Tuesday 26 April 2022

SCHEIBENGERICHT: VERA KAPPELER – M:MONK

SCHEIBENGERICHT 4

 

VERA KAPPELER – M:MONK  (Klactovee Edition / Anuk Label)



Wertung: 4 von 5

 

cw. Sie waren Zeitgenossen: Thelonious Monk (1917 – 1982) gilt als einer der originellsten, wenn nicht der originellste Pianist des Jazz und John Cage (1912 – 1992) als bahnbrechender Komponist der Avantgarde. Monk hat in den 1940er Jahren den Jazz mit Dissonanzen in die Moderne gehievt, während zur gleichen Zeit Cage die Spieltechnik des präparierten Klaviers erfand, indem er kleine Gegenstände zwischen die Pianosaiten klemmte, was den Klavierklang grundlegend veränderte.

 

Vera Kappeler bringt die beiden Giganten zusammen, indem sie zehn Monk-Nummern präsentiert, etliche davon auf dem präparierten Klavier. Kappeler hat nicht die offensichtlichsten Monk-Klassiker wie „Straight No Chaser“ oder „Round Midnight“ ins Programm genommen, sondern eher abgelegenere Nummern wie „A Merrier Christmas“, von der nur eine verrauschte Cassettenaufnahme existiert. Selbstverständlich kommen auch Titel aus Monks Kernrepertoire zum Zuge, ob „Rhythm-A-Ning“ oder „Monk’s Mood“, dazu eine Komposition namens „Intro“, die von Kappeler selber stammt. 

 

Das Eröffnungsstück „Blue Hawk“ geht die Pianistin resolut an. Sie läßt die präparierten Töne scheppern und klirren, indem sie in die Struktur dieser vertrakten Nummer geradewegs hineinkriecht. Bei den nächsten beiden Titeln verzichtet Kappeler auf Verfremdungseffekte, wobei sie „Ugly Beauty“ in versonnener Balladenstimmung spielt. Den Kontrast dazu liefert die Komposition „Sixteen“, bei der Kappeler die Kantigkeit der Melodie und die dissonanten Akkordfolgen noch deutlicher hervorhebt, was das Profil Monks als entschiedenem Neutöner unterstreicht. Das bekannte Riff von „Rhythm-A-Ning“ erscheint durch Tonverzerrungen in anderem Licht, was auch für „Bye-Ya“ gilt, ein Titel, bei dem Kappeler die verzerrten Töne als rhythmische Akzentpunkte nutzt. Im tagträumerischen „Monk’s Mood“ sehen sich die Pianotöne hingegen von einem singenden elektronisch-erzeugten Nachhall unterlegt, was eine spukhafte Nachtstimmung erzeugt.

 

Mit „M:MONK“ ist Kappeler eine überzeugende Einspielung gelungen, die die Pianistin aus dem ostschweizerischen Haldenstein als eine der führenden Jazzpianistinnen der jüngeren Generation zeigt, mit einem Horizont, der weit über den Jazz hinausreicht.




Thursday 21 April 2022

SCHEIBENGERICHT: PETER CONRADIN ZUMTHOR – THINGS ARE GOING DOWN

SCHEIBENGERICHT 3

PETER CONRADIN ZUMTHOR –  THINGS ARE GOING DOWN

for piano player and piano tuner (Edition Wandelweiser Records EWR 2119)




Wertung: 4 von 5

 

cw. Was heute in der Welt der Musik als „Minimalismus“ bezeichnet wird, kommt in zweierlei Spielarten vor. Da ist zum einen die auf einem „Drone“ – einem lang angehaltenem Ton – basierende „Minimal Music“, als deren Urvater LaMonte Young und sein Theatre of Eternal Music gilt. Dem gegenüber steht ein Minimalismus, der auf einem kleinteiligen Motiv beruht, das fortwährend wiederholt wird und sich im Zuge der Repetition ganz allmählich und nahezu unmerklich verändert, wofür Steve Reichs „Piano Phase“ das klassische Beispiel ist.

