Saturday 30 October 2021

Saadet Türköz & Nils Wogram: SongDreaming

Folkloristisch-improvisatorischen Gesänge

Klangträume von Saadet Türköz & Nils Wogram



 

Auch wenn der Hörer die Sprache der Worte dieser Lieder nicht versteht, vermitteln sich ihm doch die Stimmungen und Gefühlslagen durch die Töne und Klänge der Musik. Saadet Türköz ist eine Sängerin mit kazachisch-türkischen Wurzeln, die 1961 in Istanbul geboren wurde und seit Jahren in Zürich lebt. Sie verbindet die musikalischen Traditionen der ost-turkestanischer Heimat ihrer uigurischen Vorfahren mit den Methoden der Improvisation und der Klangsprache der Avantgarde, Konzepten, denen sie erst begegnet ist, als sie in den 1980er Jahren in die Schweiz kam. 

 

Für das Album “SongDreaming” hat sie sich mit dem deutschen Posaunisten Nils Wogram zusammengetan, um Melodien, die ihrer kazachisch-türkischen Herkunft entstammen, in Gesänge zu verwandeln, welche die Gestalt von Klage- und Trauerliedern, Kinderreimen und Abzählversen oder ritualistischen Beschwörungen annehmen können. Es sind imaginäre Songs aus der Diaspora, die sich in orientalischer Tonalität bewegen und um kulturelle Selbstfindung in einer komplizierten Welt ringen, wobei die Lieder wie in Träumen die fantastischsten Formen annehmen können. Türköz dringt mit Hilfe der Musik in seelische Tiefenschichten vor.

 

Die Grundstimmung des Albums ist ruhig und bedacht. Türköz bewegt sich durch alle Register ihrer Alt-Stimme und schöpft eine enorme Bandbreite vokaler Möglichkeiten aus, wobei allzu große Exzentrik vermieden wird in Liedern, in denen oft ein wehmütiger Grundton vorherrscht. Als Ausgangspunkt dienen traditionelle Melodien, die variiert, fantasievoll ausgeschmückt und improvisatorisch transformiert werden.



Nur selten verdichten sich die vokalen und instrumentalen Linien zu aufbrausenden Ausbrüche. Wogram hält sich eher zurück, stellt sein Posaunenspiel ganz in den Dienst der folkloristisch-improvisatorischen Gesänge. Er begleitet Türköz‘ Stimme mit Langtönen, läßt seine Posaune wie ein Alphorn klingen oder gibt rhythmische Muster vor, die als Tragfläche für Türköz’ vokale Exkursionen dienen, wobei Wogram ab und zu auch zur Melodica greift, was akkordische Möglichkeiten eröffnet.

 

Ein Dutzend Kompositionen umfasst das Album, die zwischen einer und sechs Minuten lang sind, also nie ausufern und zügig auf den Punkt kommen. Diese Fokussierung macht aus jedem Lied ein deutliches Statement. Für Saadet Türköz sind sie Identitätsanker in einer vielschichtig globalisierten Welt, die nur noch wenige Gewißheiten kennt. 


 Saadet Türköz & Nils Wogram: SongDreaming (Leo Records)

Tuesday 19 October 2021

Krautrock: 'Future Sounds'-Buchbesprechung

„If you remember the sixties, you were not there!“

 

Nach 1968 entwickelte sich in Deutschland eine wilde neue Musik  – die Buchneuerscheinung "Future Sounds" von Christoph Dallach zeichnet den Aufstieg des Krautrock nach




cw. Sie zogen raus aufs Land, quartierten sich in verlassenen Bauernhöfen oder leerstehenden Schulhäusern ein, wo man rund um die Uhr laut Musik machen konnte, ohne jemanden auf die Nerven zu gehen. Gelegentlich fuhren die jungen Bandmusiker am Wochenende im verbeulten VW-Bus in eine größere Stadt, um im Jugendzentrum oder einem alternativen Club ein Konzert zu geben, für Gagen, die kaum zum Leben reichten. Man lebte nach  urkommunistischen Vorgaben, versuchte jegliche Konvention abzustreifen und suchten Transzendenz in psychedelischen Substanzen.


So oder ähnlich klingen die Überlieferungen aus der Zeit nach 1968, als in Westdeutschland eine neue Popmusik entstand, die weltweit bald unter dem Namen „Krautrock“ für Furore sorgte. Stars wie David Bowie, Brian Eno, Iggy Pop oder die Red Hot Chili Peppers gaben sich als Bewunderer zuerkennen und ließen sich von den abenteuerlichen Sounds aus Germany inspirieren. Die innovativsten Klänge stammten von Gruppen, die sich Kraftwerk, Can, Faust, Tangerine Dream, Cluster, Neu! oder Amon Düül 2 nannten und international zu Bannenträgern des neuen Genres wurden, das bis heute weltweite Strahlkraft besitzt und immer neue Scharen junger Musiker beeinflußt.

