Thursday 10 September 2015

Zum Tod von CHRISTOF STÄHLIN


Ästhet des Alltags

Christof Stählin, Liedpoet, Schriftsteller und Kabarettist aus Hechingen, stirbt im Alter von 73 Jahren
                                                                                                                                                                             Foto: Christoph Wagner

CW. Seit er im Turm über dem alten Stadttor seine Schreibstube hatte, besaß auch Hechingen einen Dichterturm. Keinen so malerisch-romantischen wie die Nachbarstadt Tübingen mit dem Hölderlin-Turm am Neckar - aber immerhin! Christof Stählin lebte seit längerem in dem etwas verschlafenen Städtchen zwischen Stuttgart und  Bodensee, und wenn er hier ab und zu im alteingessenen Café Fecker auftrat, konnte er mit seiner Vihuela unterm Arm spielend zu Fuß zum Auftritt gehen. Jetzt ist er im Alter von 73 Jahren gestorben. Der Gehirntumor war zurückgekehrt, an dem er vor ein paar Monaten operiert worden war.

Stählin wirkte ein bisschen wie aus der Zeit gefallen, oder besser: wie wenn es ihn aus einer früheren Epoche unversehens in der Gegenwart verschlagen hätte. Er hielt altertümliche Tugenden wie Höflichkeit, Zurückhaltung und Takt in Ehren und kannte den Wert geistreicher Konversation. Stählin war ein unzeitgemäßer Zeitgenosse und erwies sich nicht nur in seinen Liedern als Ästhet des Alltags.

Ich habe ihn sporadisch daheim besucht, mit dem Digitalrecorder, um ihn zu einem bestimmten Thema zu befragen, etwa als ich über die Geschichte der Waldeck-Festivals arbeitete, was später in mein Buch "Klang der Revolte" einfloß. Er war stets geistreich, überaus freundlich und artikulierte gestochen scharf, wobei er gleichzeitig immer etwas linkisch wirkte. Manchmal sprach er mich auf eine meiner Rundfunksendungen an, die er wohl ab und zu hörte. Gelegentlich hakte er sich an einem Wort im Gespräch fest, etwa als ich einmal unbewußt von "vorindustrieller Musik" sprach - der Terminus elektrisierte ihn. Er hatte offenbar einen Nerv bei ihm getroffen. Vermutlich fühlte er sich als "Liedermacher" fremder und fremder in unserer mehr und mehr artifiziellen, durchrationalisierten Moderne. Daher rührte wohl auch die Aura der Melancholie, die ihn umgab - vielleicht auch ein Gefühl von Einsamkeit, das man zu bemerken glaubte. 

Stählin gehörte zum Urgestein der deutschen Liedermacherszene. Schon 1965 war er beim Festival auf der Burg Waldeck dabei. Damals gab er mit Michael Wachsmann englische Songs aus der Shakespeare-Zeit zum Besten. Ab den 70er Jahren schrieb er dann eigene Programme, die sich kritisch mit der deutschen Wirklichkeit auseinandersetzten. Der Erfolg blieb nicht aus. Das Lied “Kaiserquartett und Deutschlandlied”, in welchem er das Streichquartett von Joseph Haydn vor seiner Verwendung als Nationalhymne in Schutz nahm, wurde so populär, dass es selbst im Schulunterricht Verwendung fand.
                                                                                                                                                                           Foto: Christoph Wagner
Über die Jahre änderte sich die Perspektive seiner Lieder: “Inzwischen würde ich das ‘Kaiserquartett und Deutschlandlied’ nicht mehr machen, denn wir leben in einem Negativstaat, was ich bedenklich finde. Und dieses Lied haut in dieselbe Kerbe oder könnte so missverstanden werden. Es ist ja so, dass in gebildeten Kreisen die Haltung zu Deutschland grundsätzlich eine negative ist. Das heisst: Du wirst als Liedermacher nur ernstgenommen, wenn du mit einem gehörigen Maß Deutschland negativ darstellst. Irgendwann habe ich gemerkt, dass, wenn man immer nur die Missstände und Katastrophen  herausstreicht, dann verschweigt man auch etwas, nämlich die guten Seiten des Landes, die es ja zweifellos gibt.”

