Wednesday 30 June 2021

Review: Tom Rainey Obbligato

Aufmerksamkeit und Wachheit


Tom Raineys Bandprojekt Obbligato mit neuem Album




 

Tom Raineys Bandprojekt Obbligato ist als eine Art “party game” für Jazzmusiker und Jazzmusikerinnen konzipiert. Die Regeln lauten: Es werden bekannte Standards aus dem Great American Songbook wie etwa „Stella by Starlight“ oder „I Fall in Love Too Easily“ gespielt, die allerdings nur schemenhaft in ihrem harmonischen Grundgerüst anklingen, weil die Melodie nicht gespielt, sondern höchstens angedeutet und umkreist wird. Stattdessen improvisieren die fünf Beteiligten von Beginn an kollektiv über das jeweilige Thema, was ein verflochtenes polyphones Gruppenspiel ergibt, das der Spielauffassung des New Orleans-Jazz nahekommt, bevor das individuelle Solospiel im Jazz zu dominieren begann. 

 

Tom Rainey hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem der meistgefragten Drummer der amerikanischen Jazzszene entwickelt, der inzwischen auf über 250 Alben für das rhythmische Rückgrat sorgt und sich auch im freien Jazz zu bewegen weiß. Der Schlagzeuger aus Brooklyn hat vier hochkarätige Instrumentalisten um sich geschart. Neben Ingrid Laubrock, die ihr Saxofon virtuos mit wunderbarem Einfühlsvermögen bläst, besteht die Combo aus Trompeter Ralph Alessi, Bassist Drew Gress, sowie Pianist Jacob Sacks, der auf dieser dritten Einspielung der Band für die reguläre Tastenmusikerin Kris Davis eingesprungen ist und sich mühelos ins Gruppengeschehen einfügt.


Foto: Jan-Gerrit Schäfer

 

Der Ansatz verlangt ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit und Wachheit aller Beteiligten, weil jeder Instrumentalist jeden Moment auf die Einfälle der anderen zu reagieren herausgefordert ist. Erst aus dem fortwährenden interaktiven Austausch von Ideen aus dem Augenblick heraus gewinnt die Musik ihre kreative Kraft. Dazu ist eine absolute Vertrautheit mit dem Material die unabdingbare Voraussetzung, weswegen es auch nicht verwundert, dass ein paar Titel präsentiert werden, die bereits auf den beiden Vorgängeralben enthalten waren.

 

Im Zentrum dieses „Live“-Albums, das 2018 vom WDR bei einem Konzert im Jazzclub Hannover mitgeschnitten wurde, steht das 17minütige Doppel-Stück „What’s New – There Is No Greater Love“, das die beiden Standards zusammenbindet und von einem Basssolo eingeleitet wird. Ein durchdachtes Schlagzeugsolo, das nie in die oft übliche Ratterei verfällt, gestaltet den Übergang von ersten zum zweiten Stück, wobei ein wunderbar relaxtes, loses Feeling die Atmosphäre bestimmt, das das gesamte Album durchzieht. In den melancholisch gefärbten Balladen, die mit kammermusikalischer Zurückhaltung in Szene gesetzt werden, hat die Musik ihre stärksten Momente und bring die große Musikalität der Beteiligten am deutlichsten zum Ausdruck.


Tom Rainey Obbligato: Untucked in Hannover (Intakt Records)


Sunday 27 June 2021

KRAAN@50

Beste Freunde

 

Die bekannte Jazzrockgruppe Kraan feiert 50jähriges Jubiläum


 Foto: Lars Wege


 

cw. Im Fußball muß man elf Freunde sein – drei genügen in der Rockmusik: Hellmut Hattler (Baßgitarre), Peter Wolbrandt (E-Gitarre) und Jan Fride (Schlagzeug) gründeten 1970 die Jazzrockgruppe Kraan und traten im Mai 1971 in ihrer Heimatstadt Ulm zum ersten Mal auf – 50 Jahre später sind die drei immer noch beisammen. In diesem halben Jahrhundert haben sie Popgeschichte geschrieben und Kraan zu einer der profiliertesten und langlebigsten Formationen der deutschen Krautrockszene gemacht mit einem Sound, der bis heute nicht nach Mottenkiste klingt, sondern Jazz, Rock und Funk zu einer eigenständigen Fusionmusik verbindet.