 

Im Buch „Future Sounds“ beleuchtet der Musikjournalist Christoph Dallach diese bedeutende Weichenstellung der westdeutschen Popgeschichte. Dabei kommen vor allem solche Musiker zu Wort, die zum erste Mal nicht mehr englischen oder amerikanischen Vorbildern folgten, sondern sich um eigene Ausdrucksformen bemühten, bei denen Improvisation und Experiment im Zentrum standen. Diese Pfadfinder neuer Stilformen ließen mit Klängen aufhorchen, wie man sie bis dahin noch nie gehört hatte, ob wohligen Synthesizerelegien, motorischen Rockgrooves oder esoterischen Klangcollagen. 


Can mit Sängerin Christine Lingh 


 

Das Buch von Dallach besteht ausschließlich aus Interviews mit mehr als sechzig Zeitzeugen, die weder kommentiert noch erläutert werden. O-Ton-Schnipsel aus den Gesprächen bündelt Dallach geschickt zu thematischen Schwerpunkten. Es beginnt in den 1950er Jahren (Nachkriegsjugend, Jazz), dann wird die Jugendrevolte der 1960er Jahre (lange Haare, WGs, Drogen) umkreist, um schließlich in den 1970er Jahre zu landen, wo die Musik vollends in den Vordergrund rückt und die führenden Formationen sowie einflußreiche Persönlichkeiten wie Rolf Ulrich Kaiser und Conny Plank mit eigenen Kapiteln bedacht werden. Dem schließt sich ein Ausblick in die Zukunft an, bei dem die Bedeutung des „Krautrock“ für die Musikhistorie noch einmal unterstrichen wird. 

 

Für Eingeweihte, die mit der Thematik und den Akteuren vertraut sind, mag dieses Patchwork-Verfahren einen gewissen Reiz besitzen, für Neueinsteiger kann es dagegen zu  einem Wirrwarr aus Stimmen und Meinungen zerfransen. Zudem liegt bei dieser Art der mündlichen Geschichtsschreibung Dichtung und Wahrheit oft eng beieinander, weil nach so vielen Jahrzehnten die Erinnerungen mehr und mehr verschwimmen und verblassen. „If you remember the sixties, you were not there!“ warnt ein Spruch aus den Woodstock-Jahren. Die Tendenz zur Selbstbeweihräucherung und Eigenstilisierung einzelner Musiker ist dann auch unüberhörbar, gerät gelegentlich fast schon zur peinlichen Prahlerei. 


Tangerine Dream, 1970 (Foto: Hudalla)




 

Im Fall von Kraftwerk stößt die Interview-Methode vollends an ihre Grenzen, da die Hauptakteure Ralf Hütter und Florian Schneider (1947-2020) seit langem keine Interviews mehr gaben, ja sogar die Frühphase der Band (inklusive der Vorgängergruppe Organisation) am liebsten aus den Geschichtsbüchern getilgt hätten. Andere Protagonisten sind bereits verstorben, so dass Dallach sich in diesen Fällen aufs dünne Eis des Hörensagens begibt. 

 

Wenn sich der Leser dieser Schwächen bewußt ist und außerdem die Musiker-Statements mit einer Prise Salz goutiert, kann man die Veröffentlichung als materialreiche Quellensammlung mit Gewinn lesen, kommen darin doch noch einmal etliche Beteiligte ausführlich zu Wort, die – altersbedingt – bald nicht mehr ihre Sicht der Dinge darlegen können, wenn sie nicht – wie Dieter Moebius – zwischenzeitlich bereits verstorben sind. 

 

Christoph Dallach: Future Sounds – wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten. Suhrkamp Taschenbuch; 511 Seiten mit einigen SW-Fotos; 18 Euro 

 

Tuesday 5 October 2021

Donaueschinger Musiktage: 100. Jubiläum

Metropolenklänge in der Provinz

 

100 Jahre Donaueschinger Musiktage 


                                                     Karlheinz Stockhausen 

cw. Wie passt das zusammen? Eine Stadt mittlerer Größe im südlichen Schwarzwald gilt als wichtigstes Zentrum für zeitgenössische Musik weltweit, Klänge, die man sonst in Metropolen wie Berlin, New York, Wien oder Paris vermuten würde. Das hat Donaueschingen mit seinen „Musiktagen“ geschafft, ein Festival, auf das sich jedes Jahr im Herbst die Ohren der internationalen Avantgarde-Fans richten. Dieses Jahr feiert die Veranstaltung 100. Geburtstag.

 

Neue Musik gilt als schwierig, unzugänglich und elitär, Klänge für eine kleine verschworene Minderheit, die dennoch jedes Jahr immerhin zehntausend Besucher in die ehemalige Residenzstadt lockt, was nicht nur das Fremdenverkehrsamt und die Gastronomie freut. Auch für das Land Baden-Württemberg sind die „Donaueschinger Musiktage“ ein Aushängeschild.

