Feuerschweif aus Tönen
Das Unerhört-Festival findet zehn Tage lang in Zürich an verschiedenen Orten statt – neben Jazzstars wie Till Brönner und Marc Ribot steht ein lange verpöntes Musikinstrument im Rampenlicht
cw. Eine kleine technische Neuerung brachte Anfang des 20. Jahrhunderts den Durchbruch: Ein simples Fußpedal versetzte nun jeden Trommler in die Lage, die Baßtrommel gleichzeitig mit anderen Schlaginstrumenten zu spielen. Das Schlagzeug war geboren! Doch galt das Konstrukt aus großer Trommel (mit Fußmaschine), Metallbecken und kleiner Marschtrommel lange Zeit nicht als vollwertiges Musikinstrument – höchstens zum Takthalten geeignet! Erst im modernen Jazz gewann das Schlagzeug an Profil: Drummer ließen die Rolle des „time keeper“ hinter sich und begannen den Klangfarbenreichtum des Instruments zu erkunden. Heute ist von der mangelnden Wertschätzung nichts mehr zu spüren. Schlagzeuger bewegen sich ganz selbstverständlich auf gleicher Augenhöhe mit Saxofonisten, Pianisten und Trompetern, und kommen – wenn sie wollen – auch ganz ohne sie aus: Dann klingen in ihrem Spiel sogar Melodien, Intervalle und Akkorde an – Perkussion total!
Die geglückte Emanzipation des Schlagzeugs bildet eine der Programmschienen des diesjährigen Unerhört-Festivals, das vom 23. November bis zum 2. Dezember in und um Zürich stattfindet. Dazu kommt eine Hommage verschiedener Pianisten (darunter Irène Schweizer und Alexander Hawkins) an den im April verstorbenen Freejazz-Berserker Cecil Taylor, sowie diverse Ausflüge ins Grenzland zwischen Jazz und Elektronik plus ein rarer Soloauftritt des neuen Stars der britischen Jazzszene, des Saxofonisten Shabaka Hutchings.
Sylvie Courvoisier
Zu einer Begegnung zwischen Schlagzeug und Piano kommt es beim Tête-à-tête von Sylvie Courvoisier und Julian Sartorius. Der Berner Schlagwerker, der sein Arsenal an Klangerzeugern auf Flohmärkten und Schrottplätzen findet, hat sich in den letzten Jahren mit ambitionierten Soloprojekten und hochkarätigen Duo-Begegnungen in die erste Reihe der eidgenössischen Jazzdrummer gespielt, während sich die Lausanner Tastenmusikerin lange schon auf der New Yorker Jazzszene tummelt, wo sie viel mit ihrem Ehemann Mark Feldman auftritt, aber auch mit Tim Berne, Mary Halvorson und John Zorn. Courvoisier und Sartorius lassen ein aufgewühltes Improvisationduett erwarten, das sich zum Orkan hochschaukelt, wenn sich das Piano in eine Batterie aus 88 Trommeln verwandelt und das Schlagzeug in ein Klavier voll prasselnder Töne.
Günter 'Baby' Sommer
Ebenfalls in Duo-Besetzung, aber mit transparentem Sound, agieren zwei Vertreter recht unterschiedlicher Jazzströmungen. Auf einem kürzlich erschienenen Album hat das Gespann des ostdeutschen Freejazz-Trommlers Günter „Baby“ Sommer und des Berliner Startrompeters des Jazz-Mainstreams Till Brönner bereits dokumentiert, wie problemlos die unterschiedlichen Ansätze zusammengehen. Brönner unterstreicht mit Nachdruck, wie abwegig es ist, ihn als leichtgewichtigen Jazz-Pfiffikus abzutun. Mit Sommer knüpft er an dessen Zusammenarbeit von 2006 mit dem afro-amerikanischen Trompeter Wadada Leo Smith an, wobei Brönner mit einem Feuerschweif aus Tönen, versunkenen Melodien und einer enormen Palette an Klangfarben aufwartet. Mit Geschmack, dezenter Zurückhaltung und viel Poesie hegt Sommer die Improvisationen des weit jüngeren Bläservirtuosen ein, wodurch ein sprühender Gedankenfluß entsteht, der jeder Zeit eine überraschende Wendung nehmen kann.
Für ein ähnlich farbenprächtiges Panoptikum aus Rhythmen und Klängen steht das Perkussionsgespann von Joey Baron und Robyn Schulkowsky. Geschult sowohl an John Zorn als auch an Morton Feldman bringt das Paar zusammen mehr als hundert Jahre Trommelerfahrung auf die Waage. Der Topdrummer des Jazz und die profilierte Schlagwerkerin zeitgenössischer Konzertmusik loten das ganze Spektrum an Trommelsprachen aus, wobei der Zusammenklang verschiedenster Perkussionsinstrumente im Zentrum ihrer Kompositionen steht. „Das Klangmaterial, das zum Einsatz kommt, haben wir über lange Zeit entwickelt mit dem Vorsatz, dass es optimal zusammenklingt, ja Akkorde und Intervalle hervorbringt,“ sagt die Amerikanerin. „Vorgaben werden improvisatorisch erkundet, wobei sich jedes Stück aus der Abfolge bestimmter Klangkombinationen entwickelt. Dabei ist das Hören unser wichtigstes Werkzeug. Wir lassen uns von unseren Ohren leiten und bringen alles ein, was wir bis dahin gelernt haben.“
Wenn Fahrt aufkommt und erkennbar wird, wohin die Reise geht, überlassen Baron und Schulkowsky den musikalischen Prozeß ihrer Intuition, was jeder Komposition eine individuelle Note gibt. Oft bilden Unisono-Passagen die Ankerplätze, an die sie immer wieder zurückkehren. ”Wir üben solche Unisono-Passagen sehr lange und sehr intensiv. Erst wenn wir sie wie im Schlaf beherrschen, können wir einen Schritt weitergehen,“ beschreibt Schulkowsky die Arbeitsmethode. ”Aus solchem Unisono-Spiel entwickeln sich dann Stücke. Wenn wir eine Passage ein halbes Jahr lang oder länger üben – richtig üben, jeden Tag Stunden –, dann entsteht daraus häufig ganz organisch ein Stück. Die Trommeln müssen dabei sehr sorgfältig gestimmt sein. Wenn sie eine falsche Stimmung haben, wird daraus ein anderes Stück. Wir denken in harmonischen und melodischen Dimensionen.“ Baron und Schulkowsky bestehen darauf: Was sie machen ist keine explizite Trommelmusik, sondern einfach nur: Musik!
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