 

In den 1970er Jahren hatten Kraan ihre große Zeit. Ein Jahr nach Woodstock von vier wildentschlossenen Schul- und Uni-Abbrechern ins Leben gerufen, spielte man zu Beginn Freejazz im Ulmer Jazzkeller “Sauschdall”. „Wir hatten dort Brötzmann und Schlippenbach gehört, was uns mächtig imponiert hat,“ erinnert sich Jan Fride. Allerdings entfaltete die Rockmusik bald eine noch größere Sogkraft. Kraan zogen nach Westfalen ins abgelegene Weidegut Wintrup, wo sie für ein paar Jahre mit Freundinnen, Manager und Roadies als Popkommune zusammenwohnten. Gleich hinter dem Hof begannen die Felder, dahinter erhob sich der Teutoburger Wald. Weit ab vom nächsten Dorf, konnten man hier Tag und Nacht Musik machen und die Verstärker aufdrehen, ohne dass es jemand gestört hätte. Regelmäßig schneiten befreundete Musiker herein, ob von Guru Guru, Exmagma oder Karthago, die auf dem Weg zum nächsten “Gig” ein Nachtquartier suchten. Dann wurde manchmal bis in die Morgenstunden gejammt. 

 

In den Wintrup-Jahren ließ Kraan mit einer Reihe exzellenter Schallplatten aufhorchen. “Keiner von uns hat damals an Karriere gedacht, das hat sich einfach so ergeben”, rekapituliert Fride die Entwicklung. Die LP “Andy Nogger” wurde 1974 im Studio des legendären Toningenieurs Conny Plank aufgenommen, der auch das folgende ‘Live’-Album produzierte. Auf den Einspielungen stachen Hellmut Hattlers treibende Bassläufen heraus, aber auch die elektrisch verzerrten Saxofonlinien von Johannes “Alto” Pappert, die melodischen bis schneidenden Gitarrensoli von Peter Wolbrandt und das groovende Schlagzeug von Jan Fride trugen ihren Teil zum typischen Kraan-Sound bei.  

 

Mehr als hundert Konzerte im Jahr absolvierte die Gruppe damals. Bei jedem Wetter ging es im Bandbus kreuz und quer durch die Bundesrepublik. “Im Winter war es manchmal saukalt, die Straßen spiegelglatt – Horrortrip”, erinnert sich Fride. Man spielte in Kulturzentren, Underground-Diskotheken, Jugendclubs und Festhallen und ließ kein Open Air aus, wobei der Auftritt beim legendären Roskilde-Festival in Dänemark 1975 einen Höhepunkt markierte. “Bei den Auftritten haben wir ein Stück angespielt und dann 20 Minuten drauflos improvisiert, wobei wir froh waren, wenn uns am Schluß das Thema  wieder eingefallen ist,” beschreibt Fride das Konzept der Band.

 

Allerdings zehrte das anstrengende Tourneeleben an den Kräften, und auch in der Bandkommune lief nicht alles reibungslos. “Es gab keine Vorschriften, kein Privateigentum,” schildert Hellmut Hattler die Situation. “Es gab keinen Spülplan und keinen Putzplan. Es war alles auf Freiwilligkeit angelegt, was nur mäßig funktionierte.“ Drogen trugen ihren Teil zum Chaos bei. Hellmut Hattler packte als erster die Koffer und kehrte mit Freundin nebst Säugling nach Ulm zurück, blieb jedoch in der Band. Dann quittierte Saxofonist “Alto” Pappert den Dienst, dessen vakante Stelle vom Keyboarder Ingo Bischof (von der Berliner Gruppe Karthago) eingenommen wurde. Nach etlichen Umbesetzungen, Stilwechseln, längeren Auszeiten und ein paar frischen Anläufen – zeitweise saßen Curt Cress oder Gerry Brown am Schlagzeug – war irgendwann Schluß. Kraan warfen das Handtuch.

 

Jedoch waren die freundschaftlichen Bande so stark, dass man immer wieder einmal einen Neustart versuchte, der aber nie richtig an Fahrt gewann, weil Soloprojekte in die Quere kamen. Erst um die Jahrtausendwende begann die zweite kontinuierliche Etappe in der Bandgeschichte. Jetzt war man abermals als Quartett mit Keyboarder Ingo Bischof unterwegs, der allerdings nach ein paar Jahren endgültig ausschied. Seitdem sind die drei Freunde wieder unter sich, die einst als Klassenkameraden in der Ulmer Waldorfschule durch die Musik zusammenfanden. 