 

Alles begann im Sommer 1921, in der Aufbruchzeit nach dem 1. Weltkrieg, als Heinrich Burkard – Musiklehrer der Fürstenfamilie zu Fürstenberg – mit finanzieller Unterstützung des Fürsten zu einem „Kammermusikfest“ in den südlichen Schwarzwald einlud und viele junge Komponisten Werke für die „Novitätenkonzerte“ einreichten. Ein Streichquartett von Paul Hindemith kristallisierte sich als das überzeugenste heraus. Doch das verpflichtete Musikensemble weigerte sich, die Komposition zu spielen, zu verquert erschien das Werk. Als Notlösung wurde daraufhin das Amar Quartett herangezogen, das dem Stück zu einem überwältigen Erfolg verhalf und von nun an als Hausensemble fungierte.

 

„Donaueschingen“ wurde in Folge immer mehr zu einem Synonym für neuste Musik, wenn auch der Standort ein paar Mal wechselte: 1927 fanden die Konzerte in Baden-Baden statt, 1930 in Berlin. Unter der Federführung des Komponisten Hugo Herrmann schlingerten die Musiktage durch die Zeit des Nationalsozialismus und kamen nach dem 2. Weltkrieg 1950 in die Obhut des Südwestfunks. 


Mauricio Kagel: Zwei-Mann-Orchester, Donaueschingen, 1973 (Foto: Promo)


 

In der Nachkriegszeit wurden das Festival zu einem Forschungslabor atonaler Klänge, wobei alle tonangebenden Komponisten der Gegenwart zum Zuge kamen, die sich oft gegenseitig nicht grün waren. Von Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono über Hans Werner Henze, Yannis Xenakis und John Cage bis zu Ernst Krenek, György Ligeti und Mauricio Kagel – waren alle präsent, wobei auch die Vorväter wie Arnold Schönberg, Edgard Varèse oder Igor Strawinsky nicht vergessen wurden. Serielle Musik, Musique Concrète, New York School, elektronische Klänge, Third Stream, Klanginstallationen, Hörspiel – in Donaueschingen kam jede Richtung zu ihrem Recht, was nicht ohne Konflikte, Neid und Eifersüchteleien abging. 

 

Nach zaghaften Versuchen mit einer sogenannten „Jazztime“ in den 1950er Jahren, gelang es 1967 dem Rundfunkredakteur Joachim Ernst Berendt eine „Jazz Session“ im Programm zu etablieren, was bei E-Musik-Puristen auf wenig Gegenliebe stieß, denen der Jazz als trivial galt. Dennoch schaffte es Berendt ein paar wegweisende Konzerte auf die Beine zu stellen: 1967 ließ das Globe Unity Orchestra mit großorchestralem Freejazz aufhorchen, 1970 absolvierte hier das Sun Ra Arkestra aus den USA eines seiner ersten Konzerte in Europa, und 1971 hielt mit der englischen Gruppe Soft Machine sogar der elektrische Jazzrock Einzug, was ein paar ältere Konzertbesucher veranlasste, wegen der brachialen Lautstärke fluchtartig den Saal zu verlassen.


Don Cherry mit Frau und Sohn sowie Joachim Ernst Berendt, Donaueschingen 1971 (Foto: Jörg Becker)


 

Natürlich war „Donaueschingen“ nicht unfehlbar – ganz im Gegenteil. Das Festival spiegelte das ganze Auf und Ab der zeitgenössischen Musik wider, war nicht gegen die Versuchungen der Mode und des Zeitgeists gefeit. Auch das „Altern der Avantgarde“ wurden hörbar. Nicht selten langweilte eine musikalische Moderne, die zwischenzeitlich als stinknormal empfunden wurde. Viele Komponisten verschwanden nach ihrem Auftritt in Donaueschingen bald wieder von der Bildfläche, etliche Werke schafften es nach der Uraufführung auf keine Bühne mehr. 

 

Die Gefahr der Kürzung öffentlicher Fördergelder stellte vor ein paar Jahren die Existenz des ganzen Unternehmens in Frage, eine Krise, die inzwischen gemeistert zu sein scheint. Donaueschingen ist bereit für die nächsten 100 Jahre und die werden vermehrt im Zeichen von Diversität, Dekolonisierung und digital-elektronischer Musikfabrikation stehen, wobei Laptops, digitale Klangmaschinen und künstliche Intelligenz immer mehr das konventionelle Orchesterinstrumentarium verdrängen. Das Festival hat das Ohr in die Zukunft gerichtet, auch dieses Jahr wieder vom 14. – 17. Oktober.   

 

Info: www.donaueschingen.de/musiktage


Der Artikel erschien zuerst im Schwarzwälder Bote, große Tageszeitung in Südwestdeutschland