Friday, 31 August 2012

Wednesday, 29 August 2012

Auf einen Kaffee mit JEFFREY LEWIS

Jeffrey Lewis und Sonnet Youth

Jeffrey Lewis was in town. Dienstagabend spielte er mit seiner Band The Junkyard im Trades-Club, dem Ort, wo regelmäßig Konzerte in Hebden Bridge stattfinden - von beträchtlichem Kaliber. Der Knüller wird der Gig von Patti Smith sein, die nächste Woche hier auftritt - der einzige Club-Auftritt auf ihrer aktuellen England-Tour (Das Konzert war in kürzester Zeit ausverkauft. Nicht-Mitglieder hatten sowieso keine Chance, an eine Karte zu kommen).

Mittwochmorgen haben wir uns auf einen Kaffee getroffen, bevor die Band nach Hull zum nächsten Gig weiterfuhr. Ich kenne Jeff schon einige Zeit. Im März in New York war er einer meiner Interviewpartner. Er kennt sich aus, ist sehr belesen, und was Rock- und Folkmusik anbelangt, sehr beschlagen, zudem interessiert er sich für allemöglichen Musikstile - also ein so unterhaltsamer wie interessanter Gesprächspartner. Ed Sanders neues Buch "Fug You" war ein Thema. Es beschreibt die gegenkulturelle Szene der Lower East Side von Manhattan um die Fugs und den Peace Eye Bookstore in den 60er Jahre en detail - ein wirklich großartiges Geschichtswerk. Jeffrey meinte, nach seinem Geschmack hätte es doppelt so dick sein können (und es hat 420 Seiten).


Jeffrey's Band präsentierte sich in fulminanter Form. Da er auch ein talentierter Comic-Zeichner ist, fügt er zwischen die Songs beim Auftritt ab und zu ein paar Soloperformances ein, wobei er ein riesiges Blatt nach dem anderen zeigt, alle in Comicform gezeichnet, und dazu gereimte Geschichten erzählt, was absolut brillant ist. Jeffrey ist ebenfalls ein Plattensammler und im Moment hinter Privatpressungen hochobskurer amerikanischer Bands aus den 70er Jahren her. Er arbeitet überdies an einem Projekt, jeden Song des kompletten Werks von Sonic Youth, in Sonetform nachzureimen. Titel: Sonnet Youth! Die ersten paar Alben hat er bereits durch. Sie sind vorerst in einer Auflage von 400 Stück in fotokopierter Form erschienen. Er ist auf der Suche nach einem properen Verlag.

Eine schöne Geschichte von Jeffrey:

http://www.guardian.co.uk/music/musicblog/2012/mar/01/jeffrey-lewis-nyc-poetry-reading?newsfeed=true

Aktuelles Album:
Jeffrey Lewis: A Turn in The Dream-Songs (Rough Trade)


     Jeffrey Lewis & The Junkyard kommen nach Deutschland:


Sun, 9 SEPT - Leipzig, Germany: Kaffee Schwarz
Mon, 10 SEPT - Wetzlar, Germany: Franzis
Tue, 11 SEPT - Duisburg, Germany: Cafe Steinbruch
Wed, 12 SEPT - Hamburg, Germany : Knust
Thu, 13 SEPT - Bremen, Germany: Spedition
Fri, 14 SEPT - Offenbach, Germany: Hafen 2
Sat, 15 SEPT - Dresden, Germany: Blaue Fabrik
Sun, 16th SEPT - Berlin, Germany : Festsaal Kreuzberg




Tuesday, 28 August 2012

50 Jahre STONES - Zeitzeugen erinnern sich


Rock-Archäologie 2:


Den Rolling Stones zum 50sten

Mick Jagger & Co. kamen ein paar Mal ins "Ländle" - fünf Zeitzeugen erinnern sich
 
von Christoph Wagner
 
Die dienstälteste Popgruppe der Welt, die Rolling Stones, feiert dieses Jahr ihr 50jähriges Betriebsjubiläum. Die Band spielte ein paar Mal in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart, wobei die ersten beiden Konzerte in den 70er Jahren wohl die eindrücklichsten waren: 1970 gab die Band ihren Einstand im Südwesten. 1976 trat sie im Stuttgarter Neckarstadion auf - eines der ersten Stadionkonzerte in Deutschland. Zeitzeugen erinnern sich.