 


Letztes Jahr ist Kraans aktuelles Album “Sandglass” erschienen, das die einzelnen Musiker Corona-bedingt im Overdub-Verfahren unabhängig von einander in ihren jeweiligen Heimstudios aufgenommen haben. Knackige Bassläufe, facettenreiche Melodien, funkelnde Akkordflächen, feindosierte Soli und messerscharfe Unisono-Passagen verzahnen sich gekonnt zu entspannten Songs oder abgehangenen Instrumentalnummern, welche die Krautrock-Veteranen als Meister ihres Fachs zeigen. Jetzt hoffen die drei nur noch, dass sie sich zum 50jährigen Bandjubiläum bald wieder zu Auftritten treffen können.  

 

Aktuelles Album:

Kraan –  Sandglass (36Music)

 

 

Friday 25 June 2021

'Geistertöne'-Besprechung in 'Hinterland'

Geistertöne im Hinterland

Miche Hepp über 'Geistertöne'

Jaki Liebezeit (Can) beim Konzert mit Hans-Joachim Irmler (Faust) im Hof des Sigmaringer Kulturzentrums 'Alter Schlachthof', Sommer 2014 (Foto: C. Wagner)


Der Journalist und
Fotograf Miche Hepp betreibt seit Jahren die immer exzellent informierte und hochkompetente website "Hinterland – Musikmagazin für Oberschwaben und 
überall". Die Internetseite kündigt vor allem Konzertauftritte und Festivals im Südwesten von Deutschland an bis ins Grenzland zur Schweiz hinein. Sie ist eine äußerst wichtige Institution und Informationsquelle für die regionale Szene von Hardcore Rock über Jazz bis Folk. Eine Rubrik der Internet-Seite unter der Überschrift 'Lesestoff' ist Buchbesprechungen gewidmet. Hier hat Hepp gerade mein ‘Geistertöne'-Buch rezensiert:



John Tchicai (1936-2012) zu Gast im Faust-Studio in Scheer, 2008 (Foto: C. Wagner)



Thursday 17 June 2021

Podcast-Serie: Accordion Talks

ACCORDION TALKS


Vor einiger Zeit hatte ich das Vergnügen, von zwei jungen, hochmotivierten Damen in Balingen interviewt zu werden, die mehr über meine Akkordeon-Recherchen wissen wollten. Laura Eigbrecht und Tina Feddersen haben jetzt eine Podcast-Serie unter dem Titel "Accordion Talks" gestartet, in der sie einmal im Monat mit unterschiedlichen Akkordeon-Repräsentaten über das Instrument sprechen, dabei Einblicke in sein Milieu, seine Geschichte und Kultur gewähren – unbedingt hörenswert! Nach Saso Avsenik habe ich die Ehre im zweiten Podcast dabei zu sein. 

Hört mal rein:

https://anchor.fm/accordion-talks


Wednesday 2 June 2021

Irène Schweizer@80

 Ja geht’s noch!

 

Die Pianistin Irène Schweizer ist die “Grande Dame” des Schweizer Jazz. Am 2. Juni 2021 wurde sie 80 Jahre alt





 

Mit Volksmusik auf dem Akkordeon hat sie begonnen und ist bei der radikalen Improvisation gelandet. Ein Leben lang ist Irène Schweizer nicht nur musikalisch ihrem eigenen Kompass gefolgt, dabei keinem Konflikt aus dem Weg gegangen. Selbst heute ist sie nicht von Altersmilde geprägt, sondern empört sich noch immer.

 

In Schaffhausen geboren und aufgewachsen. Wie war ihr Weg zum Jazz?

 

Irène Schweizer: Ich bin im Gasthof “Landhaus” hinter dem Schaffhauser Bahnhof groß geworden. Meine Eltern waren beide in der Gastronomie tätig. Wir waren drei Geschwister, alles Mädchen. Mein Vater ist früh gestorben, als ich zehn Jahre alt war. Meine Mutter hat dann den Gasthof mit Hilfe ihrer Geschwister alleine weitergeführt. Es gab dort einen großen Saal im ersten Stock, wo Unterhaltungsabende stattfanden, auch Kindstaufen, Hochzeiten und Vereinsfeste. Es gab dauernd Musik und Tanz. Als ich eines Nachmittags von der Schule kam - ich muß so elf oder zwölf gewesen sein -, probte gerade eine Gruppe. Sie spielte eine Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte mit Saxofon, Kontrabaß, Klavier und Schlagzeug. Das klang fantastisch! Es war das erste Mal, dass ich modernen Jazz hörte. In den fünfziger Jahren war diese Musik total revolutionär. Ich kannte Ragtime, auch Dixieland-Jazz, aber das hörte sich viel viel aufregender an!