 

Peter Conradin Zumthors Komposition „things are going down“ für Klavierspieler und Klavierstimmer, die jetzt in der Edition Wandelweiser Records als CD erschienen ist, fällt in die zweite Kategorie. Der Schweizer, der eigentlich Drummer und Perkussionist ist, agiert hier als Pianist. Als Grundmaterial des Stücks hat er ein mehrtöniges Tremolo als Ausgangspunkt gewählt, das mehr als 46 Minuten lang kontinuierlich angeschlagen wird, dabei wellenartig an- und abschwellt, währenddessen der Klavierstimmer René Waldhausen mit dem Stimmschlüssel die Stimmung sachte und fast unbemerkt immer tiefer und tiefer nach unten dreht: „things are going down“!

 

Das mächtige Schwirren und Flirren der Töne verdichtet sich zu irisierenden Klangnebeln, wobei spannende Oberton-Phänomene und Klangballungen entstehen, die am Ende in das metallische Scheppern der vollkommen erschlafften Klaviersaiten münden. Das Stück erweist sich als minitiös und mit großer Akuratesse, zäher Ausdauer und ungeheurer Präzision durchexerzierte Idee mit absolut verblüffendem Effekt!


Peter Conradin Zumthor & René Waldhausen: things are going down Nr. 1, Bern 2020 (Youtube)



Mehr Info:


Monday 18 April 2022

SCHEIBENGERICHT: COWBOY JUNKIES – SONGS OF THE RECOLLECTION

SCHEIBENGERICHT   1

 

COWBOY JUNKIES – SONGS OF THE RECOLLECTION (Proper Records)

 

Wertung: 3 ½ von 5


cw. Mit Mundharmonika, Akkordeon, Orgel, Pedal-Steel-Gitarre, Schlagzeug und Baß prägten die Cowboy Junkies in den später 1980er und frühen 1990er Jahren den Sound einer alternativen Folk- und Countrymusik, die heute unter der Ruprik „Americana“ firmiert. Die kanadische Band stand für einen sanft-träumerischer Gruppenklang in zumeist gemächlichen Tempi, über dem Margo Timmins‘ engelhafter Gesang schwebte. 

 

Oft besaß ihr reduzierter Folkrock eine experimentelle Dimension, die jedoch immer dem jeweiligen Stück diente und nie zum bloßen Selbstzweck verkam. So nahm die Gruppe 2020 einen Song namens „Ornette Coleman“ auf, mit dem die vier Musiker dem Erfinder des Freejazz die Ehre erwiesen und der im Mittelteil ein verwaschenes Saxofonsolo im explodierenden Coleman-Stil enthielt. Diese Aufnahme war ein Rekurs auf die formative Phase der Band, als Gitarrist Michael Timmins und Bassist Alan Anton in London in einem Ensemble für frei-improvisierte Musik spielten. So faltete sich das kreative Spektrum der Band immer weiter auf.

 

Von Anfang an schulten die Cowboy Junkies ihren Stil an Coverversionen. Auf ihrem Debutalbum von 1986 war nur eine einzige Eigenkomposition zu finden, und danach gab es kaum ein Platte, die nicht mindestens ein oder zwei Covers enthielt. Nachdem sie 2007 mit dem amerikanischen Singer-Songwriter Vic Chesnutt zusammengearbeitet hatten, nahmen sie 2011 nach Chesnutts Selbstmord ein ganzes Album mit seinen Songs auf. 

 

Mehr als 35 Jahre nach ihrem Debut und immer noch in der Urbesetzung spinnt die Band der Geschwister Timmins aus Toronto diesen Faden jetzt mit ihrem 19. Studioalbum weiter, das ausschließlich aus Neufassungen von Songs von David Bowie, Bob Dylan, The Rolling Stones, Neil Young, Gram Parsons, Gordon Lightfoot und The Cure besteht. 

 

Für diese Art von „Recollection“ (=Erinnerung) haben die Cowboy Junkies einfach neun ihrer "favourite songs" ausgewählt, von denen vier bereits veröffentlicht waren. Am überzeugenstens gerät wiederum ein Lied von Vic Chesnutt. Im Original folgt bei „Marathon“ auf Chesnutts Gesang eine längere Passage anschwellender flirrender Geigentöne, ein experimenteller Hakenschlag, den die Cowboy Junkies in ein Crescendo ratternder Gitarrensplitterklänge übersetzen. Durch den zweistimmigen, gehauchten Gesang erhält das Lied eine eindringliche Atmosphäre, ein Düstersong, dessen Grad an Intensität sich ohne Frage mit dem Original messen kann, wobei die Cowboy Junkies im Refrain die Melodie noch markanter akzentuieren, was der Einspielung eine noch singhaftere Qualität verleiht – berührend!

