Thursday 28 December 2023

Scheibengericht 25: Kraan - Zoup

 Altersfrische   

 „Zoup“ das neue Album von KRAAN



 

 cw. Meistens waren sie zu viert, zeitweise auch ein Quintett. Heute sind Kraan auf ihren Urkern mit Hellmut Hattler (Baßgitarre), Jan Fride (Schlagzeug) und Peter Wolbrandt (Gitarre) zusammengeschmolzen. Für jede dieser Besetzungen in der Bandgeschichte wurde jeweils ein passendes Konzept gefunden. So hat sich die Band – ursprünglich aus Ulm stammend, in den 1970ern als Bandkommune auf dem abgelegenen Hofgut Wintrup am Rande des Teutoburger Walds lebend – über die Jahre immer wieder gehäutet, wobei sie sich momentan in einer recht produktiven Phase befindet. Wie ihr neues Album „Zoup“ dokumentiert, steht Kraan mittlerweile für eine abgehangene Rockmusik, die – meist instrumental – sehr organisch, entspannt und selbstverständlich daherkommt und einen natürlichen Flow besitzt.

 

In über fünf Jahrzehnten als Profimusiker haben sich die drei zu ausgefuchsten Instrumentalisten und hochkarätigen Solisten entwickelt, die mit abgeklärter Souveränität agieren. Drummer Jan Fride sorgt mit kraftvollem Trommelspiel, eng verzahnt mit Hellmut Hattlers druckvollem Baß, nicht nur für ordentlich Drive, sondern für eine Grundierung, die Gitarrist Peter Wolbrandt für die Ausbreitung einer enormen Palette an Sounds zu nutzen weiß. Von schillernden Akkorden über psychedelische Sphären-Klänge bis zu den synkopischen Rhythmen schwarzer Funkmusik bringt Wolbrandt viel Unterschiedliches wohldosiert in die Musik ein.

 

Gelegentlich erhöht Hattler, von dem alle zehn Stücke des neuen Albums stammen, mit wuchtigen Baßläufen die Temperatur, wobei er bisweilen wie ein zweiter Gitarrist klingt. Als Gastmusiker steuert Martin Kasper bei ein paar Stücken delikate Synthi-Einwürfe bei, und zur Überraschung tritt Ur-Kraan-Saxofonist Johannes Pappert sowie der 2019 verstorbene Keyboarder Ingo Bischof jeweils bei einem Stück noch einmal in Erscheinung.


KRAAN zu dritt (Promo-Foto)



 

Singbare Melodien, kantige Riffs, prägnante Unisono-Passagen und mächtige Grooves verdichten sich zu einem raffiniert verzahnten Spiel, das manchmal in metallisch funkelnde Klangfelder mündet, dann wieder in eine eingängige Melodie übergeht, deren Hookline sich in den Ohren verfängt. 

 

Kraan haben als Trio zu einem eigenständigen Stil gefunden, der sich nicht in aufgewärmter Krautrock-Nostalgie ergeht. Weder rückwärtsgewandt, noch revolutionär, destillieren sie aus bekannten Elementen einen Sound, der so süffig wie einprägsam ist. Respekt vor so viel Altersfrische!

 

Kraan: Zoup (36music / Broken silence)


Kraan: Plain Vanilla (youtube)




Sunday 24 December 2023

AUGEundOHR 31: Cimbalom-Orchester vom Balkan, ca. 1925

Es ist auf dem ganzen Balkan verbreitet, doch in Ungarn gilt das Cimbalom als Nationalinstrument. Bei dem Saiteninstrument handelt sich um ein großes Hackbrett, das über alle Töne und Halbtöne verfügt und mit Fußpedalen ausgestattet ist, was Dämpfereffekte und Klangmutationen erlaubt. Das Instrument wird mit kleinen Filzklöppeln gespielt und ist für allen unter Roma-Musikern beliebt. Hier sieht man zwei Cimbaloms als Teil eines größeren Orchesters mit Geigen, Klarinetten und zwei Kontrabässen. Der Geiger vorne in der Mitte ist wohl der Bandleader.
 

Saturday 23 December 2023

50 Jahre "Musicland" in Albstadt-Tailfingen

Ein Wald aus Schlagzeugen, eine Wand aus Gitarren 

 

Das Tailfinger „Musicland“ feiert 50jähriges Bestehen – Hans Herter hat das Musikgeschäft zu einer Institution der südwestdeutschen Popszene gemacht

 





Bei uns jungen Rockmusikern aus Balingen sprach sich die Nachricht im Herbst 1973 schnell herum: In Tailfingen hätte ein Musikgeschäft aufgemacht, das Schallplatten, aber auch Gitarren und Verstärker verkaufen würde. Also fuhren wir hin, um den Laden in Augenschein zu nehmen,  weil unser Balinger Musikalienhändler, Herr Ohnmacht, mit aktuellen Rockmusik nichts, aber auch gar nichts am Hut hatte. So habe ich 1973 Hans Herter kennengelernt, gelernter Industrie-Kaufmann, der sein kleines, unscheinbares Lädchen in einer Nebenstraße in Tailfingen betrieb. 