Seither durchstreifte Stählin in seinen Liedtexten die “Schluchten des Alltags”, wie eines seiner Programme hieß, um die Welt nicht nur kritisch zu vermessen. "Es geht mir nicht darum, dem Publikum etwas zu sagen, was es noch nicht weiß oder etwas zu zeigen, was es noch nie gesehen hat, sondern genau andersherum. Es geht um das, was es weiß und kennt, aber so, daß es das so noch nie gesehen hat und noch nie so berührt war,” erläuterte er seine Haltung bei einem Vortrag über “Liedermachen als Kunst” 2005 in Tutzing. “Man hat Sängern wie mir immer vorgehalten, sie träten ja bloß vor Gleichgesinnten auf. Genau da ist der Punkt, wo es nicht aufhört, sondern anfängt."

Stählin ging damit auf Distanz zum kritisch-politischen Lied, wie es seit Waldeck-Zeiten virulent ist. “Diese Art aggressiv und kritisch zu sein, ist das eine. Es muss aber auch Leute geben, die formulieren, wie die Welt denn aussehen soll, wenn alle kritisierten Sachverhalte verschwunden wären. Es ist ein Manko der kritischen Bewegung, das alles auf den Sankt Nimmerleinstag zu vertagen. Es heisst dann: ‘Wenn diese und jene Mißstände erst einmal behoben sind, dann können wir uns wieder mit den schönen Dingen beschäftigen.’ Ich meine dagegen: ‘Man muss sich jetzt mit den schönen Dingen beschäftigen.’ Ich hab gerade ein Lied geschrieben mit dem Titel: ‘Schönheit muss sein’. Ich bin auf Harmonie aus, und Schönheit finde ich etwas unglaublich Wichtiges, weil ihr eine große verändernde Kraft innewohnt, eine ermutigende Kraft.”
Diese Weltsicht machte Stählin zusehens zu einem Einzelgänger. Schon auf der Waldeck schwamm er nicht mit auf der Protestwelle, sondern gehörte zur “Privatlieder”-Fraktion, die damals mehr oder weniger ausgegrenzt wurde. “Da hat eine einsame Zeit für mich begonnen,” erinnerte er sich. Bald wurde er kaum noch im Radio gespielt, auch die Einladungen auf Festivals gingen zurück.  “Für die politische Szene habe ich nicht dazu gehört. Mir fehlte der Stallgeruch.”

Vor die Wahl gestellt, sich dem linken Zeitgeist anzupassen oder weitgehend alleine seinen eigenen Weg zu gehen, fiel ihm die Entscheidung nicht schwer. “Wenn ich auf eines verzichten würde bei dieser Alternative, dann ganz bestimmt nicht auf die Freiheit.”

Noch im Krieg geboren, wuchs Stählin in einer Pfarrersfamilie in Rothenburg o. d. Tauber auf. “Die Wurzeln, die mich zur Liedermacherei geführt haben, sind das evangelische Pfarrhaus mit seiner Musik: die Choräle und die Renaissance- und Barockmusik, die darin enthalten ist. Die Musik von Bach habe ich mit der Muttermilch eingesogen, jeden Sonntag in der Kirche und dann zuhause von Schallplatten.”

Mit 14 Jahren kam er nach München und Ende der 50er Jahre über die Bündische Jugend zum Liedersammeln und Liedersingen. “Später kam dann mit der Steigerung 'selten, seltener, selbstgemacht' das Schreiben eigener Lieder dazu,” erinnerte er sich. “Da gab es Leute, die das vorgemacht haben: Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp. Dann kamen wir zeitgleich mit Reinhard Mey, nach uns dann Hannes Wader, und alles zusammen ergab die Liedermacher-Bewegung.”

Damals war Georges Brassens sein großes Vorbild:. Der französische Chansonier zeigte, wie man nur mit Stimme und Gitarre ein Publikum einen ganzen Abend lang in den Bann ziehen konnte. “Ich bin dann in Studentenclubs und auf Kleinkunstbühnen aufgetreten,” erzählte Stählin. “Der Vorteil für den Veranstalter war: Man war billig und verdiente trotzdem sein Geld.”

Stählin passte in kein Schema: Er war kein linker Protestsänger mit Gitarre, der sich an der schlechten Wirklichkeit abarbeitete, aber auch nicht massentauglich genug für den kommerziellen Durchbruch, wie er Reinhard Mey gelang. “Ich habe dann einen Lieblingsdichter entdeckt: Johann Christian Günther. Den habe ich vertont. Das war ein großer Lehrer für mich, obwohl er im 18. Jahrhundert gelebt hat. Aber den Ton, den der angeschlagen hat, so feurig und so zart zugleich - das wurde für mich zum Vorbild!”

In den 80er Jahren ebbte das öffentliche Interesse ab. Die Liedermacherszene geriet in die Krise, wurde zum Randphänomen, zur Nischenkultur. Stählin streckte die Fühler in andere Bereiche aus. Er wurde Dozent fürs Liederschreiben. Aus dem Berliner Wettbewerb “Schüler machen Lieder” entstand eine Akademie für junge Liedermacher, die unter dem Namen SAGO in Mainz residiert und von Stählin gegründet wurde. Die Liederakademie wurde zu seinem Rettungsanker. Bis zu seiner schweren Erkrankung wurde sie von ihm geleitet. So bekannte Namen wie die Sängerin Judith Holofernes von der Popgruppe “Wir sind Helden” haben unter seiner Anleitung dort ihr Handwerk verfeinert. Der Altmeister ermuntert die jungen Songpoeten, keine narzistische Nabelschau zu betreiben: “‘Lass dich aus! Lass das ICH weg!’ - das ist in meiner Liedermacherschule die erste Anforderung.”

Wie man das gekonnt und mit poetischem Fingerspitzengefühl hinbekommt, demonstrierte Stählin erneut auf seinem letzten Album “Aus freien Stücken” - mit Freunden für das hauseigene Nomen + Omen Label eingespielt und prompt mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Darauf befanden sich etliche Lieder, die einen die Welt mit anderen Augen sehen ließ.

Darüber hinaus war es Stählin bei seiner Dozentenarbeit wichtig, ein Bewußtsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst und Musik zu wecken und für das deutsche Lied ganz besonders.  “Es kommt nicht darauf an, ob ein Kunstwerk etwas konkret bewirkt, sondern was es ist. Eine Sache wirkt durch ihr Dasein,” machte er seinen Standpunkt klar. “Von daher löst sich auch die Frage von politisch und unpolitisch. Politisch ist alles was den öffentlichen Raum bestimmt. Und Lieder wirken einfach durch ihre Existenz. Es ist nicht egal, wie es um das Liebeslied eines bestimmten Landes bestellt ist, sondern wenn es menschlich, warm und trotzdem nicht kitschig ist, d.h. auch den Schmerz nicht verschweigt, also ein gutes Liebeslied ist, dann wird es eine Wirkung haben, ob man das will oder nicht.”

Letzte CD:
Christof Stählin und Freunde: Aus freien Stücken (Nomen + Omen)

Sunday 6 September 2015

AUGEundOHR: amerikanische Jazzband ca. 1920

Eine amerikanische Jazz- und Tanzband aus den 1920er Jahren, die neben Saxofonen und Trompete, Banjo und Schlagzeug, auch Geige, Querflöte und eine Chemnitzer Concertina im Instrumentarium hatte, was ein Hinweis auf die Herkunft der Gruppe aus dem Mittleren Westen sein könnte. Wegen den vielen deutschen, tschechischen und polnischen Einwanderer war das Balginstrument dort sehr beleibt. Nicht nur in Chicago, auch in Milwaukee gab es zahlreiche Concertina-Orchester.


Saturday 5 September 2015

JAZZTRENDS: Anna Webber goes Minimal

Klangfarbenkünstlerin

Die New Yorker Saxofonistin Anna Webber mit ihrer Gruppe Percussive Mechanics in Stuttgart und Singen

cw. Dass den Frauen im Jazz die Zukunft gehört, prophezeite schon in den fünfziger Jahren der Jazzerneuerer Lennie Tristano: Ihre größere Empathie und intuitiven Fähigkeiten prädestiniere sie für die improvisierte Musik! Bis heute hat sich Tristanos Vorhersage nur zum Teil bewahrheitet. Obwohl es inzwischen mehr Jazzpianistinnen, Saxofonistinnen und Schlagzeugerinnen gibt als je zuvor, sind die Männer weiterhin in der Überzahl. Doch treten in jüngster Zeit vermehrt junge Bandleaderinnen in den Vordergrund, die sich über die alten Rollenverteilung hinwegsetzen. Die Männerdomäne Jazz wird – wenn auch nur langsam - feminisiert.

Vor allem auf der New York Jazzszene haben sich in den letzten Jahren eine Handvoll starken Frauen hervorgetan: Die deutsch-amerikanische Saxofonistin Ingrid Laubrock gehört dazu, die Gitarristin Mary Halvorson und die Pianistin Kris Davis sowie Anna Webber, Saxofonistin und Flötistin, Komponistin und Bandleaderin, die aus Kanada in den “Big Apple” zog.

Eine Filiale ihrer Aktivitäten hat Webber nun in Berlin eröffnet, wo sie eine Gruppe namens Percussive Mechanics gegründet hat, die jetzt zu Gastspielen nach Stuttgart in die “Kiste” (10. September) und in die “Gems” zum Jazzclub Singen  (11. September) kommt.

Das Repertoire des Ensembles besteht aus Webbers eigenen Kompositionen, die sie den Musikern genau auf den Leib geschrieben hat. Dabei macht die Bandleaderin Anleihen bei der Minimal Music, indem sie Konstruktionsprinzipien wie Repetition und Schichtung in ihren modernen Jazz einbezieht. Oft wird eine kurze Melodie von einem Instrument angespielt und wiederholt, dann von einem anderen aufgegriffen und variiert. Ein Muster entsteht, das Webber weiter ausbaut, indem mehr und mehr Ebenen übereinander geschichtet werden. Die Melodieschlaufen verflechten sich und setzen ein Räderwerk in Gang, bei dem wie bei einem mechanischen Uhrwerk ein Zahnrad ins andere greift. Aus diesen Kompositionssequenzen schälen sich Improvisationen heraus, die langsam die musikalische Architektur auflösen, um sie danach in ein anderes Muster zu überführen.

Um ihre komplexen Kompositionen mit der nötigen Kompetenz in Szene zu setzen, hat Anna Webber eine Band aus Spitzenkönnern der Berliner Jazzszene zusammengestellt. Dazu gehört der junge Pianist Elias Stemeseder, der bereits im Trio des New Yorker Drummers Jim Black für Aufsehen sorgte. Zwei Schlagzeuger und ein Vibrafonist, der auch Marimba spielt, sorgen für eine starke rhythmische Grundierung, dazu bringen Saxofon, Klarinette, Querflöte und Kontrabaß eine bunte Klangfarbenmischung ein. Dass die Frauen in Zukunft im Jazz ein gewichtigeres Wort mitreden werden, daran dürfte kein Zweifel bestehen, wenn man Anna Webbers originelle Musik hört.


JAZZTRENDS: Ellery Eskelin Solo

Ellery Eskelin - Tenorsaxofon solo

Coleman Hawkins brach das Tabu: Er spielte 1948 mit dem Titel “Picasso” das erste unbegleitete Tenorsaxofon-Solo der Jazzgeschichte ein. Ellery Eskelin, ausgewiesener Spitzenkönner mit modernen bis avantgardistischen Neigungen, knüpft daran 65 Jahre später an. Nicht nur, indem der New Yorker Tenosaxofonist ein ganzes Konzert alleine absolviert, sondern auch stilistisch: Er hat vor ein paar Jahren ein altes Saxofon Baujahr 1927 erworben und seine Spielweise neu überdacht und ausgerichtet, indem er den singhafte Stil der alten Tenoristen wieder aufleben läßt, allerdings ohne in einen Retro-Kult daraus zu machen.


Denn Eskelin steht mit beiden Beinen in der Gegenwart. Er pflegt einen warmen, vollen Ton, den er leicht aufgerauht anbläst, wodurch die Luftgeräusche Teil seines “Sounds” werden. Im Gegensatz zu früher ist seine Spielweise melodischer und weniger abstrakt. Es werden keine “Materialklänge” bemüht und keine Geräuscherkundung betrieben. Vielmehr spielt der New Yorker kantable Linien und läßt dabei der Fantasie freien Lauf. In seinem Spiel ist die Tradition gut aufgehoben und frei Improvisiertes kommt nicht wie so oft schrill oder harsch daher, sondern versonnen und abgeklärt. Hier kann man einem Meister beim Fabulieren zuhören, der mit seinem Instrument spannende Geschichten erzählt, die er weiter und weiter spinnt, weil er sich nicht an die Vorgaben eines Ensembles halten muß. Das kann man als Befreiung empfinden. 

Ellery Eskelin: Solo Live At Slugs (HatHut HatOLOGY731)

Die CD-Besprechung erschien zuerst in der JAZZTHETIK (jazzthetik.de)