 

Hörproben:

 

Vic Chesnutt – Marathon 




 


Cowboy Junkies – Marathon vom Album "Songs of the Recollection" (youtube)




 

 

Thursday 14 April 2022

Edgar Winter und "Brother Johnny"

Missionar des Blues

 

Mit einem Tributalbum verneigen sich Popstars posthum vor dem Ausnahmegitarristen Johnny Winter




 

cw. Seine Konzerte begannen oft mit einem markerschütternden Schrei: „Allright – Rock ‘n‘ Rrrrrrrollll!“ lautete der Schlachtruf, mit dem sich Johnny Winter in die Auftritte stürzte. Seit Ende der 1960er Jahre war der amerikanische Gitarrist unermüdlich auf Tour und machte dabei auch häufig in der Bundesrepublik Station. Besonders sein Auftritt 1979 im „Rockpalast“ hinterließ einen starken Eindruck. Gelegentlich trat er mit seinem jüngeren Bruder auf, dem Tastenmusiker und Saxofonisten Edgar Winter, der es mit der Instrumentalnummer „Frankenstein“ 1973 sogar zu Hitparadenruhm brachte. 


In die Charts hat es Johnny Winter nie geschafft, was seiner Reputation allerdings keinen Abbruch tat: Sein Ruf beruhte ausschließlich auf seinem musikalischen Können, wobei er auf der Gitarre als Ausnahmebegabung galt. Der 1944 in Texas geborene, spindeldürre Albino mit strähnig blondem Haar und bunten Tattoos, war ein begnadeter Saitenvirtuose, dessen Kreativität bei Blues- und Rock ‘n‘ Roll-Nummern am besten zur Geltung kam. Gelegentlich als „Schnellfinger“ abgetan, konnte Winter in langsamen Nummern seine Gitarre gleichwohl mit viel Einfühlungsvermögen zum Singen bringen, wobei sein Spiel durch einen schneidenden Ton bestach. Und dieser Sound war einer außergewöhnlichen Spieltechnik geschuldet: Winter riß die Saiten nicht mit einem gewöhnlichen Plektrum an, sondern mit einem stählernen Plektrumring am rechten Daumen.


Edgar & Johnny Winter, 1955





Als begeisterter Hobbymusiker hatte der Vater dafür sorgte, dass der kleine Johnny Klarinette lernte, bald kam die Ukulele dazu. Der Knirps trat zusammen mit seinem jüngeren Bruder Edgar in Talentshows im Lokalfernsehen seiner Heimatstadt Beaumont in Texas auf. An den Wochenenden schleppten die beiden ihre Instrumente und selbstgebauten Verstärker zu Parties, Kirchen- und Schulfesten. „Wir spielten überall, wo sie uns ließen“, erinnert sich Winter. Eingerahmt von tanzenden Go-Go-Girls stand der 15jährige in Anzug und Krawatte mit seiner Band Johnny & The Jammers bald auch in den lokalen Nachtclubs auf der Bühne. „Es dauerte lange, bis meine Eltern das akzeptierten“, so Winter. 


Johnny Winter besaß ein Faible für den Blues, sowohl für die akustische Urform aus dem Mississippi Delta, als auch für die elektrische Großstadt-Variante. Schallplatten von Howlin‘ Wolf und Muddy Waters hatten früh seine Begeisterung geweckt. Einen örtlichen Bluesmusiker nervte er so lange, bis er ihm ein paar Griffe und Kniffe auf der Gitarre zeigte. Als Profi suchte Winter später die Zusammenarbeit mit den Großmeistern des Genres. Ob er mit B.B. King, Sonny Terry oder Willie Dixon jammte – immer bestach sein untrügliches Feeling. Ab 1976 spielte er fünf Jahre lang in der Band von Muddy Waters, dessen Alben er auch produzierte, was ihm viel Lob aus Kennerkreisen und eine Anzahl von Grammys einbrachte. „Mit Muddy zu arbeiten, sah er als Höhepunkt seines Musikerlebens an“, erinnert sich Bruder Edgar.