 

Was brachte sie zum Klavier?

 

IS: Das passierte auf Umwegen. Ich habe mit acht Jahren Handorgel gespielt, Schweizer Volksmusik: Ländler und solche Sachen. Ich bekam Akkordeonunterricht und war Mitglied im Handharmonikaclub Schaffhausen. Mit dem Verein nahm ich an Umzügen teil, wo wir mit umgeschnallten Akkordeons durch die Straßen zogen. Bei jedem Schulausflug sorgte ich mit der Quetschkommode für Unterhaltung, ob auf dem Schiff oder im Zug. Ich fand das toll! Zu Weihnachten bekam ich dann ein großes Pianoakkordeon. Doch ich war viel zu klein dafür. Das Instrument hat mir überhaupt nicht gepasst. Ich habe mich lieber im Wirtshaussaal ans Klavier gesetzt und einfach gespielt. Das fand ich lässiger. Wir hatten Schellackplatten. Die Boogie-Woogie-Pianistin Winifred Atwell war mein Vorbild. Danach kam Swing, und dann der moderne Jazz mit Dave Brubeck. Ich hatte einen sehr guten Klavierlehrer, der mir Noten mit dieser Musik gegeben hat. Aber am besten habe ich nach Gehör gespielt. Anfangs bei der Dixielandband, The Crazy Stokers, später mit der Hardbop-Combo The Modern Jazz Preachers. Da war ich neunzehn.

 



Auch als Schlagzeugerin haben Sie sich versucht?

 

IS: Im Wirtshaussaal stand oft ein Schlagzeug. Darauf habe ich gespielt. Als ich vierzehn war, wurde ich Schlagzeugerin einer Dixieband. Eine Schlagzeugerin in einer Jazzkapelle war noch exotischer als eine Pianistin. Da haben die Leute geguckt!

 

Wie stieß man auf swingende Musik? Waren in der Schweiz amerikanische Jazzplatten zu haben?

 

IS: Im Westschweizer Radios kam jeden Samstagnachmittag um 17 Uhr eine Jazzsendung. Die war Pflicht. In Schaffhausen gab es außerdem ein Radiogeschäft mit einer kleinen Plattenabteilung. Da gab es Horace Silver, Art Blakey, Bobby Timmons – all die Musiker, die ich bewunderte. Dort habe ich fast mein ganzes Taschengeld hingetragen.

 

Wie sahen die ersten Live-Auftritte aus?

 

IS: Mit den Modern Jazz Preachers sind wir öfters aufgetreten, auch in Singen in Deutschland oder bei Unterhaltungsabenden. Mehrmals nahm ich beim Amateurjazzfestival in Zürich teil und habe prompt Preise gewonnen. Ich bin dann nach Zürich gezogen, weil dort mehr los war. Anfangs habe ich als Sekretärin gearbeitet, erst viel später von der Musik gelebt. Damals war es leicht Arbeit zu finden. Und es blieb noch genug Zeit zum Üben, Proben und Auftreten.

 


 

Wie sah die Clubszene aus?

 

IS: Der beste Club in Zürich Anfang der sechziger Jahre war das “Africana”. Da bin ich oft mit meinem Trio aufgetreten. Mani Neumeier war der Schlagzeuger, Uli Trepte der Bassist. Im Quartett spielten wir mit dem Saxofonisten Alex Rohr. Im “Africana” habe ich den südafrikanischen Pianisten Dollar Brand kennen gelernt, der sich heute Abdullah Ibrahim nennt. Er lebte damals in Zürich und trat oft auf. Bald kam eine andere Band aus Südafrika dazu: die Blue Notes um Chris McGregor, die später nach London zogen. Es war eine fantastische Zeit!

 

Gab es damals noch andere Jazzmusikerinnen?

 

IS: Nein! Ich war immer die einzige Frau. Auch später, Ende der sechziger Jahre, bei den Total Music Meetings in Berlin, wo ich mit den wildesten Freejazzern gespielt habe, war ich als Frau immer allein auf weiter Flur. Jazz war eine Männerbastion. Ich war die Ausnahme, die die Regel bestätigte. 

