungen, also alles das, was die sechziger Jahre bewegt hat. Anti-Psychiatrie, Befreiung des Körpers, Befreiung der Sinne, Anti-Politik, sexuelle Revolution, anti-bürgerlich, anti-faschistisch, anti-autoritär. Die haben die Konzepte des berühmten Living Theater fortgeführt. Das war die Abschaffung des Sprechtheaters, das war körperliches Bewegungstheater, wie seither nie wieder. Das war ein Gipfel des Avantgarde-Theaters.


Wie lief das Programm ab? Hatte das Theater einen seperaten Auftritt?

 

Peter Weibel: Nein, die waren mitten drinnen. Zwischen der Musik waren einzelne Lücken, wo die auftraten und unsere Aktionen stattfanden. Dann ist die Musik wieder weitergegangen und das Theater ist verschwunden. Das wechselte sich ab. Das war das Schöne. Da war Musik und während der Musik sieht man das Theater. Es ereignete sich etwas im Saal, wo man gar nicht gewusst hat, gehört das dazu oder ist es ein Aufstand des Publikums. Langsam ist das Ereignis dann auf die Bühne gekommen.


Peter Weibel bei der 'Underground Explosion'





Was haben sie zusammen mit Valie Export zum Programm beigesteuert?


Peter Weibel: Wir haben Aktionen gemacht, unter dem Titel “Kriegskunstfeldzug”. Zentral war dafür das Wort W.A.R.. Die Buchstaben standen für War, Art, Riot, auf deutsch: Krieg, Kunst, Aufruhr. Wir sind in München im Circus Krone vor 3000 Leuten aufgetreten, Sporthalle Köln 2000 Leute, Essen wieder eine Riesenhalle 1500 Leute. In Essen war es bereits ein Skandal, da hatte es eine Saalschlacht gegeben, so dass die Aufführung in Stuttgart nur unter der Bedingungen stattfinden konnte, dass Export und ich nicht auftreten. Ich war froh, denn unser Krieg gegen das Publikum war brutal eskaliert in Essen, so dass ich Angst vor Stuttgart hatte. 


Valie Export hat in Essen eine Bierflasche auf den Kopf bekommen. Wieso gab es solch extreme Publikumsreaktionen?


Peter Weibel: Unsere erste Aktion war das Tapp- und Tastkino, eine gemeinsame Aktion von Export und mir, die den Busenfetischismus ins Visier nahm, der damals im Kino seinen Höhepunkt hatte. Atom war damals noch ein Lobeswort, weshalb man von Atombusen sprach. Da waren die Busenstars von Gina Lolobrigida bis zu Sophia Loren.  Unsere Theorie war, dass der Staat das revolutionäre Potential der Sexualität darauf hinlenkte. Die Sexualität sahen wir als eine Kraft, die zerstört, auch viele Klassenschranken zerstört. Dass eine Prinzessin einen armen Schlucker heiratet, war wegen Liebe. Und dass man Rassenschranken überwindet - Romeo und Julia - ist wegen Liebe. In Wirklichkeit geht es immer um Sex. Also der Sex ist etwas, was die Klassenschranken sprengt. Der Staat weiss das natürlich und versucht das revolutionäre Potential vom Sex zu kanalisieren, indem er es ableitet auf Voyeurismus und Exhibitionismus. Sie zeigen Busen und du darfst ihn anschauen. Jetzt haben wir gesagt: um der Sexualität ihre Kraft zurückzugeben, geht es bei uns nicht um das Bild des Busens, sondern um wirklichen Busen. Solange der Staat euch mit Bildern  abspeist, solange gibt es keine wahre sexuelle Revolution. Aber bei uns habt ihr die Möglichkeit. Wir geben euch einen Kasten, einen Kinosaal, der so klein ist, dass nur zwei Hände darin Platz haben. In unserem Kino sieht man nichts, sondern man spürt den nackten Busen von Frau Export. 


Das war die Theorie. Wie sah die Praxis aus?


Peter Weibel: Wir haben einen Kasten gebaut, vor sie hingestellt und haben die Leute hineingreifen lassen, damit sie den Busen spüren konnten. Man durfte nur 12 Sekunden hineingreifen, weil ja viele an den Busen greifen wollten. Also musste man demokratisch vorgehen und immer nach 12 Sekunden sagen: “Junge bzw. gnädige Frau - stop!” Ich bin dabei gestanden und habe obszöne Reden gehalten, in denen ich das alles erklärt habe. Da war ich ein Meister. Ich habe also mit einem unglaublichen Verstärker mit Mikrofon diese Reden gehalten, dass es nur so durch die Halle dröhnte. Meine obszönen Reden waren eine Mischung aus Verrücktensprache, Vulgärsprache und Wissenschaftssprache. Ich sagte etwa in einem hymnischen Ton: “Ihr seid die Partisanen der Partialtriebe. Der Wahn von Fut und Schwanz treibt uns durch die Welt.” Es war die gleiche Wirkung wie heute von diesem Sexual-Rap. Das war ein wahnsinniger Eindruck, musikalisch besser als die Doors. 


Zuerst haben wir das Tapp- und Tastkino am Münchner Stachus gemacht, dann wurde es Bestandteil der “Underground Explosion”-Tournee. Die Leute haben ekstatisch reagiert. Da gab es Menschentrauben, die da hineingegriffen haben.  Dann hat Valie Export sich zurückgezogen. Ich habe weitergeredet und eine Peitsche genommen und ins Publikum hineingepeitscht von der Bühne herunter. Das waren so 10 m lange Ochsenschwanzpeitschen. Damit habe ich das Publikum ausgepeitscht, richtig ausgepeitscht. Sie sind aggressiv geworden und haben angefangen, sich zu wehren. Dann hat das Publikum die Bühne gestürmt. 

Es hiess ja damals: Man muss viele Vietnam schaffen! Der Geruch von Napalm muss hier zu spüren sein! Deshalb haben wir gesagt: Der Krieg findet im Saal statt. Es gab ja den Satz: Die Kunst findet im Saal statt, also im Museum. Dagegen haben wir gesagt: Nein, weil wir revolutionär sind, findet der Krieg im Saal statt. Und jetzt seht ihr mal, was Krieg bedeutet. Das war die Idee. 


Wie macht man Krieg konkret deutlich? Wie lief das ab?


Peter Weibel: Valie Export und ich hatten Ballen aus Stacheldraht vorbereitet, die haben wir ins Publikum geschmissen, einfach ins Blinde hinein. Wir haben sie in die Hand genommen ohne Handschuhe und haben sie dann mit voller Kraft einfach ins Publikum geschleudert. Ich  schwitze heute noch, wenn ich dran denke. Da hätten ja schreckliche Dinge passieren können. Das hätte jemand ins Auge fallen können, das Auge auskratzen. Aber die Idee war damals abstrakt, wir bringen den Krieg in den Saal. Dazu kam das Peitschen. In Essen haben die Zuschauer die Bühne gestürmt und Valie Export eins auf den Schädel gehauen. Wir mussten praktisch durch den Bühneneingang fliehen. Deswegen gab es das Verbot, weil dauernd Krawall war. Darum durften wir beiden in Stuttgart nicht mehr auftreten. So lange es nur die Peitsche war ohne Stachendraht: Das war Sado-Maso! Da haben sich Teenagermädchen vor mich niedergekniet und nach meinem Geschlechtsteil gegriffen. Da habe ich gemerkt. Man kann eine Stimmung erzeugen nur durch solche Reden - durch die sexualle Gewalt der Sprache. Ich war selbst ganz erstaunt. Ich habe damit nicht gerechnet, dass Scharen von Leuten sich vor mich hinschmeissen und versuchen mir ans Geschlechtsteil zu fassen oder in meine Hose hineinzubeisen. ich habe sie abschütteln müssen. Es ware eine unvorstellbare Ekstase. Natürlich hochgekitzelt durch die aufpeitschende Musik, plus Alkohol und Drogen.


Limpe Fuchs mit Anima bei der 'Underground Explosion'





Wie kam eigentlich die Idee für das ganze Spektakel zustande?


Peter Weibel: Karl Heinz Heim aus München hatte die Idee. Er hat die Künstler ausgewählt, der hat das Programm zusammengestellt. Er hat die Tour auch organisiert, die Auftrittsplätze gefunden, Plakate drucken lassen. Großartige Kurator-Leistung! 


Welchen Einfluss hatten Drogen?


Peter Weibel: Auf die Rockbands sicher, obwohl man sagen muss, dass sie am Nachmittag - nur leicht angetörnt - besser spielten, als abends, wenn sie zugedröhnt waren. Wir haben nichts genommen. Wir mussten vollkommen klar sein. Ich musste ja die Reden halten, musste aufs Publikum eingehen, mich steigern. Ich musste die Gefahren sehen. Das heisst: Ich musste ganz nüchtern sein.


Zum Abschluss haben sie das Publikum mit einem Wasserwerfen beschossen?


Peter Weibel: Das ist richtig. Ich hatte mir einen eigenen Wasserwerfer gebaut. Den kannte man ja von den Straßenschlachten. Der Plastiker Wolfgang Ernst hat mir ein modernes Modell gebaut. Er sah aus wie ein Raketenwerfer mit fünf Kanonen. Den haben wir volle Pulle ins Publikum gehalten. In  Essen hat sich deswegen ein Handgemenge ergeben. Ich konnte mich lange mit der Peitsche wehren, aber dann war schon ein Haufen auf mir und ich musste sehen, dass ich davonkommen. Es hat immer eskaliert. In Zürich war es schlimmer denn je. Da sind links und rechts an den Bühneneingängen ganze Horden von Polizisten gestanden - vor mir das Publikum, das ich gerade traktiert hatte, auch meine Feinde. Ich war umzingelt. Ich bin dagestanden nackt und hab’ gedacht: “Jetzt ist es vorbei!” Ich wußte: Wenn ich hier den offenen Kampf führe, verliere ich - keine Frage. Meine einzige Chance bestand darin, kein Angst zu zeigen und meinen Feinden zu signalisieren: “Wenn ihr mich anrührt, verliert ihr!” Also habe ich ihnen kühl den Rücken zugedreht, gelassen meine Unterhose angezogen, ein Handtuch umgehängt, so dass keiner auf die Idee kam, ich wollte fliehen. Ich bin dann mit Valie Export auf die Leute zumarschiert. Die waren verdutzt und haben wohl gedacht: “Jetzt kommt noch eine viel schlimmere Aktion. Was führt der im Schilde?”

Wir sind dann so durch die Feinde durchmarschiert. Kaum waren wir draussen, sind wir sofort ins Auto hineingesprungen und sind  halbnackt durch Schnee und Nebel über die Grenze von Zürich nach Österreich gefahren. Es war drei Uhr früh.  


Guru Guru Groove, 1969





Sie nannten Teile der Show “extented cinema”. Gab es noch mehr Visuelles?


Peter Weibel: Ja, wir hatten noch eine riesige Plastikleinwand, die war durchsichtig. Das war eine auto-generative Tonleinwand, also eine Leinwand, die den Ton selbst erzeugt, die ich “Das magische Auge” genannt habe. Der Film wird auf der Leinwand zu Ton. Wir befestigten daran Licht abhängige Widerstände. Mit befreundete Ingenieure hatten wir ein Gerät gebastelt, das Licht in Ton verwandelt, also so eine Art primitiver Synthesizer. Die Lichtquellen werden in Schallwellen verwandelt. Dunkles Licht bedeutet dunkler Ton, helles Licht heller Ton. Ich hatte einen Film, der war von Kurt Kren, Op-Art - also schwarz-weiße Muster: ideal! Das war ein richtiger psychedelischer Film, der flackerte, aber nicht immer nur die ganze Fläche, sondern auch Teilflächen. Dadurch ist eine extrem heulende elektronische Musik entstanden mit Tempo und Rhythmus in hoher Lautstärke mit Tausende von Watt - eine Art frühe Techno-Musik.

Das war natürlich für damals ein Hammer: Nach der psychedelischen Rockmusik von Amon Düül und Guru Guru kommt da nochmals so ein Gejaule daher. Die ganze “Underground Explosion”-Show war weit besser als “Plastic inevitable”, die Multimedia-Show von Andy Warhol. Wir waren um einiges weiter und viel härter. Bei Warhol waren das Projektionen auf Leinwände. Wir haben dagegen gesagt: Gegen die Projektion, für die Wirklichkeit. Bei uns war alles echt, bei Warhol abgefilmt. Diese Mischung aus Rockmusik, Avantgarde, Kunst, Sexualität und neue Theaterformen hat die Jugend damals richtig unterstützt und gewollt. Die Jugendrevolte hat eine Öffnung gebracht, die solche Formen möglich machte, dass sie akzeptiert worden sind, sowohl in der Musik wie in der Kunst. Jugendrevolte, Poprevolte und Avantgarde-Kunst kamen hier zusammen. Das war nur möglich in diesem Zeitfenster. Plötzlich kamen da tausende von Zuschauer. Noch 1967 mussten wir die Leute bitten, in unsere Performances zu kommen. 1968 kamen sie von allein - in Massen. Das geschah durch die Unterstützung der Rockkultur. Wir hatten plötzlich eine riesige mediale Aufmerksamkeit. es war Teil der Revolte. Ein paar Jahre später wäre es nicht mehr möglich gewesen. Das unterscheidet es auch von Jugenkultur heute, wie etwa Rap, die scheinbar die schmutzigen Reden übernommen haben, in Wirklichkeit aber eine Industrie geworden ist, vom Staat lizensiert: Die Fetischischierung von Materialismus! Deshalb kann man sie auch nicht ernst nehmen. Hier werden die subversiven Bedürfnisse der Jugendlichen komplett ausgebeutet. Sie sind Sklaven der Industrie. Die Protestkultur von damals hat in einen Zustand der Versklavung der jungen Leuten geführt. Die Söhne von Mannheim bis nach Berlin - das ist alles schon von Anfang an Industrie-Ramsch. Das dient nur der Ausbeutung der subversiven Träume der Jugendlichen. Die Träumen von der Revolte auszubeuten, ist heute die Hauptfunktion der Industrie ist. Und das tun sie jetzt. Wenn man damals einen Skandal gemacht hat, ist man garantiert bei der Polizei gelandet, heute bekommt man eine Sendung im Fernsehen. Heute sagen sie: Bitte einen Skandal. Nur so kommen wir in die Medien. Die Logik der Massenmedien hat die Logik der Avantgarde übernommen. Exzess, Übertreibung, Enthemmung! Damit sind das für die Kunst untaugliche Mittel geworden, was bedeutet, dass sie möglicherweise schon damals nicht wirklich gute Mittel waren, wenn man sie so vereinnahmen kann. Die Avantgarde-Kunst hat diese Skandalkultur vorbereitet und die Massenmedien haben sich deren bedient.


Ein Kapitel meines Buchs 'Klang der Revolte – die magischen Jahre des westdeutschen Musik-Undergrounds' (Schott) ist der 'Underground Explosion' gewidmet