Acht Jahre nach Johnny Winters Tod – er war 2014 im Alter von 70 Jahren in einem Hotel am Zürcher Flughafen verstorben –  veröffentlicht nun Edgar Winter ein Album, auf dem eine Starbesetzung der Gitarrenlegende die Ehre erweist. Mit unterschiedlichen Songs verneigen sich musikalische „Schwergewichte“ wie Billy Gibbons von ZZ Top, Joe Walsh von der Eagles, Phil X (Bon Jovi), John McFee von den Doobie Brothers und Steve Lukather (Toto) vor „Brother Johnny“, so der Titel der Platte. Selbst ein Veteran wie der Beatle Ringo Starr ließ es sich nicht nehmen, auf einem Track die Trommelstöcke zu schwingen. Bei einem anderen Stück sorgte der kürzlich verstorbene Taylor Hawkins von den Foo Fighters für den rockigen Beat. 


Johnny Winter war nicht nur ein ungestümer Powergitarrist, der die Verstärker erzittern ließ, sondern auch für leise Töne gut. Dann holte er die blecherne „National Steel“ aus dem Gitarrenkoffer, stülpte sich ein „Bottleneck“-Stahlröhrchen über den kleinen Finger der linken Hand, um das akustische Instrument wimmern und schluchzen zu lassen, eine Spielweise, die auf dem Tributalbum von Keb‘ Mo‘ im Stück „Lone Star Blues“ und von Doyle Bramhall in „When You Got A Good Friend“ – einer Robert-Johnson-Nummer – meisterhaft praktiziert wird.


Edgar Winter's White Trash – I've got news for you, 1971 (youtube)


 

Die Studiosessions für das Tributalbum erforderten viel Fingerspitzengefühl. Edgar Winter erwies sich dabei als der richtige Mann. Bereits 1971 hatte er ein superbes Album mit dem Titel „Edgar Winter's White Trash“ eingespielt, das von Blues über Gospel und Boogie-Woogie bis zu Soul die ganze Vielfalt der Stile des amerikanischen Südens auf höchst kompetente Art durchbuchstabierte. Diese profunden Kenntnisse der Traditionen "of the deep South" kommen ihm erneut bei dieser aktuellen Produktion zugute und erlauben es ihm, auf einem Stück das Klavier in wilder Barrelhouse-Manier zu bearbeiten, während er bei anderen Tracks die Orgel gospelmäßig singen läßt oder das E-Piano à la Ray Charles spielt. Geschmacksicher findet er jeweils den richtigen Ton, ohne sich eitel in den Vordergrund zu drängen. Ja selbst mit dem Saxofon versteht es Edgar Winter originelle Akzente zu setzen.


Edgar Winter & Keb' Mo' – Lone Star Blues vom Album "Brother Johnny", 2022 (youtube)


Was Johnny Winters Repertoire anbelangt, hatte er für Klassiker aus Rock und Blues ein besonderes Faible. Bei Auftritten bildeten sie den Kern seiner „tracklist“. Ob „Jumpin‘ Jack Flash“ von den Rolling Stones oder „Got My Mojo Working” von Muddy Waters – bei solchen Titeln war der Gitarrist ganz in seinem Element und drückte den Evergreens seinen persönlichen Stempel auf. Zur eigentlichen Trumpfkarte avancierte jedoch Chuck Berrys „Johnny B. Goode“, das zu Winters Erkennungsmelodie und Paradenummer wurde, bei der er seine Fingerfertigkeit voll ausspielen konnte. Auf dem aktuelle Tributalbum braucht es dazu gleich zwei ausgesprochene Gitarrenkönner – Joe Walsh und David Grissom –,  um einen ähnlichen musikalischen Feuersturm zu entfachen. Doch dann biegt das Stück nach dem Gitarrensolo völlig unerwartet in Richtung Jump-Jive ab, indem das Saxofon für acht Takte die Führung übernimmt und Edgar Winter sich die Seele aus dem Leib bläst. Derlei originelle Einfälle, gepaart mit einer unbändigen Spielfreude und großem handwerklichen Können, machen das Album zu einem Meisterkurs in Sachen „Good Old Rock ‘n‘ Roll“. So gekonnt in Szene gesetzt, erweist sich Johnny Winters Musik auch heute noch als „Still Alive And Well“, wie einer seiner bekanntesten Titel lautete.