 

Wie kamen Sie zum Freejazz, zur freien Improvisation?

 

IS: 1966 hörte ich in Stuttgart den amerikanischen Freejazzpianisten Cecil Taylor. Das hat mich total umgehauen. Ich war sprachlos. Ich hatte noch nie so etwas gehört. Es war ein existenzieller Schock. Ich habe gedacht: ‘Das ist gar nicht möglich, so Klavier zu spielen!’ Ich gab danach das Klavierspielen eine Zeit lang auf, weil mir das unerreichbar schien. Später kam ich darauf zurück.

 

Gab es derartige Selbstzweifel häufiger?

 

IS: Nur einmal noch. Ende der fünfziger Jahre besuchte ich eine Sprachschule in England. Danach arbeitete ich als Au-Pair in London. Ich nahm Unterricht beim blinden Jazzpianisten Eddie Thompson, bei dem ich Jazz-Standards lernte. Eine superbe Schule! Meine Abende verbrachte ich im Ronnie Scott’s Jazzclub, der fast mein zweites Zuhause wurde. In der Royal Albert Hall hörte ich eines Tages das John Coltrane Quartet mit Eric Dolphy. Die Leute verließen scharenweise das Konzert, weil die Musik so radikal war. Mich hat es fast aus den Socken gehauen! Ich hatte nicht den leistesten Schimmer, was die machten. Das war jenseits von allem, was ich wusste und kannte. Ich empfand das Konzert total inspirierend, aber auch absolut frustrierend, weil ich mir nicht vorstellen konnte, jemals auf einem solchen Niveau musizieren zu können. Ich habe das Coltrane Quartet 1962 noch einmal in Zürich erlebt, als es im Volkshaus auftrat.

 

Wie haben Sie den Schock verarbeitet?

 

IS: Mein Quartett mit Alex Rohr orientierte sich an Coltrane, der ja Mitte der sechziger Jahre anfing, frei zu improvisieren. Wir griffen das auf. Als meine Rhythmusgruppe in die Rockmusik abwanderte und Guru Guru gründete, habe ich nach neuen Musikern Ausschau gehalten. Beim Jazzfestival in Montreux traf ich den Schlagzeuger Pierre Favre, was zu einer Zusammenarbeit führte, die bis heute andauert. Favre hatte damals einen Job bei der Cymbal-Firma Paiste in Nottwill: Drummer Service! Ich wurde seine Sekretärin. Wir konnten während der Arbeit spielen, wann immer wir wollten. Es war ideal. 


Mit Evan Parker und Peter Kowald im Pierre Favre Quartett, 1969 (Foto: privat)

 

Wann warf das Musikmachen genug ab, um davon leben zu können?

 

IS: Ich habe noch lange gejobt, als Sekretärin, Schreibarbeiten gemacht. Das war in Ordnung, hat mich musikalisch nicht eingeschränkt. Damals hatten wir nicht jeden Tag ein Konzert. Und überhaupt wollte ich nicht dauernd spielen. Das habe ich nicht angestrebt. Der Brotjob gab mir eine gewissen Freiheit. Ich musste nicht jedem Auftritt hinterher rennen, nur des Geldes wegen. Bei Kollegen habe ich gesehen, wie verheerend das sein konnte. 


Wie war die soziale Situation im Jazz damals?

 

IS: Rosiger als heute! Inwischen verdienen JazzmusikerInnen ja fast nichts mehr. In der Schweiz ist es noch etwas besser als in Deutschland, etwa in Berlin. Dort spielen MusikerInnen nahezu umsonst. Das mache ich nicht mit: Ich trete nur noch auf, wenn ich ordentlich bezahlt werde. Lieber zehn gut bezahlte Konzerte im Jahr, als fünfzig schlecht bezahlte. Dazu kommt: Das Reisen macht mir im Alter keinen Spaß mehr. Das ist Strapaze! Ich bin vierzig Jahre rumgereist für ‘nen Appel und ‘n Ei – das brauche ich nicht mehr.

 

Wenn ein Konzert ansteht, wie sieht die Vorbereitung aus?