 
Michael Russ, Konzertdirektion Russ, Veranstalter des ersten Stones-Konzerts 1970 in Stuttgart
 
"Fritz Rau von der Tourneeagentur Lippmann & Rau, mit dem wir schon zuvor zusammengearbeitet hatten, rief mich an: ‘Ob wir bereit wären, ein Konzert mit den Rolling Stones durchzuführen?’ Ich sagte sofort zu. Die Stones waren ja damals für einen Veranstalter das absolut Höchste. Ich ahnte nicht, was auf mich zukam. Es gab in diesen Jahren eine Tendenz unter der Jugend unter dem Banner des anti-kapitalistischen Protests kostenlosen Eintritt für Popkonzerte zu fordern: Free concerts! Das Konzert war rasch ausverkauft und vor der Halle sammelten sich Hunderte von Jugendlichen, die keine Karten hatten.
 
Das Konzert war auf einen Sonntag terminiert. Es war Katholikentag in Stuttgart. Deshalb fand am Morgen in der Halle auf dem Killesberg noch ein Gottesdienst statt. Wir haben das viel zu spät erfahren. Wir mussten deshalb die Scheinwerfer in der Nacht davor installieren, sonst hätten wir den Aufbau nicht geschafft. Und die Stühle vom Gottesdienst mussten  auch noch alle raus.
 
Soweit ging alles glatt. Aber in dem Moment, als die Rolling Stones auf die Bühne kamen, kam Unruhe unter den Leuten draußen auf, die jetzt versuchten, trotz Polizei, Stachendraht und Wasserwerfern, in die Halle zu gelangen. Und diese Masse war nicht aufzuhalten. Der Haupteingang ging völlig zu Bruch. 
 
Ich bin Mick Jagger vorgestellt worden. Nur war ich derart angespannt wegen der brenzlichen Situation, dass ich keinen Kopf für irgend etwas anderes hatte. Ich war 60 Stunden ohne Schlaf und danach so fertig, dass ich einen Heulanfall bekam. Wir waren Gottseidank versichert und die Versicherung hat bezahlt. Nach diesem Vorfall wurde es schwierig, für Veranstaltungen dieser Art überhaupt noch eine Versicherung zu bekommen. Deshalb haben wir uns eine Zeit lang aus der Popbranche zurückgezogen. Es war einerseits eine tolle Zeit, andererseits aber auch eine Zeit, die richtig Nerven gekostet hat."
 
 
Bernhard Schuler, Oberbürgermeister von Leonberg
 
"Ich war 1970 vierzehn und ging in Balingen aufs Gymnasium. Ein Musiklehrer aus Hechingen organisierte eine Konzertfahrt zu den Stones. Mein Vater gab mir das Geld für den Eintritt. Vor der Halle standen Wasserwerfer. Es gab Flugblätter gegen die Stones, denen der Mord von Altamond vorgehalten wurde. Ich war im Publikum einer der jüngeren. Als die Stones dann angefangen haben, ist das Publikum aufgestanden und hat zur Bühne gedrückt, was mir gar nicht behagte. Ich hab mich nach hinten verdrückt und stieg auf einen Beleuchtungsturm, um überhaupt zur Bühne zu sehen. Obwohl ich ein richtiger Stones-Fan war, hat mich das Konzert nicht wirklich begeistert. Es war nicht schlecht, aber auch nicht der absolute Hammer. Als sie 1976 im Neckarstadion spielten, bin ich nicht mehr hin. Von den Krawallen vor der Halle habe ich nichts mitbekommen. Auf der Rückfahrt hatte der Bus noch eine Panne. Wir kamen deshalb erst um 2:30 Uhr morgens ins Bett und mussten um sieben schon wieder in die Schule. “Wenn schläfst du nicht zuhause aus, dann schläfst du in der Schule aus!” hat mein Vater gemeint."
 