 

Edgar Winter: Brother Johnny (Quarto Valley Records)

Friday 8 April 2022

DAS TRAUTONIUM in SWR2: 18. April 2022

WIEDERHOLUNG DER SENDUNG:


Alfred Hitchcock und das Trautonium
Das Comeback eines frühen elektronischen Instruments

von Christoph Wagner


SWR2 MUSIKPASSAGEN, MONTAG, 18. APRIL 2022 / 16:05-17:00

Oskar Sala 1995 in Berlin in seinem Studio am Trautonium (Foto: C. Wagner) 
Das Ur-Trautonium (Foto: C. Wagner)
Im Film "Die Vögel" von Alfred Hitchcock wurde das immer bedrohlicher werdende Geschrei der Krähen von Oskar Sala auf einem Trautonium eingespielt. Sala war lange Zeit der einzige Solist auf diesem frühen elektronischen Klangerzeuger, der Ende der 1920er-Jahre in Berlin von Friedrich Trautwein erfunden worden war. Heute ist Peter Pichler aus München einer der wenigen Musiker, die das Trautonium abermals entdecken, das inzwischen von einer Firma in Nordhessen wieder gebaut wird. Es kommen zu Wort: der 85jährige Oskar Sala (interviewt 1995) und Peter Pichler.

Peter Pichler am Trautonium (Foto: C. Wagner)
 

SWR2 MUSIKPASSAGEN, MOntag, 18. April 2022 / 16:05-17:00


Wednesday 6 April 2022

SCHEIBENGERICHT: Alexander Hawkins – Mirror Canon Break A Vase

SCHEIBENGERICHT 2

 

Alexander Hawkins: Mirror Canon Break A Vase 

(Intakt Records) 



cw. Zwei Solopianostücke bilden die Klammer. Sie binden die sieben Ensemblekompositionen von Alexander Hawkins zusammen, rahmen sie formgerecht ein, was die Konsistenz des gesamten Albums garantiert. Der Opener ist als eine Art Präludium mit kantigen Tastensprüngen eher robust gehalten, während das Schlußstück mit Verfremdungen und Klangmanipulationen zwischen John Cage, Hauschka und Aphex Twin ins avantgardistische Klangutopia ausgreift.

 

 Der Pianist und Bandleader aus der Universitätsstadt Oxford, der 2021 40 geworden ist, erweist sich auf seiner aktuellen Einspielung als vielseitiger Komponist, dessen Bandbreite vom Solo über Quartettstücke bis zur Sextettbesetzung reicht, wobei es Hawkins nicht beim akustischen Klang bewenden läßt, sondern die Musik behutsam mit Sounds vom Sampler in ein elektronisches Klangbad taucht. 

 

Hawkins spannt den Bogen weit. Von groovenden Arrangements, bei denen der Einfluß von Mulatu Astatke durchschimmert, in dessen Band er Jahre lang auf dem Klavierstuhl saß, bis zu ekstatischer Fire Music reicht die Bandbreite, wie er sie im Ensemble von Louis Moholo lange Zeit praktizierte (im Gespann mit Saxofonisten Shabaka Hutchings). Daneben gibt es auch eine Komposition (Titel: Faint Making Stones), die fast nach einer abstrakten Jazzballade klingt – aber nur fast!

 

Mit zwei Schlagzeugern (einer davon ein afrikanischer Handtrommelspezialist) ist die Rhythmusgruppe als treibende Groovemaschine konzipiert, die – wenn nötig – einen Drive von ungeheurer Dichte erzeugen kann. Darüber legt Shabaka Hutchings Saxofonsoli von expressiver Kraft, die Hawkins mit raffinierten Akkorden kontrapunktisch spiegelt, bevor er den Faden aufnimmt und weiterspinnt, dabei oft bis an die Grenzen zur Atonalität geht. Als dritter Solist kommt der Südafrikaner Otto Fischer ins Spiel, dessen originelle Gitarrensoli gleichermaßen die konventionellen Gesetze der Harmonie sprengen. Als Kontrast wirkt ein Stück (Titel: Sun Rugged Billions), das freier und luftiger gehalten ist und mit Holzflöte, Schlagzeug und präpariertem Klavier südafrikanische Folklore evoziert. 

 

Mit diesem Album ist Alexander Hawkins ein großer Wurf gelungen, mit dem er seinen Ruf als einer der führenden Musiker der aktuellen britischen Jazzszene weiter festigen kann, vor allem für die Zeit danach – wenn einmal der aktuelle Hype um den Post-Jazz aus Südlondon abgeklungen ist.