 

IS: Es kommt darauf an, mit wem ich spiele und welche Art von Jazz. Mit dem Schlagzeuger Pierre Favre spiele ich frei, schon fast fünfzig Jahre - da braucht es keine Vorbereitung mehr. Wenn Kompositionen gespielt werden, etwa mit dem Saxofonisten Jürg Wickihalder, dann wird fleißig geprobt. Bei einem Solokonzert spiele ich an den Tagen davor ein bisschen, einfach damit die Finger laufen. Früher habe ich jeden Tag gespielt. Wenn mich die Leute heute fragen ‘Wieviel übst Du?’ sage ich: ‘Gar nicht!’ Mit anderen Musiker zu proben - das reicht! Da geht es mir wie dem holländischen Jazzmusiker Misha Mengelberg, mein Lieblingspianist und großes Vorbild. Er hat lieber Schach gespielt, um seine Sinne zu schärfen und sich so auf ein Konzert vorbereitet. Auf mein erstes Konzert in der Zürcher Tonhalle 2011 habe ich mich sechs Monate lang in Venedig eingestellt. Da habe ich fast jeden Tag gespielt, mich intensiv mit dem Instrument befasst. Ich habe auch einen Flügel zu Hause, aber auf dem spiele ich nicht. Ich gehe auswärts, um zu spielen. Daheim zu spielen, widerstrebt mir.


1975 mit John Tchicai (Foto: privat)




 

Verfolgen Sie weiterhin die Entwicklungen im Jazz, gehen Sie in Konzerte?

 

IS: Schon, wenn ich jemanden hören will. Es heisst, ich sei die einzige Musikerin, die intensiv Konzerte besucht. Das war bei mir immer so: Ich wollte alles hören! Ich bin in alle Konzerte. Selbst viele junge Musiker gehen heute kaum noch in Konzerte. Sie haben keine Zeit. Sie sitzen daheim vor dem Computer und müssen komponieren oder fürs Musikdiplom lernen. So entwickelt man kein Ohr. Oft haben sie keine Ahnung von der Jazzgeschichte. Sie kennen die stilprägenden Musiker nicht. Ich halte nicht viel von Jazzhochschulen, von der Akademisierung der Jazzmusik. Die Studenten lernen dort alle dasselbe und spielen dann alle dasselbe. Es tritt ja höchstens alle paar Jahre einer hervor, der sich abhebt. Ich persönlich hatte nie eine formale Ausbildung. 90 Prozent von dem, was ich kann, habe ich mir selber beigebracht, abgeguckt, erarbeitet. Learning by doing! Heute geht es um Abschlüsse, um ein Hochschulzertifikat. Aber hat denn jemals schon ein Konzertveranstalter nach einem Zertifikat gefragt. Lächerlich! Am Ende müssen all die diplomierten Jazzmusiker unterrichten, um über die Runden zu kommen. Das ist bizarr!

 

In der Schweiz hat es lange gedauert, bis sie Anerkennung erhielten?

 

IS: Mein Konzert im KKL in Luzern 2005 hat da einiges bewirkt. Es war das erste Jazzkonzert in diesem Tempel der klassischen Musik, noch vor Keith Jarrett. Bis vielleicht Mitte der achziger Jahre war ich in Berlin, Paris oder London bekannter als in der Schweiz. Als ich mit fünfzig den Zürcher Kunstpreis erhielt, trug das zur Akzeptanz bei. Auch das Jazzfestival in Willisau hat geholfen. Dort bin ich seit 1975 um die 25 Mal aufgetreten. Schon beim ersten Festival in Willisau war ich mit einer internationalen Band dabei. Das hat mich allmählich in der Schweiz bekannt gemacht. Entscheidend war außerdem das Plattenlabel Intakt Records, das ab Mitte der achtziger Jahre kontinuierlich meine Arbeit mit Veröffentlichungen dokumentierte. Zuvor hatte das deutsche Label FMP (Free Music Production) ein paar LP’s herausgegeben, die jedoch nirgends in der Schweiz erhältlich waren. Mit Gleichgesinnten haben wir das Veranstalterkollektiv “Fabrikjazz” gegründet und das Taktlos-Festival aus der Taufe gehoben, das anfangs nicht nur in Zürich, sondern auch in Basel und Bern stattfand und von dem wichtige Impulse ausgingen. Es bot eine Plattform fürfrei improvisierte Musik, die zuvor kaum ein Forum in der Schweiz hatte.


 

Sie sind mit einer Reihe von hochkarätigen Piano-Schlagzeug-Duetten hervorgetreten?

