Wednesday 12 April 2023

Zum Tod von Karl Berger (30. März 1935 – 9. April 2023)

Erkundungen in Klang und Rhythmus

 

Mit dem Creative Music Studio machte der deutsche Jazzmusiker KARL BERGER in den siebziger Jahren in den USA Furore – sein Einfluss wirkt bis heute 




 

Interview von Christoph Wagner

 

Karlhanns Berger gehörte zu der Handvoll von Musikern, die den modernen Jazz in Westdeutschland etablierten. Der Vibrafonist und Pianist knüpfte Kontakte zu amerikanischen Improvisatoren, um Ende der sechziger Jahre nach New York zu ziehen. Anfang der siebziger Jahre gründete er mit seiner Frau, der Vokalistin Ingrid Sertso, das Creative Music Studio in Woodstock in Upstate New York, eine freie Musikakademie in privater Trägerschaft, die zu einem Zentrum der internationalen Jazz-Avantgarde wurde.  Musiker wie Ornette Coleman, Don Cherry, Anthony Braxton, Jack DeJohnette, Lee Konitz und Frederic Rzewski unterrichteten dort. Neben seinen Aktivitäten als Jazzmusiker und Pädagoge, hat sich Berger als Arrangeur einen Namen gemacht. Er war an Produktionen von Popstars wie Jeff Buckley, Natalie Merchant und Angelique Kidjo beteiligt.

 

Sie waren zu Beginn ihrer Karriere eng mit dem ‘Cave 54’ in Heidelberg verbunden. Welche Bedeutung hatte dieser Jazzclub für Ihre musikalische Entwicklung?

 

Karl Berger: Das ‘Cave’ war ein ganz spezieller Club. In Heidelberg war ja das Hauptquartier der amerikanischen Truppen und im Umland befanden sich jede Menge militärische Stützpunkte, die alle ihre eigenen Bands hatten. In diesen ‘Army-Bands’ spielten einige hervorragende Jazzmusiker: der Schlagzeuger Lex Humphries, der Pianist Cedar Walton, auch Don Ellis und Carlos Ward. Im ‘Cave’ war faktisch jeden Abend eine Session. Es war, als wäre man in New York. Ich war klassischer Pianist, hatte schon ein bisschen improvisiert und gehörte im ‘Cave’ zur Hausband. Das bedeutete, dass ich jeden Abend – außer montags – sechs bis sieben Stunden mit diesen amerikanischen Musikern jammte.

 

Welchen Erfahrungen machten Sie dabei?

 

Karl Berger: Es war wie eine Erleuchtung, von diesen Musikern aus erster Hand zu lernen. Es gab ja damals kein Material, um Jazz zu erlernen, keine Noten - nichts! Umso fantastischer war die Möglichkeit, mit amerikanischen Jazzmusikern zu spielen. Die Leute, die in diesem Keller auftraten, verfügten über ein Repertoire an Standards, die man auf der Bühne lernte. Wir spielten oft bis fünf Uhr morgens. Das ‘Cave’ war ein Studentenclub und immer voll. Auch früh morgens war noch Publikum da.

 

Wie schafften Sie den Sprung auf die nationale und wenig später auf die internationale Bühne?

 

Karl Berger: 1960/61 holte mich der österreichische Saxofonist Hans Koller in seine Band. Neben der Gruppe von Albert Mangelsdorff war das die einzige Band auf der deutschen Szene, die auch international auftrat. Wir waren beim Antibes Jazzfestival und in Paris – überall! 

 

Sie begannen als Pianist, wie kamen Sie zum Vibrafon?

 

Karl Berger: Ich hatte auf dem Konservatorium in Heidelberg klassisches Piano studiert. Das Vibrafon war eher ein Spielzeug, das zum Klavier dazu kam. In Heidelberg war ein Vibrafonist, der sein Instrument im ‘Cave’ stehen hatte und nur ein oder zwei Mal in der Woche zum Spielen in den Keller kam. Weil das Klavier im Club immer verstimmt war, habe ich angefangen, auf diesem Vibrafon zu spielen. Was mir besonders gefiel: Man konnte sich beim Vibrafonspielen bewegen. Auf Tour mit Hans Koller traf ich in Frankreich den Vibrafonisten Michel Hausser. Von ihm kaufte ich das Instrument, das ich heute noch spiele. 

 

Sie kamen in Kontakt mit dem Kornettisten Don Cherry, damals ein Leuchtstern der Jazz-Avantgarde…

 

Karl Berger: Ich traf Don Cherry in Paris im Buttercup Café, das von der Frau de Jazzpianisten Bud Powell betrieben wurde. Ich erkannte ihn vom Foto auf dem Ornette Coleman Album ‘This is our music’. Dann habe ich etwas gemacht, was ich noch nie gemacht hatte und seither auch nicht mehr wieder getan habe: Ich ging einfach zu ihm hin, stellte mich vor und sagte, dass ich gerne mit ihm spielen würde. Er sagte: ‘Okay, die Probe ist morgen um halb fünf.’ Und nannte mir den Ort. Nach dieser Probe habe ich die nächsten drei Jahre fast jeden Abend mit Don Cherry gespielt. Wir begannen im ‘Chat Qui Peche’, einem wichtigen Jazzclub, wo ich zuvor schon mit Woody Shaw, Chet Baker, Nathan Davis und anderen Musikern aufgetreten bin.


Karl Berger Anfang der 1970er Jahre (Foto: Jörg Becker)

 

Gab es Dünkel der amerikanischen Jazzmusiker gegenüber den deutschen Kollegen?

 

Karl Berger: Nicht im Geringsten! Die einzige Frage war, ob jemand spielen konnte. In Deutschland gab es gute Musiker, etwa Hartwig Bartz, das war der Schlagzeuger im ‘Cave’. Der stand für Qualität! Die amerikanischen Jazzmusiker aus der Armee waren ja alle noch sehr jung - so um die zwanzig. Die hatte keine Allüren.

 

Wie kamen Sie in die USA?

 

Karl Berger: Mit Don Cherry! Er hatte einen Vertrag mit der Plattenfirma Blue Note und sollte in New York das Album ‘Symphony for Improvisers’ aufnehmen. Ornette Coleman hatte für uns ein Konzert in der New York Town Hall organisiert und wir spielten außerdem im Jazzclub ‘Five Spot’. Ich blieb eine Zeitlang in den Staaten, kehrte dann aber wieder nach Deutschland zurück, um eine permanente Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Die nächsten eineinhalb Jahre lebten meine Frau und ich wieder in Heidelberg, bis wir eine ‘green card’ für die USA bekamen. Ich hatte damals eine Band mit dem Schlagzeuger Allen Blairman, dem Bassisten Peter Kowald und meiner Frau Ingrid Sertso.

 

Viele europäische Jazzmusiker wie z.B. Albert Mangelsdorff schreckten vor dem Sprung nach Amerika zurück. Waren Sie mutiger? 

 

Karl Berger: Nein, es hat sich eher so ergeben. Ich sah, dass viele der kreativsten Musiker damals aus den USA kamen. In Europa war die Szene sehr klein. In den sechziger Jahren konnte man die vergleichbaren modernen Jazzmusiker in Deutschland an zwei Händen abzählen. Allerdings sahen wir auch, unter welchen schlimmen Bedingungen die Jazzmusiker in den USA lebten und welchen geringen Stellenwert der Jazz dort in der Gesellschaft besaß. Das war erschreckend! Zum Glück fand ich gleich einen Job. Wir traten regelmäßig in Schulen auf. Unsere Band bestand aus dem Saxofonisten Sam Rivers und Reggie Workman am Baß. Manchmal saß Chick Corea am Piano. Diese regelmäßigen Schulkonzerte halfen anfangs, über die Runden zu kommen. Durch die Auftritte kam mir die Idee des Creative Music Studios. Wir spielten vor zwölfjährigen Schülern und sahen, dass sie völlig unvoreingenommen an unsere Musik herangingen. Ich erkannte, dass jeder Mensch eigentlich offen ist, was Sound angeht und Musik überhaupt. Und dass die Kategorien, in die man Musik zwängt, erst später im Leben auftauchen. Es wurde mir klar, dass da viel Freiraum ist, um Musik anders zu lernen, anders als sie überlicherweise in Schulen gelehrt wird.

 

Als sie das Creative Music Studio in Woodstock im Bundesstaat New York gründeten, war es da schwer, Lehrkräfte unter ihren Musikerkollegen zu finden?

 

Karl Berger: Überhaupt nicht – im Gegenteil. Alle verstanden sofort, um was es ging. Jedem war klar, dass die Kategorien,  Musik in verschiedene Schubladen einzuteilen, von der Industrie erfunden wurden zur Verkaufsförderung. Musiker denken nicht so, deshalb verstand jeder sofort unseren umfassenden Ansatz.

 

Und wie wurden die praktischen Dinge im Creative Music Studio organisiert? Unterkunft, Proberäume?

 

Karl Berger: Wir hatten zuerst ein großes Haus, das früher eine Scheune war. Da gab es einen großen Raum, wo die Sessions stattfanden. Die Teilnehmer waren außerhalb untergebracht und die Dozenten, die am Anfang unterrichteten wie Anthony Braxton, Jack DeJohnette oder Dave Holland, die wohnten alle sowieso in der Umgebung von Woodstock. Und von New York City ist es ja nicht allzu weit: nur zwei Stunden mit dem Auto, also leicht erreichbar.

 

Was war die übergreifende Idee?

 

Karl Berger: Die Grundidee ging von der Frage aus: ‘Was machen wir als frei improvisierende Musiker eigentlich?’ Freie Musik machte für uns Sinn. Vom Feeling her war es gar keine Frage, dass spontane Improvisation funktionierte. Wir wollten herausfinden, warum das so ist. Und wenn man über Musik nicht in Stilen denken will, also hier Klassik, da Jazz, dort Rock, dann stellt sich die Frage: ‘Was ist aller Musik auf der Welt gemeinsam?’ ‘Was ist die gemeinsame Wurzel?’ Dem wollten wir in der Praxis auf den Grund gehen, ohne in stilistischen Schablonen zu denken. In den Jazzlehrprogramme an Musikhochschulen, von denen es damals noch nicht viele gab, wurden die Studenten immer sofort in einer bestimmten Stilistik trainiert. Das war, wie wenn man beim Hausbau mit dem ersten und zweiten Stock beginnen würde, anstatt mit dem Fundament und Erdgeschoß. Unsere ersten Erkundungen betrafen Sound und Rhythmus - die Grundelemente alle Musik. 


Karl Berger (Mitte) mit Don Cherry (rechts) (Sammlung C. Wagner)


 

Wie schlug sich dieses Prinzip im Lehrprogramm nieder?

 

Karl Berger: Ich habe ein Programm entwickelt namens ‘Basic Practice’, in welchem wir die Prinzipien praktizierten, die unabhängig sind von jeder Art von Stilistik. Das fängt an mit Rhythmik, Dynamik, mit Sound und Obertönen, mit Harmonik. Damit beschäftigten wir uns praktisch, nicht theoretisch. Man erfährt dadurch, dass es eigentlich einen Ton gar nicht gibt. Es gibt nur Sound, der sich auch nie wiederholt und dem man im Spiel auf den Grund gehen kann. Erst in diesem Prozeß kann sich eine persönliche Stilistik entwickeln. Da finden Musiker heraus, wie sie mit diesen Dingen umgehen. Daraus entsteht dann die Eigensprache jedes Musikers. Selbst wenn man danach in speziellen Stilistiken spielt, merkt man, dass dieser Eigencharakter immer präsent ist. Das macht einen Musiker erkennbar. Darauf kam es mir an.

 

Was war das Verhältnis von Einzel- und Gruppenunterricht?

 

Karl Berger: Am Vormittag beschäftigten wir uns mit ‘Basic Practice’. Da haben wir rhythmische Übungen gemacht zum Teil sogar ohne Instrumente, danach Oberton-Übungen usw. Am Nachmittag haben die Dozenten mit den Studenten gearbeitet - drei oder vier Stunden. Es wurden Kompositionen erarbeitet, wobei jeder Dozent nach seiner eigenen Methode vorging. Das erzeugte gelegentlich etwas Verwirrung, was ich ‘creative confusion’ nannte, denn wenn Lee Konitz unterrichtete, wurde etwas ganz anderes erzählt, als wenn Anthony Braxton an der Reihe war. Die Studenten nannten wir Teilnehmer, weil die Lehrkräfte auch von ihnen lernten. Der dritte Teil war dann abends und in der Nacht, wo die Teilnehmer unter sich ihre eigene Musik entwickelten. Das Ganze wurde am Wochenende in Konzerten aufgeführt und auch aufgenommen. Es gab zwei Konzerte pro Woche. Am Freitagabend stellten die Teilnehmer mit den Dozenten ihre Musik vor und am Samstag spielten die Dozenten miteinander in allen möglichen Kombinationen und präsentierten außerdem ihre eigenen Kompositionen mit den Studenten.

 

Waren die Konzerte nur für die Beteiligten gedacht oder auch für die Allgemeinheit bestimmt?

 

Karl Berger: Die Konzerte waren öffentlich und fast immer voll. Es kam ganz normales Publikum, nicht nur Jazzfans. In unserem ersten Haus waren wir nur ein Jahr. Dann zogen wir in ein größeres Gebäude und danach in ein Motel mit zwanzig Hektar Land und sechs Häusern sowie einem Hauptgebäude, wo auch ein Konzertsaal war mit Aufnahmestudio. Das hat sich rasend entwickelt.


Karl Berger & Kirk Knuffke, 2015 (Youtube)



Wie war der Zuspruch?

 

Karl Berger: Dadurch, dass das Creative Music Studio so einzigartig war, wurden unsere Pressemitteilungen überall abgedruckt und dadurch kamen genügend Studenten.

 

Wie sah die finanzielle Situation des ‘Creative Music Studios’ aus?

 

Karl Berger: Wenn Jimmy Carter 1980 Präsident geblieben wäre anstelle von Ronald Reagan, dann wären wir heute noch dort. Aber die ‘Reaganomics’ haben uns die Luft abgedreht. Unter Carter konnten wir selber Studentenvisas ausstellen, was es einfach machte, für Studenten aus Europa zu kommen. Ungefähr die Hälfte der Teilnehmer kam aus Europa. Hunderte von jungen Musikern nahmen an Kursen teil, ob aus Japan, Südamerika oder Europa – von überall her. Gelegentlich waren die amerikanischen Studenten in der Minderheit. Als Reagan an die Macht kam, war es damit vorbei. Die Studenten aus Europa konnten jetzt nur noch quasi illegal als Touristen einreisen.  

 

Ging es mit dem Creative Music Studio trotz Reaganomics weiter?

 

Karl Berger: Ja, wir versuchten weiterzumachen und haben dadurch eine Menge Geld verloren. An den Schulden zahlen wir heute noch ab.

 

Sind Sie eigentlich amerikanischer Staatsbürger geworden?

 

Karl Berger: Nein. Da geht es mir wie Wim Wenders , der einmal sagte: Je länger ich hier bin, desto weniger bin ich Amerikaner!  Wir haben einen Wohnsitz in Deutschland in der Nähe von Frankfurt und sind regelmässig dort. Ich bin Mitglied der Union deutscher Jazzmusiker und war zehn Jahre in Frankfurt a. M. an der Musikhochschule tätig, wo ich eine Professur hatte. Es war für uns seit Mitte der achziger Jahre eine sehr gespaltene Angelegenheit: ‘Wo sind wir zu Hause?’ ‘Wo wohnen wir eigentlich?’  Ich nutze die Arbeitsmöglichkeiten auf beiden Kontinenten so gut ich kann  Das Arbeitsfeld für improvisierende Musiker  hat sich drastisch verändert. Viele der besten Musiker sind zwischen den Kontinenten unterwegs. Ich konzentriere mich auf die neue Phase der Creative Music Studio Workshops und biete auch mehr Workshops in Europa an, bisher hauptsächlich in der Schweiz. Ich glaube, dass Workshops, in Verbindung mit Konzerten, die sich auch an Laien und potentielle Hörer richten, immer wichtiger werden und auch gefragt sind. In diesem Bereich will ich mich in Deutschland mehr engagieren. Wir arbeiten an einer  Neugründung der Creative Music Foundation in Deutschland, die es ja in den 70er Jahren schon einmal gab.  

 

Gibt es aktuelle Projekte?

 

Karl Berger: Ich war in das Eric Dolphy-Projekt ‘So long, Eric!’ involviert, das unter der Leitung von Alexander von Schlippenbach und Aki Takase im Juni 2014 zu Dolphys 50. Todestag stattfand. Dolphy starb 1964 in Berlin. Meine Frau Ingrid Sertso und ich haben damals in Berlin das letzte Konzert mit ihm gespielt. Wir hatten ihn Jahre zuvor im ‘Chat Qui Peche’ in Paris kennengelernt und luden ihn für die Eröffnung des Jazzclubs ‘Tangente’ nach Berlin ein. Er kam, konnte aber nur noch an einem Abend spielen - drei Tage später war er tot. Er starb an einer unerkannten Diabetis. Darüber hinaus leite ich weiterhin das Karl Berger Improvisers Orchestra, das seit 2011 über 70 Aufführungen absolvierte, immer mit Workshop-Anteil. Das Orchester besteht aus 20 bis 30 professionelle Musiker aller Instrumentalgruppen. Daneben führen wir die Arbeit in Woodstock fort mit Creative Music Studio Workshops zweimal im Jahr. 


 

Weitere Informationen: www.creativemusicfoundation.org

 

 

Tuesday 11 April 2023

Wer hat das präparierte Klavier erfunden?

PRÄPARIERTES KLAVIER

Wer hat das präparierte Klavier erfunden – John Cage 1940 oder ein Musiktüftler aus Bern mehr als 150 Jahre früher?

Das präparierte Klavier erlebt im Moment einen beachtlichen Popularitätsschub: Fast könnte man sagen, es ist in der populären Musik angekommen. Ob Hauschka, Nils Frahm und die Grandbrothers oder im zeitgenössischen Jazz Kris Davis, Benoit Delbecq und Philip Zoubek – alle arbeiten mit Klangmanipulationen im Inneren des Flügels.

In den Lexikas heisst es immer JOHN CAGE habe 1940 das präparierte Klavier erfunden, indem er mit dem Anbringen kleiner Gegenstände zwischen den Saiten, deren Klang veränderte. Ein historisches Fundstück aus der KARLSRUHER ZEITUNG vom 18. Juli 1787 erzählt eine andere Geschichte:


Mit den "süßen Tönen der Harmonika" ist wohl die Glasharmonika gemeint, die von Benjamin Franklin 1761 erfunden worden war. Mundharmonika und Handharmonika entstanden erst später, in den 1820er Jahren.



In Bern konnte der "Klaviermacher" Georg Adam Kyburz als Urheber des ersten präparierten Klaviers ermittelt werden. In der Musikalischen Real-Zeitung vom 22. Juli 1789 heisst es auf Seite 237:

" Es giebt auch Forte-Piano's, die von einem gewissen Mechaniker Kyburz in Bern verfertigt werden, woran die eigentliche Harmonika vermittelst eines breiten unten etwas holen mit Meßing eingefaßten Stabes, der aufs pünktlichste über den gebogenen Steg auf dem Resonanzboden einpassen muß, sehr gut angebracht ist. Dieser Stab kann dann durch einen andern, der durch den Resonanzboden durchsticht mit dem Fuß ein wenig gedrukt werden: so fällt er plötzlich in seine gehörige Ordnung und man hat auf einmal eine herrliche Imitation einer Harmonika. Allein, da der breite Stab etwas schwer ist: so kann durch öfteren Gebrauch ein solches Instrument, das ganz nach englischer Art gearbeitet ist, bald Schaden leiden."

Sunday 9 April 2023

Wie der Blues nach Südwestdeutschland kam

Bluesmetropole Urach

 

Vor 50 Jahren begann eine Konzertreihe, die Urach für fünf Jahre zu einer Blues-Metropole machte – Stars wie John Lee Hooker und Memphis Slim gaben sich ein Stelldichein

 



 

cw. In den 1960er und 1970er Jahren begeisterte Blues die Jugend. Rockbands wie die Rolling Stones oder Fleetwood Mac gaben den Anstoß. Sie ahmten schwarze Bluesmusiker wie B. B. King, John Lee Hooker oder Muddy Waters nach und brachten den Sound von den Baumwollfeldern aus dem amerikanischen Süden oder den Nachtclubs von Chicago in jede Teenager-Bude.

 

Auch in Bad Urach hatte der Blues seine Anhänger. Der größte Fan war Walter Gassner. Der Vorsitzende des Stadtjugendrings war von den Klängen aus dem amerikanischen Süden so begeistert, dass er deren Protagonisten unbedingt in Bad Urach präsentieren wollte.

 

Und ihm gelang das Kunststück. Zwischen 1973 und 1978 holte er eine beachtliche Riege afro-amerikanischer Sänger, Gitarristen und Pianospieler zu Konzertauftritten nach Urach: von akustischem Countryblues über Boogie Woogie bis zu elektrischem Rhythm & Blues, und von Blind John Davis über Willie Mabon bis zu Big Joe Williams, nicht zu vergessen Bukka White, der einst B. B. King das Gitarrenspiel beigebracht hatte. 

 

Gassner hatte den Ehrgeiz, internationale Bluesstars, die sonst nur in Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Frankfurt gastierten, den Fans in der schwäbische Provinz vorzustellen. Manche der Konzerte wurden zu Riesenereignissen und lockten – wie im Fall von Memphis Slim –  800 Zuhörer aus nah und fern an. Blues war in Urach Stadtgespräch. „In dem über zweistündigen Konzert, in dessen Pause der AFN Stuttgart Memphis Slim interviewte, muß man dem sehr sachverständigen Publikum wieder wie in all den vorhergehenden Blues-Veranstaltungen ein großen Kompliment machen. Es nahm das Gebotene voll auf, ging mit und machte am Ende des jeweiligen Vortrags seiner Begeisterung mit viel Applaus Luft,“ lobte die Lokalzeitung. 


Sonny Terry & Brownie McGhee, Urach 7.6.1975 (Photo: Sammlung C. Wagner)



 

Alle paar Monate fand zwischen 1973 und 1978 ein Blueskonzert statt, was den Name Urach bald in der Chicagoer Bluesszene zu einem Begriff machte. Dort im fernen Germany gäbe es eine begeisterte Fangemeinde, die vom Blues nicht genug bekommen könnte, erzählten sich die Musiker nach ihrer Rückkehr. Während sie daheim in verlotterten Kneipen vor kleinem Publikum spielten, wurde ihnen in Urach ein königlicher Empfang bereitet: Sie wohnten in adretten Hotels, wurden gut verköstigt und als Stars gefeiert. 

 

Zu einem besonderen Höhepunkt avancierte der Auftritt von John Lee Hooker am Sonntag, 20. Juni 1976 – als „Blues Super Knaller” und „größter Spitzenknüller” angekündigt. „Dem Stadtjugendring Urach ist mit der Verpflichtung von John Lee Hooker ein großer Wurf gelungen. Es liegt nun mit bei den Bluesfans, dieses Risiko zu honorieren,” wurde in der Lokalpresse die Werbetrommel gerührt.

 

Wegen des vermuteten großen Andrangs war man vorsorglich in die neu errichtete Ermstalhalle gezogen. Dort musste der Fußboden allerdings mit einer Plastikplane abgedeckt werden aus Angst vor einer Beeinträchtigung des Belags. „Außerdem bittet die Stadtverwaltung alle Besucher, möglichst mit Turnschuhen zu kommen und vor allem das Rauchverbot in der Halle zu beachten. Gleichzeitig hofft die Stadtverwaltung wie der Veranstalter, daß die Besucher des Konzerts nicht irgendwelche mutwilligen Beschädigungen verursachen, damit es der Stadt möglich ist, auch in Zukunft Großveranstaltungen in der Ermstalhalle durchzuführen,” lautete ein Appell an die Bluesfans in der Lokalpresse.

 

Allerdings stand der Auftritt von John Lee Hooker unter keinem guten Stern. Nach Freiburg, Köln und Frankfurt sollte der Bluesgigant am 20. Juni 1976 in Urach gastieren, was sich als Tag des Endspiels der Fußball-Europameisterschaften herausstellte. Um einen Flop zu vermeiden, wurde der Beginn des Konzerts von 20 Uhr abends auf 16 Uhr nachmittags vorverlegt, was sich für die vielbeschworene Bluesatmosphäre als nicht günstig erwies. Unter den nur etwa 500 Fans – man hatte eigentlich Tausend erwartet – wollte in der kahlen Sporthalle kein richtiges Blues-Feeling aufkommen. Das konnte kaum verwundern, war doch der Saal von sommerlichem Sonnenlicht durchflutet, welches durch die mächtige Fensterfront einfiel, vor der die Bühne aufgebaut worden war. Von schummrigem Bluesambiente keine Spur, Lichtjahre entfernt von einem rauchigen Bluesclub irgendwo an einer staubigen Landstraße im Süden der USA oder auf der Southside von Chicago. 


Volle Säle beim Blues in Urach, 1975 (Sammlung C. Wagner)



 

Doch das war nicht die einzige Enttäuschung. Auch der Blues von John Lee Hooker klang anders als die Klänge, die man erwartet hatte. Hooker spielte weder den akustischen Countryblues, noch den elektrischen Rhythm & Blues, sondern einen Blues moderneren Zuschnitts, der Stilelemente aus Soul, Rock und Funk aufgenommen hatte, was den jugendlichen Besuchern gar nicht passte. Das Publikum wollte „unverfälschten“ Blues hören: „Gemessen an seinen Schallplatten erfüllte John Lee Hooker die in ihn gesetzten Erwartungen als Bluesmusiker keineswegs, zumal viele Teile eher als „Soul“ zu bezeichnen waren“, kritisierte die Lokalzeitung. 


 

Der jugendliche Konzertveranstalter Walter Gassner ließ sich von der Kritik nicht entmutigen und organisierte auch nach dem Flop weitere Bluesauftritte. 1978 fuhr er sein Engagement beim Stadtjugendring allerdings zurück, was das Ende der Konzertreihe bedeutete. Fünf Jahre lang hatte Bad Urach als Bluesmetropole geglänzt.


Der Artikel erschien zuerst im GEA - Reutlinger Generalanzeiger

 

Wednesday 5 April 2023

B.B. King Biographie

Der König des Blues

Eine dickleibige Biographie beleuchtet das Leben von B. B. King, ist jedoch nicht ohne Mängel


B.B. King (Promofoto by Glen Craig)



 

cw. Aus ärmlichsten Verhältnissen stieg er zum Superstar des Blues auf, gefeiert von einer Legion von zumeist weißen Popgrößen, die ihn bewunderten und nachahmten. Das machte B. B. King zu einem der einflußreichsten schwarzen Musiker im 20. Jahrhundert und zum Vorbild einer ganzen Generation von Rockgitarristen.

 

Seine Kindheit erscheint als undurchdringliches Gestrüpp widersprüchlicher „Wahrheiten“. Fest steht, dass Riley King, wie B. B. King eigentlich hieß, 1925 im Mississippi Delta in eine arme Familie von Baumwollfarmern hineingeboren wurde und nach der Trennung der Eltern und dem Tod der Mutter größtenteils bei Verwandten aufwuchs. Bretterhütten ohne fließendes Wasser und elektrisches Licht waren sein Zuhause, eine Zahnbrüste unerschwinglicher Luxus. Als King zum ersten Mal einer Toilette aufsuchte, wusste er nicht, wie die Wasserspülung funktioniert.

 

Riley Kings Welt war der Blues. Er kannte die „Field Holler“, mit denen auf den Baumwollfeldern Nachrichten übermittelt wurden. Der Priester in der Kirche griff im Gottesdienst ekstatisch zur Gitarre, dazu kam Bukka White, ein älterer Cousin und Bluesmusiker, dessen gelegentliche Besuche Kings Interesse an der Gitarre weckten. Auf dem Grammophon spielte die Tante Schellackplatten von Blind Lemon Jefferson und Bessie Smith, wobei dem kleinen Riley besonders das flüssige Bluesjazz-Gitarrenspiel von Lonnie Johnston gefiel. 

 

Im Alter von elf Jahren bekam er von einem Onkel eine Gitarre geschenkt, auf der er intensiv nach der Feldarbeit übte. Mit 14 trommelte King seine erste Band zusammen, eine Vokalgruppe nach dem Vorbild des Golden Gate Quartets. Eine zweite Gruppe, die Famous St. John Gospel Singers, folgte ein paar Jahre später, wobei er jetzt mit seiner Gitarre die Sänger begleitete. Der Radius ihrer Auftritte vergrößerte sich, dazu kamen gelegentliche Solo-Darbietungen auf der Straße, was mehr einbrachte als die Feldarbeit. 

 

Nach einem Traktorunfall floh der junge Mann aus Angst vor Schadenersatz nach Memphis. Tagsüber arbeitete er als Schweißer, abends machten er mit seinem Vetter Bukka White Musik. Gelegentlich traten die beiden bei Wettbewerben auf. 1949 landete B. B. King – wie jetzt der „Blues Boy“ genannt wurde – einen täglichen „Slot“ im Radio. 

 

Schritt um Schritt arbeitete er sich nach oben. Bald zählten B. B. & His Blues Boys zu den Matadoren der Musikszene von Memphis. Im neueröffneten Studio von Sam Phillips nahm der Gitarrist eine erste Platte auf, ein paar Jahre bevor Elvis dort seine Karriere begann. Schon Kings nächste Einspielung schaffte es in die Rhythm & Blues-Charts. Touragenten klopften an und offerierten Gagen, die Appetit aufs Showgeschäft machten. Doch Geld war ein Problem. King gab es mit vollen Händen aus. Bald stand ein teurer Cadillac vor der Tür, und Unsummen wurden beim Glücksspiel verzockt. An die 40 Millionen Dollar sollen es im Laufe seines Lebens gewesen sein, weshalb der Bluessänger oft vor der Pleite stand, obwohl er gut verdiente.


B.B. King "live" at Sing Sing Prison, 1972 (youtube)



 

King ließ die Spelunken hinter sich und trat in Theatern und größeren Auditorien auf. Doch auf Gastspielreise ein Hotel zu finden, war für schwarze Musiker in Zeiten der Segregation nahezu unmöglich, weshalb die Band meistens im Tourbus schlief. Die Dauertourneen wurden zum Alltag, mit all den Wirrnissen aus zuviel Alkohol, Frauengeschichten und Querelen mit betrügerischen Promotern.

 

Als die schwarze Bürgerrechtsbewegung gegen den alltäglichen Rassismus auf die Barrikaden gingen, hielt sich B. B. King bedeckt. Politisch war er ein Leisetreter. Lieber überwies er heimlich Geld zur Finanzierung von Demonstrationen und Kampagnen, als öffentlich für eine Sache einzutreten. 

 

B.B. Kings Gitarrenspiel wurde ungestümer, sein Sound lauter und klarer. Wenn King sein Instrument, das er liebevoll „Lucille“ nannte, mit markanter Tremelo-Technik singen ließ, drang aus den Lautsprechern ein warmer Sound, der seinen Stil unverkennbar machte. „Butterfly“ nannte er diese Technik, bei der seine Finger beim Vibrato-Spiel wie die Flügel eines Schmetterlings flatterten. 


v.ln.r: Mick Jagger, Keith Richards, B.B. King (Promofoto by Glen Craig)



 

Mitte der 1950er Jahre wurde der Blues vom „Rock ‘n‘ Roll“ überrollt. B. B. Kings Erfolgssträhne erhielt eine erste Delle. Er verkleinerte seine Band und steigerte sein Pensum auf 300 Auftritten pro Jahr. Erfolge weißer Rockgruppen wie der Rolling Stones oder Cream entfachten in den 1960er Jahren neues Interesse am schwarzen Blues und machten B. B. King einem weißen Publikum bekannt. Im Hippietempel Filmore West in San Francisco wurde er von den Blumenkindern gefeiert.

 

Im Vorprogramm der Rolling Stones tourte King 1969 durch Amerika und festigte seinen Ruf, der wohl beste Gitarrist im Blues zu sein, bewundert von Keith Richards, Jeff Beck und Eric Clapton. Mit „The Thrill Is Gone“ gelang ihm ein Hit. Jetzt stieg seine Erfolgskurve so hoch wie nie zuvor. Unterstützt von Popstars nahm er 1971 das Album „B. B. King in London“ auf mit Beatle Ringo Starr am Schlagzeug.

 

Der Höhenflug hielt nicht all zu lange an, und seine Flirts mit den jeweils neusten Moden im Pop klangen wenig überzeugend. Ehrungen glichen die Flops aus. Gitarrenmodelle erhielten seinen Namen, eine erste Biographie erschien, Grammys und die Aufnahme in die Rock ‘n‘ Roll Hall of Fame trugen zur Nobilitierung bei. In seiner einstigen Heimatstadt Indianola wurde ein B. B. King-Museum eröffnet.




 

Sein Manager fädelte Plattenaufnahmen mit Popgrößen wie U2 ein, um dem künstlerischen Stillstand und kommerziellen Sinkflug zu entgehen. Kings Musik wurde mehr und mehr zum Relikt der Vergangenheit, versinnbildlicht durch den von Krankheit gezeichneten Gitarristen, der jetzt seine Konzerte nur noch mühsam sitzend auf einem Stuhl bestritt. 2015 verstarb B. B. King im Alter von 89 Jahren. 

 

Der amerikanische Autor Daniel De Visé zeichnet den Lebensweg des Königs der Bluesgitarristen mit detailversessener Akribik nach, wobei er die Geschichte des Blues gleich mitliefert, mit zahllosen Anekdoten garniert. Selbst Trivialitäten bis hin zu abgeschmackten Witzen des Meisters wird Platz eingeräumt, was das Buch um einiges zu umfangreich geraten läßt. Auch werden sexistische Prahlereien und ein peinliches Frauenbild vom Autor völlig unkritisch kolportiert, als sei die „Me-Too“-Kampagne am Rockjournalismus spurlos vorübergegangen.

 

 

Daniel De Visé: King of the Blues – Aufstieg und Regentschaft des B. B. King. (Aus dem amerikanischen Englisch von Holger Hanowell). Reclam Verlag; 697 Seiten mit ein paar Fotographien. 36.– Euro

 

Sunday 2 April 2023

Ryuichi Sakamoto (1952-2023)

Musik wie ein Schaumbad

Zum Tod des Synthipop-Pioniers, Filmkomponisten und Ambient-Pianisten Ryuichi Sakamoto

 






Im Dezember vorigen Jahres machte eine Hiobsbotschaft die Runde: Ryuichi Sakamoto kündigte sein letztes Konzert an, da er ein zweites Mal an Krebs erkrankt sei. Wie er seinen Fans mitteilte, könne er keinen 90 minütigen Auftritt mehr absolvieren, dafür sei er schon zu schwach, weshalb er jeweils immer nur ein einziges Stück aufgezeichnet und jetzt alle Titel zu einem Online-Konzert zusammengefügt hätte. Mit dem Wunsch „Enjoy!“ endete die Nachricht. Im Januar diesen Jahres veröffentlichte Sakamoto dann noch ein neues Album mit dem Titel „12“, was sein letztes sein sollte. Am 28. März ist der Musiker 71jährig seiner Krankheit erlegen. 


Es waren vor allem Filmmusiken, die Sakamoto bekannt machten, wobei er 1983 in „Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence“ neben David Bowie auch als Schauspieler zu sehen war. Ob in Filmen wie „Himmel über der Wüste“, „Little Buddha“ oder „Der letzte Kaiser“, für dessen Soundtrack er einen Oscar erhielt, immer gelang es Sakamoto sich atmosphärisch voll auf das jeweilige Werk einzulassen, was den Regisseur Alejandro González Iñárritu zu dem Kompliment veranlaßte: „Ich brauchte einen Komponisten, der Stille versteht. Da war Ryuichi Sakamoto erste Wahl.“ 


 

Mit Stille kannte sich Sakamoto aus. Als Solokünstler war er ein Spezialist für ruhig dahinfließende Sounds, inspiriert von Claude Debussy. Oft breitete er weite Klangflächen aus, in die man versinken konnte, und die er mit sparsam hingetupften Pianotönen garnierte, was ihn neben Brian Eno und Harold Budd zu einem führenden Vertreter der Ambient-Musik machte. Die isländische Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir empfand seine Musik schlicht als „zeitlos“.

 

Allerdings besaß Sakamoto viele Gesichter. International gestartet war er Ende der 1970er Jahren mit dem Yellow Magic Orchestra (YMO), das zum asiatischen Äquivalent der Elektropopgruppe Kraftwerk wurde. Das YMO setzte alles ein, was digitale Geräusche von sich gab von piepsendem Kinderspielzeug bis zu den Sounds der Computerspiele. Zwischen Musik und Geräuschen machte Sakamoto keinen Unterschied. Für ihn war alles Material, aus dem man Songs formen konnte, wobei er sich mit dem YMO auch nicht fürchtete, sich in die Nähe des Banalen und Profanen zu begeben.  


 

„Cosmic Surfin‘“ hieß ein Titel des Yellow Magic Orchestras, was die ästhetische Vision der Gruppe umriß und auf eine Synthese zwischen Weltraumklängen und Surf-Beat hinauslief. Als „Synthipop“ wurde der Stil etikettiert, der in Japan wahre Begeisterungsstürme auslöste. Aus dem Yellow Magic Orchestra, das als Studioprojekt begonnen hatte, wurde mit der Zeit eine äußerst populäre „Live“-Band und Sakamoto zu einem gefragten Kooperationspartner der internationalen Popelite, bewundert u.a. von David Sylvian, David Byrne und Flying Lotus.

 

Ein starkes Interesse an elektronischem Instrumentarium hatte der 18jährige bereits während seines Studiums an der Kunsthochschule von Tokio entwickelt. Fasziniert von den Möglichkeiten synthetischer Sounds experimentierte Sakamoto ab 1970 mit frühen Synthesizer-Modellen, eine Leidenschaft für technologische Neuerungen, die sein ganzes Leben lang anhielt.

 

Mit dem Alter wurde Sakamoto immer leiser. Sein aktuelles Album, das 23ste, enthält ein Dutzend Kompositionen – eine versunkener als die andere. Die Stücke tragen jeweils das Entstehungsdatum als Titel, das letzte „20220404“ war fast genau vor einem Jahr entstanden. Manchmal bildet nur ein Meeresrauschen den Background für die fast schwerelosen Klaviermelodien, die Sakamoto so spärlich setzt, als käme es auf jede Note an. Und genau darum ging es ihm, um die Wertschätzung eines jeden einzelnen Tons.


Ryuichi Sakamoto: 20220304 vom Album "12" (youtube)