 
Andy Goldner, Rockmusiker und Produzent, Jungingen
 
"Ich war beim ersten Konzert der Rolling Stones in Stuttgart, das am 20. September 1970 auf dem Killesberg stattfand. Die Halle war mittelgroß, vielleicht 4000 Besucher. Man saß auf dem Boden auf dem Schlafsack oder dem Parka und hat es sich gemütlich gemacht. Die Beatles und die Stones waren zu der Zeit die zwei bekanntesten Popgruppen. Ich hörte damals auch schon andere Musik: Jimi Hendrix etwa. Deshalb waren die Stones nicht die heisseste Band für mich. Doch es gab für ein paar Mark gefälschte Eintrittskarten auf dem Schwarzmarkt und mit so einer bin ich rein. Das Konzert war klasse. Wir sind mit unserer Englischlehrerin hin, die sehr cool war. Im Vorprogramm spielte der schwarze Bluesgitarrist Buddy Guy auf besonderen Wunsch der Stones, den wir aber nicht so den Knaller fanden. Für Stuttgart war dieses Stones-Konzert ein besonderes Ereignis."
 
 
Thomas Bauschert, Sozialarbeiter, Singen
 
"Ich war sechszehn und wohnte in Tübingen, als die Rolling Stones 1970 nach Stuttgart kamen. Ich hatte die LP ‘Big Hits’ der Stones gehört, und von diesem Moment an war ich Fan. Brian Jones fand ich besonders toll und habe mir von meiner Mutter einen Mantel nähen lassen, wie ihn Brian Jones trug.
Die Eintrittskarte kostete 20 DM, das war soviel wie damals eine LP kostete. Also: Nicht ganz wenig, aber ich musste unbedingt hin. Die Eltern eines Freunds fuhren uns. Der Saal war dunkel und die Stones haben letztlich nicht mal eine Stunde lang gespielt. Als sie anfingen, sind wir ganz nach vorne zur Bühne. Zuerst war ich erstaunt, wie klein die Musiker waren. Mick Jagger und Keith Richards sind ja körperlich keine Riesen - im Gegenteil. Aber als sie losgelegt haben, ging schon die Post ab. Wir waren hin und weg! Wow - dieser Sound! Sie spielten Kracher wie “Honky Tonk Women” und  “Jumpin’ Jack Flash”. Das war phänomenal. Das sind auch heute noch meine Lieblingssongs. Danach bin immer wieder zu Stones-Konzerten: 1973 ins Olympia-Stadion nach München, 1976 ins Stuttgarter Neckarstadion. Da war dann schon Ron Wood dabei. Ich bin bis heute ein Fan und wenn die Band irgendwo auftritt, bin ich dabei."
 
 
Hans-Jörg Conzelmann, Journalist, Reutlingen
 
"Ich war bei dem Konzert der Stones, das am 16. Juni 1976 im Stuttgarter Neckarstadion stattfand. Drei Tage vorher war ich volljährig geworden, machte an diesem Tag den Führerschein und hatte 2 Tickets.  Mein Vater gab mir seinen Ford Taunus. Ich hatte es geschafft: Mit dem Sechszylinder zu den Stones! 
 
Links und rechts der Bühne türmten sich unglaubliche Mengen an Lautsprechern, bestimmt zehn Meter hoch. Mit dreistündiger Verspätung kamen sie. Mick Jagger, geschminkt, rannte völlig abgedreht herum. Die Stones waren in einer schlimmen Verfassung. Manchmal kamen die Lieder fast zum Erliegen, weil keiner mehr spielte oder alle durcheinander. Mick Jagger als treibende Kraft und Charlie Watts am Schlagzeug als der Nüchternste hielten den Laden einigermaßen zusammen.
 
Mag sein, dass der Sound miserabel war, die Stones auf Drogen, aber sie waren besser als heute! Sie waren genau das, was man von ihnen erwartete: Laut, rotzig, besoffen und genial. Und so war auch das Publikum, ausnahmslos junge Leute, denen es ernst war mit "Satisfaction" und "Streetfighting Man". Die Musik entsprach dem, was die Stones authentisch macht: bluesig, ein bisschen verwaschen, eigentlich eher eine Bluesband. 
 
Und ich mittendrin, direkt vor der Bühne, im Batik-T-Shirt. Fraglos ein markantes Datum in meinem Lebens. Ich treffe mich heute noch mit meinem Jugendfreund, der mich damals begleitete. Seither haben wir jede neue Stones-LP gemeinsam angehört. Das ist jetzt 36 Jahre her."
 

Monday, 27 August 2012

Hörempfehlung 1: Bonnie Prince Billy & Trembling Bells


Scheibengericht: 

Opulent

Bonnie 'Prince' Billy & Trembling Bells



von Christoph Wagner

Er gilt als verschrobener Kauz, der sich den Imperativen des Popbusiness’ verweigert. Will Oldham alias Bonnie ‘Prince’ Billy ist einer der originellsten Songschreiber der Gegenwart und ein außergewöhnlicher Sänger dazu. Als stilistischer Abenteurer durchkreuzt er die Welt der Musik in verschiedene Richtungen. Er hat sowohl mit Johnny Cash, Björk, den Silver Jews und Tortoise zusammengearbeitet. Mit der schottischen Gruppe Trembling Bells hat er gerade ein neues Album eingespielt, das wiederum in eine andere Richtung deutet: Folkrock steht auf dem Wegweiser geschrieben.

Das Quartett aus Glasgow verbindet auf eigenwillige Weise Folk und psychedelischen Rock mit Barock- und Country-Einflüssen, was es vom Gros der Bands des “Nu-Folk” abhebt. Bandleader und Schlagzeuger Alex Neilson hat Oldham 2005 bei einer Studiosession kennengelernt. Seither sind die beiden in Kontakt. Letztes Jahr nahm die Band an einem Tag zehn neue Songs auf. Die Rohfassungen wurden per Internet zu Oldham nach Amerika gemailt, der sich die Lieder einverleibte, Veränderungen vornahm und dann ins Studio ging, um seinen Gesangspart aufzunehmen. Entstanden ist ein Album, das üppig instrumentiert ist, eine fast barocke Opulenz besitzt, wobei manchmal sogar etwas zu dick aufgetragen wird. Oldhams Tenor harmoniert ausgezeichnet mit dem vibratoreichen Sopran von Leadsängerin Lavinia Blackwall. Manche Stücke sind um wunderbar singhafte Melodien herum konstruiert, andere fallen blasser aus. Oldham macht kein großes Aufhebens, sondern fügt sich nahtlos in den Gruppenklang ein. Wenn die Posaunen und Trompeten schmettern, die Geigen jubilieren und die Trommeln dröhnen, meint man geradewegs den Krönungsfeierlichkeiten des hübschen Prinzen Billy beizuwohnen, wären da nicht die Töne der verzerrten E-Gitarre.

Bonnie Prince Billy & Trembling Bells:The Marble Downs (Honest Jon’s Records)

Auge & Ohr 2: Historisches Foto einer englische Damenkapelle, ca. 1910

Auge & Ohr 2



Englische Damenkapelle "Dorothy Sturdys Ladies Orchestra", ca. 1910

(Sammlung: World Music Picture Archiv / Christoph Wagner)

Fundsachen: Zitat Christof Stählin, Liedermacher

Fundsachen:

"Es geht nach meiner Auffassung nicht darum, dem Publikum etwas zu sagen, was es noch nicht weiß oder etwas zu zeigen, was es noch nie gesehen hat, sondern genau andersherum. Es geht um das, was es weiß und kennt, aber so, daß es das so noch nie gesehen hat und noch nie so berührt war, und was wirkt, ist das Staunen. Man hat engagierten Sängern immer vorgehalten, sie träten ja bloß vor Gleichgesinnten auf. Genau da ist der Punkt, wo es nicht aufhört, sondern anfängt."

Christof Stählin, Liedermacher aus Hechingen,
Vortrag über das "Liedermachen als Kunst", gehalten in Tutzing am 14.1.2005





Aktuelle CD:

Christof Stählin & Freunde: Aus freien Stücken - 15 Lieder (Nomen+Omen) 

STEVE IGNORANT - Interview mit dem Crass-Sänger


ROCK-ARCHÄOLOGIE 4:

Das große ANTI  - 

ein Jahr nach den "Riots"


Letzten Sommer brannten in England die Innenstädte. Steve Ignorant, Sänger der legendären Anarcho-Punk-Band Crass, gibt Auskunft über die Situation heute



Interview von Christoph Wagner
 
Punk war rotzig, rüpelhaft und rebellisch. Punk plus Politik - das war Crass, die vielleicht radikalste Band der Punk-Ära. Die Gruppe stand für Anarcho-Punk, der mehr war als Nihilismus und Auflehnung gegen die Elterngeneration. Crass kämpften für konkrete Ziele. Ihre Songs waren Agit-Prop on Speed. Ihrer Haltung: das große ANTI! Crass nahmen Kapitalismus, Kirche, Rassismus und Sexismus ins Visier. Sie lehnten den Staat ab sowie die buntglitzernde Warenwelt. Jede Art von Autorität wurde frontal angegangen, was für die Außenwelt oft schockierend war. Die Arbeiter im Presswerk in Irland weigerten sich, ihre Debutplatte zu drucken: Blasphemie lautete der Vorwurf. Daraufhin machte die Band es eben selber. Als alternative “Cottage-Industry” brachten sie von nun an ihre Alben selber heraus mit eigenem “Art work”, zudem kreierten sie Filme und Bühnendekoration.
Nach jahrelanger Auszeit hat Leadsänger und Bandgründer Steve Ignorant vor ein paar Jahren angefangen, die Songs von Crass,  inzwischen Hymnen der Punkgeneration, wieder öffentlich aufzuführen. Im November in London 2011 waren sie zum allerletzten Mal “live” zu hören.
 
Crass wurden 1977 gegründet. Was waren die Zeitumstände?
 
Steve Ignorant: Ende der 70er Jahre und bis in die 80er Jahre hinein war England ein trostloser Ort: Streiks, Stromausfälle, hohe Arbeitslosigkeit -  in jeder Hinsicht entsetzlich. Und dann gab es Punk, die musikalische Revolte. Das war die Atmosphäre, in der sich Crass formierte, weil Leute Songs darüber schrieben - ich eingeschlossen. Als dann Margaret Thatcher an die Macht kam, wurde alles noch schlimmer. Das war der Anlaß für Crass politisch zu werden. Wir hatten uns bis dahin nicht als politisch begriffen, wurden aber von der Regierung regelrecht dazu gezwungen wie viele andere Bands auch. Es war so repressiv in England, dass man genötigt wurde, Stellung zu beziehen. Es gab keine Alternative als sich zu wehren. 


 
Punk war ein Phänomen der Metropolen. Crass lebte als Wohngemeinschaft auf dem Land. Warum?
 
Steve Ignorant: Auf dem Land war es billiger. Wir zahlten fast keine Miete für den Bauernhof. Dieses Haus war schon vor der Punk-Ära ein Treffpunkt für kreative Leute gewesen: Künstler, Poeten, Musiker, Filmemacher, Schauspieler lebten dort oder kamen zu Besuch. Es war äußerst stimulierend, und Crass ging daraus hervor. Penny Rimbaud lebte dort, den ich seit der Schulzeit kannte. Ich besuchte ihn eines Tages und erzählte ihm, dass ich eine Punkband gründen wollte. Er sagte: “Ich hab’ ein Schlagzeug, ich bin dabei!” So fing es an. Leute, die uns dann in Essex besuchten und ein Instrument spielen konnten, stiegen ein. Auf diese Weise kam die Gruppe zustande.
 
Als die Unruhen im letzten Sommer in London passierten, brachte das  Erinnerungen zurück?
 
Steve Ignorant: Nur an meine Fussball-Hooligan-Zeit, als ich ein Fan von Westham United war und gelegendlich randalierte, nur um der Randale willen. Darüber hinaus konnte ich mich mit den Ausschreitungen nicht identifizieren, weil sie kein politisches Ziel verfolgten, etwa das Leben der Leute zu verbessern oder die Gesellschaft zu ändern. Es waren einfach nur Plünderungen. Okay, wenn Leute glauben, unbedingt ein Paar Designer-Turnschuhe zu brauchen oder ein Flachbild-Fernsehgerät - dann meinetwegen, aber bitte behauptet nicht, das hätte irgendetwas mit dem Umstand zu tun, dass die Polizei irgendwo in London eine Person erschossen hat. Die Schießerei fand in Tottenham in Nordlondon statt, dann sprangen die Unruhen plötzlich nach Croydon über, das weit weg im Süden von London liegt. Was hatte das eine mit dem anderen zu tun?
 
Politische Kommentatoren haben die Sparmaßnahmen der britischen Regierung oder die größerwerdende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht....
 
Steve Ignorant: Ich kann verstehen, wenn es in Tottenham nach einem solchen Vorfall zu Ausschreitung kommt. Danach nahm die Sache für mich einen sonderbaren Verlauf. Ich habe nichts mit Verschwörungstheorien am Hut, aber ich kenne einige der Orte, wo die Unruhen stattfanden, ziemlich genau und bin sicher, dass die Polizei sie in ein paar Minuten hätte ersticken können. Das ist nicht passiert. Man ließ die Plünderungen geschehen. Warum? Die Randalierer haben dann drakonische Strafen erhalten. Vielleicht hat man die Unruhen stattfinden lassen, um das Feld zu bereiten. Wenn das nächtse Mal eine legitime Demonstration gegen Krieg oder Sozialabbau stattfindet und ein paar Fensterscheiben zu Bruch gehen, dann kann man umso brutaler gegen die Demonstranten vorgehen.
 
Im Parlament wurden die Randalierer als “verwilderte Unterschicht” bezeichnet...
 
Steve Ignorant: Das ist das Geschwätz gutbetuchter Tory-Politiker, die fett leben und keinen Schimmer davon haben, wie es am unteren Rand der Gesellschaft aussieht. Klar, diese Leute haben in ihrem ganzen Leben noch nie irgend etwas Ungesetzliches getan! Unser wundervoller Premierminister, David Cameron, gehörte zu einer Studentenverbindung namens “The Bullingdon Club” in Oxford, die sich auf Sauftouren wie die Vandalen aufführten. Wenn solche Upperclass-Rowdys jetzt von der “verwilderter Unterschicht” sprechen, ist das nichts als eine rassistische Verallgemeinerung. Viel schlimmer als die Randale selber, waren die Politiker, die danach an die Mikrofone traten und die Leute verdammten. Ich kann zu einem gewissen Grad verstehen, wie man als Jugendlicher in eine solche Situation geraten kann: Du hast nie Geld, und dann bietet sich plötzlich die Gelegenheit, an diese heißbegehrten Sachen zu kommen. Klar, dass du denkst: ‘Scheiß drauf - diese Chance lass ich mir nicht entgehen!’ Wir haben in den letzten Jahren, Bankmanager erlebt, die Hunderte von Millionen verwettet haben und dann noch mit fetten Boni dafür belohnt wurden. Keiner von denen ist je im Gefängnis gelandet, obwohl deren Aktivitäten unendlich mehr Schaden angerichtet haben. Dann gab es den Spesenbetrug unter den Abgeordneten, danach das kriminelle Telefonabhören durch Journalisten, deren Chefs mit Polizei und Regierung freundschaftliche Beziehungen pflegten. Da wirkt es geradezu lächerlich von “verwilderter Unterschicht” zu sprechen. Um heute ein Gangster zu sein, muss du nicht mit einer abgesägten Flinte eine Bank ausrauben, dafür gibt es viel elegantere Methoden. Viel erfolgreicher sind die Plünderer mit Anzug und Kravatte.
 
Crass stand für Anarcho-Punk. Eure Texte nahmen kein Blatt vor den Mund. Haben sich deine politischen Ansichten seither geändert?
 
Steve Ignorant: Ich definiere mich heute nicht mehr als Anarchisten, weil es ein zu abstrakter Begriff ist, der missverstanden wird, nicht konkret genug ist. Leute stellen sich alles möglich unter Anarchismus vor. Dennoch kommt der Anarchismus immer noch meinen politischen Vorstellungen am nächsten. Früher war ich ein wütender junger Mann, heute bin ich ein wütender Erwachsener und irgendwann werde ich ein wütender alter Mann sein. Ich habe weiterhin etwas gegen die Kirche als Institution, und kaufe nur Dinge, die ich wirklich brauche, vielleicht auch deshalb, weil ich mir teurere Sachen sowieso nicht leisten kann. Obwohl ich heute nicht mehr so oft auf Demos gehe, lasse ich Rassismus, Sexismus und solche Dinge in meinem Umfeld nicht durchgehen. Wenn im Pub einer solche Ansichten vertritt, gibt es Zoff. Da ist es mir dann auch egal, wenn ich mir ein blaues Auge hole. Das wäre nicht das erste Mal und es wird sicher nicht das letzte Mal sein.