 

IS: Das erste war ein Duo mit dem südafrikanischen Drummer Louis Moholo, den ich noch aus Zürich aus den sechziger Jahren kannte. Patrik Landolt von Intakt Records hatte die Idee, daraus eine Serie zu machen. Ich habe dann mit einigen den besten Jazzdrummern der Welt gespielt: Andrew Cyrille, Han Bennink, Günter Sommer, Pierre Favre, Hamid Drake. 2015 beim Zürcher “Unerhört”-Festival mit

Joey Barron. Das Faszinierende an den Duetten mit den Drummern ist, dass ich ja selber Schlagzeug spiele. Vielleicht klingt deshalb mein Klavierspiel so perkussiv. 

 

Hat sich im Alter ihr Verhältnis zur Musik verändert?

 

IS: Heute gehe ich gelassener mit der Musik um. Es macht mir noch immer Spaß, doch die Dringlichkeit hat nachgelassen. Ich muss heute nicht mehr unbedingt mit dem und dem spielen. Ich habe ja mit vielen der besten Jazzmusiker weltweit gespielt, vor allem auch mit vielen Afroamerikanern. Dass diese Musiker mich akzeptiert haben, macht mich schon ein bisschen stolz. 

 

Sie haben sich immer mit Nachdruck für Frauen im Jazz stark gemacht. Hat sich die Situation verbessert?

 

IS: Ja, aber bei weitem noch nicht genug. Ich habe schon früh darauf geachtet, dass bei Konzerten oder Festivals genügend Frauen berücksichtigt wurden. Da hat sich viel zum Positiven gewendet. Die Jazzwelt ist heute keine reine Männerdomäne mehr. Dass das diesjährige Schaffhauser Jazzfestival ausschließlich Gruppen von Bandleaderinnen präsentiert, wäre noch vor nicht allzu langer Zeit undenkbar gewesen.

 

Sie sind nicht nur Musikerin, sondern haben sich auch immer als politisch handelnde Person verstanden: als Linke, Feministin und Lesbe. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige politische Situation?

 

IS: EU-Krise, Flüchtlingskrise, Terrorismus, Neo-Nazismus, das Aufkommen des Rechtspopulismus - das kann mich alles nicht glücklich stimmen. Da wird mir eher Angst und Bange. In der Schweiz schürt die SVP Ressentiments und Vorurteile. Ich hätte es mir nie träumen lassen, dass es dahin zurückgeht. Diese Rollback-Tendenzen machen mich krank: Frauen zurück an den Herd! Ja geht’s noch! Wenn das so weiter geht, fürchte ich wieder Repressionen gegen Homosexuelle. Rußland und Ungarn gehen dabei voran. Das macht mir Sorgen. Heute habe ich gelegentlich Angst, was ich früher nie hatte. Im Vergleich zu heute waren die sechziger Jahre die Revolution. Damals waren wir politisch in der Offensive. 

 

Sollten sich Musiker und Künstler mehr politisch einmischen?

 

IS: Jeder sollte sich politisch mehr einmischen! Das war für mich persönlich immer wichtig, dass ich öffentlich Position beziehe. Und das habe ich auch gemacht, wahrscheinlich hätte ich es noch mehr tun sollen. Ich war in der HFG engagiert, in der homosexuellen Frauengruppe. Wir gaben die Zeitung “Lesbenfront” heraus. Wir sind auf Demos gegangen, haben Lobbyarbeit gemacht, am 8. März den Internationalen Frauentag organisiert, auch beim Christopher Street Day mitgewirkt. Trotzdem ist die aktuelle Situation ja nicht komplett trostlos. Es gibt mehr und mehr junge Frauen, die sich politisch äußern und einmischen. Das gibt mir einen Funken Hoffnung.

 

Aktuelle CD:

Irène Schweizer / Hamid Drake: Celebration (Intakt)


Buch:

Christian Broecking: Dieses unbändige Gefühl der Freiheit. Irène Schweizer – Jazz, Avantgarde, Politik (Broeckingverlag, 480 S.)


Das Interview wurde 2016 aus Anlaß des 75. Geburtstags von Irène Schweizer geführt und erschien in der Wochenzeitung (WoZ) 

JAZZPODIUM: GEISTERTÖNE review


 Susanne Müller hat im aktuellen Jazzpodium das 'Geistertöne-Buch' besprochen: