Der Drummer gibt die Richtung vor
Als Schlagzeuger der Sons of Kemet wurde er bekannt, jetzt veröffentlicht Tom Skinner ein Album unter eigenem Namen – Shabaka Hutchings und Nubya Garcia sind mit von der Partie
Tom Skinner (Foto: C. Wagner)
cw. Tom Skinner wirkt immer leicht gehetzt. Es ist auch nicht einfach in der Metropole London, ein Leben als junger Familienvater von zwei Kleinkindern mit dem Beruf eines professionellen Schlagzeugers und Komponisten zu vereinbaren. Da hastet man dann doch öfters von einer Bandprobe, einer Session oder einem Studiotermin schnell nach Hause, um den Nachwuchs pünktlich vom Kindergarten abzuholen.
Hektik zeichnet Skinners Alltag aus, noch mehr, wenn er auf Tour ist, wobei die Sons of Kemet in den letzten zehn Jahren die Band war, mit der er am häufigsten unterwegs war. Aber auch Gruppen wie Melt Yourself Down sowie Musiker und Musikerinnen wie Mulatu Astatke, Alexander Hawkins, Eska oder Matthew Herbert haben seine Dienste in Anspruch genommen, aus dem einfachen Grund: Skinner gilt als einer der besten Drummer der britischen Szene. Das haben wohl auch Thom Yorke und Jonny Greenwood von Radiohead erkannt, die mit ihm zusammen vor zwei Jahren die Gruppe The Smile ins Leben riefen.
Im Frühjahr 2020 hatte Skinner auf einmal etwas, was er sonst nie hatte: Zeit! Die Pandemie brachte alle Aktivitäten zum Erliegen. Und nun – was tun? Glücklicherweise hatte er ein Plattenprojekt in der Mache, das bereits aufgenommen war. Skinner verwendete die Auszeit, um sich intensiv dem Abmischen der Aufnahmen zu widmen. Zwei Tage pro Woche nutze er das kleine Studio eines Bekannten, um den Einspielungen den letzten Schliff zu geben. Das Endergebnis ist das Album „Voices of Bishara“, das gerade auf Gilles Petersons Brownwood-Label erschienen ist.
Der Ursprungsimpuls reicht bis ins Jahr 2018 zurück. Skinner bekam damals das Angebot, einen Abend im Londoner Club „Brilliant Corners“ (nach dem berühmten Album von Thelonious Monk benannt) zu bestreiten, in einer Reihe, die unter der Überschrift „Played Twice“ läuft. Die Spielregeln lauten: Jeweils ein Musiker kuratiert einen Abend und wählt dafür ein klassisches Album aus, das in der besten Vinylpressung, die aufzutreiben ist, in der ersten Hälfte der Veranstaltung auf einer hochwertigen Stereoanlage in Gänze gespielt wird. Danach reagiert dann eine vom Kurator zusammengestellte Band auf das soeben gehörte.
Skinners Wahl fiel auf das Album „Life Time“ von Tony Williams, das 1964 bei Blue Note erschienen ist. Es war die erste Einspielung des damals 19-jährigen Drummers unter eigenem Namen. Mit Sam Rivers (Tenorsaxofon), Herbie Hancock am Piano und Bobby Hutcherson (Vibrafon), dazu abwechselnd Richard Davis, Gary Peacock oder Ron Carter am Bass entwarf Williams einen modernen Jazz, der sich kompositorisch und improvisatorisch in Neuland vortastete, sich dabei sogar in die Zonen des freien Jazz vorwagte.
Die Band, die Skinner für den Gig zusammenrief, war ein fünfköpfiges Ensemble, das auf der einen Seite aus den Bläsern Shabaka Hutchings (Tenorsaxofon und Baßklarinette) und Nubya Garcia (Tenorsaxofon und Querflöte) bestand, auf der anderen die Streich- und Zupfmusiker Tom Herbert (Kontrabaß) und Kareem Dayes (Cello) umfasste, mit dem Bandleader in der Mitte, der als Drummer und Perkussionist die Richtung vorgab. Der Abend verlief so vielversprechend, dass Skinner über eine Fortführung des Projekts nachdachte.
Er entwarf ein halbes Dutzend Stücke, komponierte Melodien, dachte über Strukturen und Formen nach, um die ausnotierten Passagen und die Improvisationen in ein sinnvolles Verhältnis zu bringen. Unter dem Titel „Red 2“ wurde auch eine Komposition von Tony Williams interpretiert – das Eröffnungsstück „Two Pieces Of One: Red“ vom „Life Time“-Album.
Nachdem das Konzept stand, buchte Skinner ein Studio. Dort wurden sechs Titel eingespielt, wobei ein spiritueller Jazz zu hören war, der den Geist der 1960er Jahre atmete, dabei eine Gratwanderung zwischen themenbasierter Improvisation, freiem Spiel und auskomponierten Teilen unternahm, wobei er die gelegentlich eruptiven Ausbrüche als hymnische „fire music“ zelebrierte.
Tom Skinner Voices of Bishara: The Journey (Youtube)
Mit diesem Material machte sich Skinner pandemiebedingt an die Post-Produktion. „Da wir die Musik live im Studio eingespielt hatten, ließ das nicht viel Spielraum für größere Eingriffe,“ erklärt der Drummer. „Ich habe behutsam hier ein bisschen Hall hinzugefügt, dort den Klang ein bisschen räumlicher gestaltet oder die Balance der Instrumente verändert, auch ein paar deutlichere Cuts vorgenommen, um Kontraste zu schaffen.“
Als im Frühjahr 2022 die Sons of Kemet den „kollektiven Entschluß“ (Tom Skinner) fassten, die Band aufzulösen, verringerte das den Streß in Skinners Alltag etwas und machte neue Aktivitäten möglich: Der Drummer fasste ein paar Auftritte mit dem „Bishara“-Ensemble ins Auge, wobei er nicht an die Originalbesetzung dachte, da Shabaka Hutchings und Nubya Garcia in der Zwischenzeit zu internationalen Stars geworden waren, mit einem Terminkalender, der wenig Spielraum für anderes läßt. Aus diesem Grund hat Skinner bereits zwei andere Holzbläser einbezogen: den Saxofonisten und Klarinettisten Robert Stillman sowie die Tenorsaxofonistin und Flötistin Chelsea Carmichael. Mit ihnen wurden erste Auftritte absolviert, was Lust auf weitere machte. Gut möglich, dass aus der ad-hoc-Band doch noch ein festes Ensemble wird.
Tom Skinner: Voices of Bishara (Brownwood)