 

Was Herter damals anderen Musikhändlern voraus hatte: der Mann hatte Ahnung, spielte selber Gitarre in einer Rockband, nämlich bei Äxepäxe, und wußte, was die Szene brauchte. Hansi war einer von uns. Mit seinem Geschäft für Bandequipment traf er einen Nerv der Zeit und füllte eine Marktlücke, weshalb der Laden auch schnell expandierte. Bald zog er in ein Haus an der Straße von Pfeffingen am Hang von Langenwand herab, was es im Winter manchmal bei vereisten und verschneiten Straßen nicht leicht machte, dort hin zu gelangen.  

 

Meistens hingen ein paar Burschen aus dem Umfeld von Äxepäxe in den Verkaufsräumen herum, wo sich immer mehr Equipment – Verstärker, Drum-Kits, Gitarren und Keyboards – stappelte. Unterm Dach wurde ein Studio eingerichtet, im Keller probte nach Geschäftsschluß Äxepäxe. 


Lustpfropf, ca. 1975, mit mir selbst am Schlagzeug






Als Drummer war ich immer wieder dort, um mein Instrumentarium zu vervollständigen. Auch die anderen Musiker unserer Balinger Jazzrockband Lustpfropf kauften im „Musicland“ ein – wie das Geschäft inzwischen hieß. Mehr und mehr wurde Herters Laden ein Begriff für junge Rock-, Pop- und Tanzmusiker aus der näheren und weiteren Umgebung. Brauchte man einen Verzerrer, ein Wah-wah-Pedal oder ein Crash-Becken, ging es nach Tailfingen, denn einen vergleichbaren Laden gab damals wohl nur noch in Stuttgart. Und Herter machte einem immer einen fairen Preis.

 

Auch für die Konzert-Initiative ZAK-Musik (ZollernAlbKreis-Musik) wurde das Musicland angesteuert, wenn wir in den 70ern mit Flyern und Plakaten Auftritte von Embryo, Missus Beastly, Sahara, Aera, Kickbit Information, Zomby Woof oder Munju publik machen wollten. Hans Herter war ein williger Abnehmer unseres Werbematerials, wobei er mit Äxepäxe auch einmal in der Balinger Eberthalle als Headliner eines halben Dutzends lokaler Bands auftrat. 


Und dann half mir Herter zweimal echt aus der Patsche: Für das erste Konzert unseres neugegründeten Balinger Kulturvereins Mitte der 1980er Jahre mit dem experimentellen Gitarristen Peter Cusack aus London mussten wir ein „Tape“ für Zuspielmusik beschaffen. Erst am Nachmittag stellte sich heraus, dass damit kein Cassettendeck gemeint war, sondern ein vierspuriges Tonbandgerät, die es zu diesem Zeitpunkt kaum mehr gab. Panisch haben wir es zuerst am Balinger Gymnasium versucht. Wir wußten, dass dort im Musiksaal ein Uher-Tonbandgerät stand, dass sich allerdings – so ein Scheiß! – als zweispurig herausstellte. Was nun? Hans Herter wurde zum Retter in der Not und lieh uns die besagte Maschine aus, sodaß das Konzert auf den letzten Drücker doch noch ordnungsmäßig stattfinden konnte.


Peter Cusack – Bouzouki, Gitarre (Foto: Carolyn Forbes)






Als wir dann ab 1987 mit dem Kulturverein die „Balinger Sommersprossen“ in der kleinen Siechenkirche beim Balinger Krankenhaus veranstalteten, verlangte der New Yorker Schlagzeuger Jerome Cooper (Rahsaan Roland Kirk, The Revolutionary Ensemble usw.) ein Drum-Kit mit Naturfellen – aber woher ein so seltenes Teil nehmen? Ein Besuch im Musicland, jetzt schon im mehrstöckigen Flachdach-Gebäude beim Tailfinger Bahnhof daheim, brachte aus der hintersten Ecke im Keller ein Schlagzeug mit Naturfellen zum Vorschein. Hans Herter erwies sich zum zweiten Mal als Retter in der Not.

 


 

Die Auswahl an Instrumenten, die im Musicland zum Verkauf standen, wurde immer  atemberaubender. Dem Laden kann heute im südwestdeutschen Raum wohl niemand das Wasser reichen. Herter hat sein Geschäft seit langem zur ersten Adresse gemacht, wenn es um den Kauf eines Popinstruments geht. Jede Instrumentengruppe wird auf einer ganzen Etage präsentiert, wobei außer Gitarren, Keyboards und Schlagzeugen, ein ganzes Stockwerk den Blasinstrumente vorbehalten ist. Will man einen Musikunkundigen einmal schwer beeindrucken, empfehle ich einen Besuch im Tailfinger Musicland. Vor dem Wald aus Schlagzeugen und der Wand aus Gitarren bekommen Unbedarfte oft den Mund kaum mehr zu.

 

Und immer stand bei Herter die Fachberatung im Vordergrund. Ahnungslose Verkäufer wird man hier nicht finden, sondern ausschließlich Experten – oft hochversierte Musiker –, die wissen, wovon sie reden.  

 

Mit Werbeauftritten bekannter Musiker trug das Musicland zudem zur Bereicherung der nicht gerade übersprudelnden Musikkultur in Albstadt bei. Ich erinnere mich an einen fulminanten Auftritt des Session-Drummers Curt Cress (Passport, Ike & Tina Turner usw.), der eine halbstündige Kostprobe seines Könnens gab und sich dabei etwas in die Karten gucken ließ. Ungefähr 60 ambitionierte junge Drummer hockten auf dem Boden vor dem Trommelstar, der es ordentlich rocken ließ, aber auch die unbequeme Wahrheit verbreitete, dass es ohne tägliches stundenlanges Üben – leider! – nicht geht.


Hans Herter mit Sohn Marc Herter




Gerade feiert Hans Herter mit dem Musicland 50jähriges Bestehen, was eine beeindruckende Lebensleistung ist. Das Musicland hat für viele Musiker Tailfingen überhaupt erst auf die Landkarte gesetzt. Darüber hinaus würde die Popszene der Region um einiges ärmer dastehen, hätte es Herter und das Musicland nicht gegeben. Matthias Zumbroich, einstiger Keyboarder der Bombast-Rockgruppe Zomby Woof aus Reutlingen, hat erst neulich in einem Telefongespräch beiläufig erwähnt, sein ganzes Equipment in Tailfingen beschafft zu haben. Hans Herter hat – wie schon etliche mittelständische Unternehmen vor ihm – den Beweis erbracht, dass man sich nicht in den urbanen Zentren ansiedeln muß, um Erfolg zu haben – im Gegenteil: Die Provinz bietet offenbar ein paar unbestreitbare (Standort-)Vorteile. Man muß sie nur zu nutzen wissen.


Wie man hört, wird, wenn der Senior einmal aufhört, sein Sohn den Laden weiterführen. Es ist also für Kontinuität gesorgt, auch wenn wir für den Balinger Kulturverein das "Back-Up" nicht mehr brauchen. Unser Verein hat sich vor 30 Jahren aufgelöst.

 

Monday 18 December 2023

Music Jokes 9: Pauline Oliveros – LEGO set

Pauline Oliveros (1932 – 2016) war eine amerikanische Avantgarde-Komponistin, Synthesizer- und Akkordeoninstrumentalistin und Botschafterin des "Deep Listening". 2005 hat sie für mein Buch "Auge und Ohr / Ear and Eye – Begegnungen mit Weltmusik / Encounters with World Music" (Schott / Edition Neue Zeitschrift für Musik) einen Beitrag über "Rodeo in Houston - The Accordion Club of my Childhood" verfasst.




 Buch: AUGE & OHR

Sunday 10 December 2023

Jazz-Futurismus: Das DLW-Trio

The Music formerly known as Jazz

Das Trio Dell-Lillinger-Westergaard (DLW) greift weit über den Jazz hinaus

 

Dell-Lillinger-Westergaard (Foto: Nino Halm)


cw. Kann Musik ihrer Zeit voraus sein? Wenn das möglich ist, dann trifft es gerade auf das Trio Dell-Lillinger-Westergaard zu. 2021 hat die Berliner Gruppe mit dem Album „Beats“ einen Pflog eingeschlagen. Auf innovative Weise schafften es die drei Musiker, Techniken der DJ-Culture, mit vertrakten Grooves sowie Fragmenten aus Jazz und der avantgardistischen E-Musik zu verschalten, was einen Sound aufleuchten ließ, der momentan als einer der aufregendsten Entwürfe der „Music formerly known as Jazz“ gelten kann. 

In den zwölf Jahren ihres Bestehens haben Dell-Lillinger-Westergaard, die auch unter dem Kürzel DLW firmieren, ein einzigartiges Konzept entwickelt, das auf Repetition und Differenz basiert. Der Ausgangspunkt für ein Stück bildet stets ein einzelner Takt, der rhythmisch verschachtelt und trancehaft wiederholt wird, bis kleinste Unregelmäßigkeiten auftreten, die festgeschrieben und kreativ weiterverarbeitet werden. Aus dieser „Überlagerungskombinatorik“ (Christopher Dell) entspinnt sich ein Perpetuum-Mobile-artiger Flow, der auf Schallplatte durch Klangverfremdungen und Cut-Up-Techniken noch radikalisiert wird. 

Christopher Dell (Jahrgang 1965), mit einem Background in Philosophie, der im Zweitberuf Architekturtheorie lehrt, ist der intellektuelle Kopf der Gruppe. Zwischen seinem ersten Album 1988 mit dem Bujazzo, dem deutschen Bundesjazzorchester, und der aktuellen Einspielung des DLW-Trios liegen nicht nur 35 Jahren, sondern Welten – Klangwelten! 


Christopher Dell (Foto: Astrid Ackermann)




 

Nach einem Studium beim Vibrafonisten Gary Burton am renommierten Berklee College of Music in Boston, kehrte Dell nach Deutschland zurück, um mit Saxofonaltmeister Heinz Sauer und Schlagzeug-Größe Wolfgang Haffner zu musizieren. Danach begann für den Vibrafonisten die langwierige Erkundung einer Idee, die ihn immer weiter weg vom amerikanischen Jazz und tiefer hinein in die Gefilde der europäischen E-Musik-Avantgarde führten, ein Paradigmenwechsel, den er mit Christian Lillinger (Drums) und Jonas Westergaard (Bass) noch entschiedener vollzog. „Als Europäer schwebte mir eine andere Form von Jazz vor als die amerikanische,“ beschreibt Dell seinen Standpunkt.

Die Abkehr vom amerikanischen Modell fand allerdings nicht im Zeitraffer statt, sondern war eine kollektive, langwierige, intellektuelle und praktische Anstrengung. „Unser Konzept ist nur durch unablässiges Proben als Gruppe zu erreichen,“ erklärt Dell. „Die Musik muß ins Unterbewußtsein eingehen, in den Körper und die Motorik übergehen, sonst funktioniert es nicht.“ Die drei nutzten die Zwangspause der Pandemie, um sich in intensivste Probearbeit zu stürzen, war doch plötzlich ein Übermaß an Zeit vorhanden. Dell ist sich sicher: „Unter normalen Bedingungen hätten wir das nie geschafft!“ 

Die unermüdliche Übungspraxis setzt einen starken Glauben an die gemeinsame Kunstmission und ein hohes Maß an Pflichtbewußtsein voraus, was in der Jazzszene heute alles andere als üblich ist, kommen Musiker doch meistens nur recht flüchtig für eine paar Auftritte zusammen. Anders Dell-Lillinger-Westergaard: Seit zwölf Jahren besteht die Formation in derselben Besetzung, wobei nur für spezielle Projekte Gastmusiker herangezogen werden, ob der Violinist Mat Maneri, die Pianistin Tamara Stefanovich oder die E-Musik-Avantgardisten vom Klangforum Wien. 


Dell-Lillinger-Westergaard & Brecht – live / Evangelische Stueler Kirche, Peitz (Youtube)




 

Solche langjährige Hingabe an ein einziges Bandprojekt ist selten, weil nicht leicht mit dem Leben als Jazzmusiker zu vereinbaren, da man – gerade in Berlin – in vielen Gruppen aktiv sein muß, um finanziell über die Runden zu kommen. Als hochgefragte Musiker der dortigen Szene sind Dell, Lillinger und Westergaard in etliche Seitenprojekte involviert. Vor allem der junge Schlagzeug-Star Christian Lillinger brennt vor Energie und hält gleich mehrere Bandprojekte am Laufen, ob das Trio Punkt.Vrt.Plastik, das Quartett Amok Amor oder das Duo mit dem Tastenmusiker Elias Stemeseder. Daneben spielt er außerdem in einer Supergruppe mit dem Keyboard-Meister Michael Wollny und dem französischen Saxofonstar Émile Parisien zusammen. Trotz all der Aktivitäten gelingt es Dell-Lillinger-Westergaard immer wieder, Auszeiten fürs Proben zu finden.

 

Zur Ensemblearbeit kommt das Solospiel. Da die Arbeit in der Gruppe für Christopher Dell immer Vorrang hatte, haben erst Konzertanfragen ihn zu einem Soloprogramm inspiriert. Ganz Methodiker, schuf der Vibrafonist zuerst unter der Überschrift „Monodosis“ einen Rahmen, um die Sache nicht zerflettern zu lassen. Mit dem Terminus „Fond“ werden die einzelnen Stücke bezeichnet, die durch das Entstehungsdatum oder die Nummer der Schallplatte, auf der sie erschienen sind, einen formelhaften Titel erhalten. 

 

Wie andere Leute Frühgymnastik machen, tritt Dell jeden Morgen an sein Instrument, um den Tag mit einer ersten Übungssession zu beginnen. „Es werden Spieltechniken ausgelotet, sowie die Klangmöglichkeiten des Vibrafons erforscht,“ erklärt er. Sein oszillierend-flirrender Sound, dem das Psychedelische von Natur aus eingeschrieben zu sein scheint, macht das Vibrafon als Schlaginstrument einerseits extrem konkret und körperlich, gleichzeitig hochgradig abstrakt, kurzum: zum idealen Klangerzeuger eines Stroms schwebender Töne, die feinnervig wuchern, sich verästeln und verzweigen und so die ganze Klanglichkeit des Vibrafons zum Vorschein bringt. Für den Berliner Musiker hat die jahrelange „musikalische Recherchearbeit“ Früchte getragen. Seine „neue Neue Musik“ (Dell) ist, ob im Solospiel oder bei DLW, wenn nicht ihrer Zeit voraus, so doch vollkommen einzigartig.  

 

Dell-Lillinger-Westergaard: Beats 2 (Plaist)

Dell-Lillinger-Westergaard: Extended Beats (bastille musique; erscheint im Herbst 2023)

Christopher Dell: Monodosis III (Edition Niehler Werft)


Der Text erschien zuerst in der Neue Zürcher Zeitung (NZZ)

 

 

Monday 4 December 2023

AUGEundOHR 30: Ägyptische Jugendblaskapelle, ca. 1920

Ägyptische Jugendblaskapelle, ca. 1920

Mit dem kolonialen Militär und der christlichen Mission verbreitete sich die Blasmusik von Europa aus auf der ganzen Welt. Bei dieser Blaskapelle aus Ägypten handelt es sich vermutlich um das Jugendorchester einer christlichen Mission. Solche Kapellen waren oft einer Missionsstation angeschlossen, wobei die Mission die ganze Bandbreite an Blasinstrumenten leihweise zur Verfügung stellte. Die Mitglieder haben sich für das "photo shooting" fein gemacht und ihre beste Kleidung angelegt. 


 

Thursday 30 November 2023

Buchbesprechung: Peter Kemper – Sound of Rebellion

Widerstand

Die politische Geschichte des afroamerikanischen Jazz

 Jazz Composers' Guild, New York City 1964



 

cw. Wenn ein Buch „The Sound of Rebellion“ heißt, an wen denkt man da? Joan Baez, Gil Scott-Heron, vielleicht Ton Steine Scherben? Peter Kemper schlägt eine andere Richtung ein, die der Untertitel „Zur politischen Ästhetik des Jazz“ andeutet: Auf 750 Seiten geht es (fast) ausschließlich um die Widerstandsgeschichte des schwarzen Jazz in den USA.

 

Achtzehn Kapitel umfaßt das Buch, die chronologisch jeweils eine andere Musikerpersönlichkeit ins Zentrum rücken. Duke Ellington, Billie Holiday, Max Roach und Abbey Lincoln werden behandelt, auch Charles Mingus, Sun Ra, Albert Ayler und John Coltrane portraitiert, um mit Kamasi Washington, Matama Roberts und Moor Mother in der Gegenwart zu landen. Kempers Fragestellung ist immer dieselbe: Wie setzten bzw. setzen sich afroamerikanische Jazzmusiker und -musikerinnen mit der rassistischen Diskriminierung auseinander? 

 

Das Buch beginnt mit Louis Armstrong, der durch seine Erfolge zuerst zum Stolz der afroamerikanischen Community wurde, dann aber durch Anbiederungen an die weiße Mehrheitsgesellschaft bei Rassismus-Kritikern in Ungnade fiel, die er allerdings durch ein einziges Interview eines Besseren belehrte. Darin klagte der schwarze Jazztrompeter aus New Orleans den amerikanischen Präsidenten der Untätigkeit im Streit um den Schulzugang schwarzer Kinder an, sprich: der Komplizenschaft mit weißen Rassisten, wobei er auch im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung nicht bereit war, die Anschuldigungen zurückzunehmen.  

 

Andere Kapitel erweitern den Blickwinkel und beschreiben Organisationsversuche schwarzer Gegenmacht. Im Kapitel über das Art Ensemble of Chicago wird die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) erwähnt, eine Musikerselbsthilfeorganisation, die 1965 in Chicago gegründet wurde. Ähnliche Ziele verfolgte die Jazz Composers‘ Guild, die ein Jahr zuvor in New York die „October Revolution in Jazz“ ausgerufen hatte. Kemper widmet ihr ein ganzes Kapitel und zeichnet die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten nach, benennt Widersprüche und gegenseitige Animositäten, die letztlich zum raschen Verfall der Guild führten, während die AACM bis heute besteht. 


 

Das Buch ist eine Riesenleistung, auch wenn man nicht jede Einschätzung teilt und auf so manche Abschweifung zugunsten einer detaillierteren Betrachtung etwa von Rahsaan Roland Kirk gerne verzichtet hätte, der sich als blinder Schwarzer nicht auf „Planet Earth“ sondern auf „Plantation Earth“ wähnte. Faktensicher entfaltet Kemper das Thema in äußerst profunder und detaillierter Form, ohne den kritischen Blick auf die Protagonisten zu verlieren, wobei am meisten verblüfft, in welch souveräner Manier er als „alter weißer Mann“ (Kemper) durch dieses identitätspolitsch stark verminte Gelände pirscht – Chapeau! 

 

Peter Kemper: The Sound of Rebellion – Zur politischen Ästhetik des Jazz. 752 Seiten, 81 Abbildungen; Reclam Verlag; 38.- Euro


Marion Brown im französischen Fernsehen, 1967 (Youtube)



Cecil Taylor Unit 1969 'live' in Kopenhagen mit Andrew Cyrille (dr), Sam Rivers (tenor-sax) und Jimmy Lyons (alt-sax) (Youtube)



Zum Tod von Shane MacGowan (25. Dezember 1957 – 29. November 2023)

Irischer Punk-Rebell

 

Schon länger schwer angeschlagen, ist Pogues-Sänger Shane MacGowan jetzt im Alter von 65 Jahren gestorben. Das Weihnachtslied „Fairytale of New York“ bleibt sein großes Vermächtnis

 



cw. Das eigentliche Wunder ist, dass er überhaupt so alt wurde. Schon seit langem war Shane MacGowan von seinem einst ausschweifenden Lebenswandel schwer gezeichnet. Die Jahre im Dauer-Delirium von „Streams of Whiskey“ (Songtitel) und Heroin hatten seine Gesundheit ruiniert. Jetzt ist der Sänger der irischen Folkpunkgruppe The Pogues verstorben. Der Song „Fairytale of New York“, den er im Duett mit Kirsty MacCall sang, gilt als sein bleibendes Vermächtnis. Das Lied wurde zum Evergreen und modernen Weihnachtslied schlechthin, was MacGowan zu einer weltweit bekannten Persönlichkeit machte. Sein Markenzeichen: Zähne, die den zerklüfteten Felsen von Dover glichen, nur nicht so weiß. 

 

MacGowans künstlerisch kreativste Zeit fiel in die 1980er Jahre, als er mit den Pogues Musikgeschichte schrieb: Er war es, der den gemeinsamen Glutkern von Folk, Rock ‘n‘ Roll und Punk erkannte und unter einen Hut brachte. Er lieferte damit die Blaupause für ein Modell, das nicht nur in Irland, Schottland oder England, sondern überall auf der Welt kopiert wurde und der Weltmusik-Bewegung erst auf die Sprünge half. Shane MacGowan machte deutlich, wie aufregend, wild und modern traditionelle Musik klingen konnte. 

 

Mit bahnbrechenden Songs wie „Thousands are Sailing“ oder „If I Should Fall from Grace with God“ sowie Neuinterpretationen von irischen Klassikern („Dirty Old Town“), dazu einem energiegeladenen Sound aus traditionellen Instrumenten (Tin-Whistle, Akkordeon, Mandoline und Banjo) und Rockinstrumenten wie E-Gitarren und Schlagzeug, wies der charismatische Sänger der traditionellen Musik den Weg in die Zukunft. Das machte ihn zum Vorbild für eine ganze Generation von jungen Musikern, die gleichfalls nach der musikalischen Zauberformel zwischen Tradition und Moderne suchten. 


In seinen Teenagerjahren als Shane O'Hooligan bekannt 




Doch vielleicht konnte diese Synthese von alt und neu nur einem wie ihm gelingen. Aufgewachsen im irischen Milieu im Südosten von England und wegen Drogen von der Schule in London geflogen (damals lautete sein Spitzname Shane O'Hooligan), wurde die irische Folkmusik zum Rettungsring für MacGowans Selbstverständnis und der Punkrock zum Ausdrucksmittel seiner rebellischen Natur. Als Sproß einer Emigrantenfamilie trieb er sich in den irischen Pubs der englischen Hauptstadt herum, wo das musikalische Erbe der grünen Insel in der Diaspora bei wöchentlichen Hinterzimmer-Sessions mit viel Guinness gepflegt wird. Gleichzeitig traf man ihn im Milieu von Punks und Squatters, die in besetzten Häusern im Londoner Westen Partys feierten und wo bei viel Schweiß und noch mehr Whiskey die Rebellion musikalisch geprobt wurde, was auf das feurige Gemüt des jungen Iren als Ansporn wirkte. 

 

MacGowan, der einst Priester werden wollte, sah sich als „freidenkender katholischer Fanatiker“, wobei er sich offen zum bewaffneten Kampf der IRA bekannte („Ich war nur zu feige, beizutreten“). Mit fortwährenden Exzessen nervte er seine Bandkollegen derart, dass sie ihn noch während einer Tournee 1991 hochkant aus der Band warfen. Den eigenen Bandgründungen, allen voran The Popes, war nur mäßiger Erfolg beschieden, sodaß MacGowan ein Jahrzehnt später zu seiner ursprünglichen Formation zurückkehrte, die ohne ihn ebenfalls nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Daran konnte auch Joe Strummer von The Clash als Ersatz nichts ändern.



Eine Dokumentation namens „Crock of Gold – A Few Rounds with Shane MacGowan“ des Filmemachers Julien Temple, 2020 von Johnny Depp produziert, zeigt ihn bereits als schwerkranken Mann, im Rollstuhl sitzend, doch mit restaurierten Zähnen, der seine Statements nur noch schwer verständlich und wie in Zeitlupe brummelt, während seine Frau Victoria Mary Clarke den Alltag des Pflegebedürftigen organisiert. Am Weihnachtstag 2023 wäre Shane MacGowan 66 Jahre alt geworden. Sein Vermächtnis wird ihn weit überdauern.

The Pogues – Dirty Old Town (youtube)


The Dubliners & The Pogues: The Irish Rover (Youtube)





Tuesday 28 November 2023

John Mayall zum 90sten

Der Blues-Messias


1969 spielte John Mayall sein erstes Konzert in Südwestdeutschland. Am 29. November 2023 wird der englische Blues-Pionier 90 Jahre alt 

John Mayall 1969 in Stuttgart (Foto: Jörg Becker)  


cw. Nachdem Jimi Hendrix im Januar 1969 mit seinem Auftritt in der Stuttgarter Liederhalle zum ersten Mal den damals neuen Underground-Rock nach Südwestdeutschland gebracht hatte, legte John Mayall ein paar Wochen später nach. Der „Urvater des weißen Blues“ kam damals mit einer superben Band in die Landeshauptstadt und demonstrierte sein Können mit solcher Leidenschaft, dass die Fans völlig aus dem Häuschen waren. Hunderte, die keine Eintrittskarten mehr bekommen hatten, stürmten die Liederhalle, wobei es zu erheblichem Sachschaden kam. „Nach dem Ende des Konzert machten jugendliche Besucher mit tumultartigen Szenen ihrer Begeisterung Luft,“ berichtete die Presse. „Unzählige Bluesfans stiegen mit ihren Straßenschuhen auf die Polstersessel und begannen auf ihnen wie auf einem Trampolin herumzuspringen.“ 

John Mayall 1969 in der Stuttgarter Liederhalle (Foto: Jörg Becker)


Im Gegensatz zu Jimi Hendrix, der mit seinem ohrenbetäubenden Gitarrenspiel die Liederhalle zum Erzittern gebracht hatte, schlug John Mayall sanftere Töne an. Seine Band war ein Quartett, das hauptsächlich akustische Instrumente wie Saxofon, Mundharmonika und akustische Gitarre verwendete und aufs Schlagzeug völlig verzichtete, was damals ziemlich ungewöhnlich war. Dennoch schaffte es Mayall mit Nummern wie „Room to move“ die Fans in Verzückung zu versetzen, ein Titel, bei dem er sein Können auf der „Blues Harp“ voll ausspielen konnte.  

Abgesehen von seinem Harmonikaspiel, war Mayall, der auch Gitarre und Piano spielte, nicht gerade der größte Virtuose, doch bewies er immer eine gute Nase für außergewöhnliche Talente. Nicht nur Gitarrengott Eric Clapton begann bei Mayall’s Bluesbreakers seine Karriere, auch Peter Green und Mick Fleetwood von Fleetwood Mac und Mick Taylor von den Rolling Stones durchliefen Mayalls musikalische Kaderschmiede.

John Mayall (mit Stephen Thompson (Baß), Jon Mark (akustische Gitarre) und Johnny Almond (Saxofon)) 1970 in Ulm (Foto: Johannes Andele)

 
1933 in Macclesfield geboren, einer Kleinstadt südlich von Manchester in Nordengland, begann sich Mayall schon früh für den Blues zu interessieren. Nach dem Krieg brachte der englische Bandleader Chris Barber erstmals schwarze Bluesmusiker wie Muddy Waters zu Konzerttoruneen nach Großbritannien, und Mayall hörte genaustens hin. Bald gründete er seine eigene Gruppe namens Powerhouse Four, die sich kurze Zeit später in Blues Syndicate umbenannte und in der John McVie Baß spielte, der später mit Fleetwood Mac zu Weltruhm kam. 

Nach dem Ende des Blues-Booms wurde es in den 1980er Jahren etwas ruhiger um John Mayall, der in den USA in einem Baumhaus wohnte und von dort weiterhin zu weltweiten Tourneen aufbrach. Bei seiner Feier zum 70. Geburtstag brachte ihm Eric Clapton, Mick Taylor und Chris Barber ein Ständchen.

John Mayall (Gitarre) mit Duster Bennett (Harmonika) 'live' in Ulm (Foto: Johannes Andele)

Schon immer ging Mayall mit der Zeit und frischte seine Band mit jungen Talenten auf. Das ist heute nicht anders als in den 1960er Jahren. Sein Auftritt am 7. April 2019 im Stuttgarter „Wizemann“ war so gesehen eine Premiere: Erstmals wurde die Leadgitarre von einer Frau gespielt. Carolyn Wonderland entpuppte sich als Ausnahmetalent, wobei ihr Familiennamen als Zeichen verstanden werden konnte: Frau Wonderland katapultierte das Publikum mit rasanten Soli ins Wunderland des Blues, wobei sie so souverän und gefühlvoll in die Saiten griff, als sei sie einst bei Eric Clapton in den Unterricht gegangen.

"Let's Get Together" von Jimmy Reed gespielt von John Mayall & The Bluesbreakers, ca. 1970 (mit u.a. Duster Bennett (Gesang, Harmonika, Gitarre), John Mayall (Mundharmonika), Jon Mark (akusitsche Gitarre), Stephen Thompson (Baß), Johnny Almond (Saxofon) (youtube)




Saturday 25 November 2023

Buchbesprechung: George E. Lewis & Harald Kisiedu – Composing while black

Composing while black

 

George E. Lewis‘ und Harald Kisiedus Buch über die Geschichte einer systemischen Diskriminierung

 


 

cw. Das Thema dieses Buchs ist die Diskriminierung afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen in der zeitgenössischen Musik. George E. Lewis, Komponist, Improvisator und Autor, beschreibt mit Co-Herausgeber Harald Kisiedu die Geschichte dieser monumentale Ungerechtigkeit, wobei – im Gegenzug – von unterschiedlichen Autoren und Autorinnen verschiedene schwarze Komponisten und Komponistinnen portraitiert bzw. interviewt und ihre Werke analysiert werden. 

 

Die Veröffentlichung – zweisprachig in deutsch und englisch – beginnt mit der Society of Black Composers, zu der sich 1968 in New York ungefähr 50 afro-amerikanische Komponisten und Komponistinnen (unter ihnen Herbie Hancock, Ornette Coleman und Archie Shepp) zusammenschlossen. Das Ziel: die Institutionen des zeitgenössischen Musikbetriebs zu einer Öffnung zu bewegen und dauerhaft umzukrempeln. Allerdings waren die Beharrungskräfte so stark, dass erst ein halbes Jahrhundert später spürbar Bewegung in die Sache kam. Als Indiz dafür kann gelten, dass bei den Darmstädter Ferienkursen, dem heiligen Gral der zeitgenössischen Avantgarde, neben George E. Lewis, auch Anthony Braxton und Tyshawn Sorey als Dozenten wirkten, was zuvor nahezu undenkbar gewesen wäre.

 

Das Buch zeichnet in verschiedenen Essays das Leben und Werk afro-diasporischer Komponisten und Komponistinnen nach, so u.a. von Tania Léon, Andile Khumalos, Charles Uzor und Anthony Davis, beschreibt die Vorurteile, Schwierigkeiten und ethnischen Zuordnungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen (und sehen). Ein langes Interview mit Alvin Singleton, dem ersten schwarzen Komponisten, der bei den Internationalen Ferienkursen in Darmstadt präsent war, bildet den Kern der Publikation.

 

Dabei wird überdeutlich, dass es bei dem Konflikt letztlich um Macht geht, was gleichbedeutend mit Geld ist, also um die Frage, wer öffentliche Mittel für Kompositionsaufträge, Stipendien, Konzert- und Festivalauftritte verteilt und nach welchen Kriterien dies geschieht. Dass hier lang-etablierte Seilschaften öffentlicher Institutionen und akademische Netzwerke die Strippen ziehen, kann nur Naive und Gutgläubige verwundern.



 

Die Herausgeber machen klar, dass sie ihre Mission nicht als Identitätspolitik (miß-)verstanden wissen wollen, obwohl in einzelnen Beiträgen „Wokeness“ die Perspektive bestimmt. Vielmehr geht es den beiden um die Erweiterung und Bereicherung der ästhetischen Erfahrung für den bis heute eurozentrischen E-Musikbetrieb, um vielleicht irgendwann in Zukunft einmal zu einer „farbenblinden“ Position zu gelangen, bei der nicht mehr „gender, race and identity“ das Urteil über Musik bestimmen, sondern allein Fragen der ästhetischen Qualität.  

 

George E. Lewis / Harald Kisiedu (Hg.): Composing While Black – Afrodiasporische Neue Musik Heute (Wolke Verlag, deutsch & englisch, 328 Seiten, mit wenige SW-Abbildungen; E 29.-)

 

Friday 24 November 2023

AUGEundOHR 29: Auswanderer-Hochzeit in den USA mit Musikkapelle

Eine Hochzeit ohne Musik – unvorstellbar! Das historische Foto von ca. 1910 aus den USA zeigt ein Vermählungsfeier. Die Gäste, alle in Festkleidung, haben sich um das Brautpaar in der Mitte der zweiten Reihe (rechts und links die Eltern der Neuvermählten) plaziert. Fünf Musiker mit zwei Geigen, zwei Trompeten und einer Querflöte haben in der ersten Reihe Platz genommen und sich um den Korb an Bierflaschen herum gruppiert. Alkohol, Tanzmusik und Ausgelassenheit bildeten bei solcherart Festen eine unzertrennliche Einheit.
 

MUSIC JOKES 7: Mild Davis


 

Thursday 16 November 2023

James Brandon Lewis in Singen

In den Fußstapfen von Riesen

Der neue Star des amerikanischen Jazz James Brandon Lewis in Singen zu Gast


James Brandon Lewis Quartet in Singen (Fotos: C. Wagner) 



 

cw. Der Pianist haut kräftig in die Tasten, während der Bassist wuchtig die Saiten anschlägt und der Schlagzeuger einer donnernden Rhythmus trommelt – und dann setzt mit mächtigem Ton wie ein Orkan das Saxofon ein. Voll und voluminös läßt der afro-amerikanische Jazzmusiker James Brandon Lewis sein Horn erklingen. 

 

In den letzten fünf Jahren hat sich der Saxofonist aus New York von einem Niemand in die erste Reihe des internationalen Jazz gespielt und zieht mittlerweile eine beachtliche Menge an Jazzfans an, wie das Konzert beim Jazzclub Singen zeigte. In seinen verschlungenen Melodielinien klingt das Echo der langen Geschichte des Jazzsaxofons wider, wobei Übervater John Coltrane alle überragt. James Brandon Lewis bewegt sich in den Fußstapfen von Riesen. 

 

Doch genauso stark wie der Einfluß von Coltrane ist die schwarze Gospelmusik. Sie verleiht Brandon Lewis‘ Spiel eine vokale Qualität, als würde er sein Instrument „sprechen“ lassen, ähnlich einem afro-amerikanischen Priester, der sich in Ekstase predigt. Ein Stück, das der Saxofonist völlig alleine spielt, gleicht dann auch in seiner ruhigen, hymnischen Kraft einer Gebetsandacht.


 

Seit 2012 ist James Brandon Lewis in New York daheim und hat ungefähr mit jedem Musiker gespielt, der im Jazz momentan Rang und Namen hat. All diese Bandprojekte zeugen von der enormen Bandbreite an Stilen, in denen sich der Tenorsaxofonist souverän zu bewegen weiß. Einerseits führt er das Erbe der schwarzen Jazztradition fort, andererseits taucht er immer wieder in moderne Klangwelten ein, ob „funky“ oder rockig.    

 

Das Repertoire, das er mit seinem Quartett präsentiert, reicht von druckvoll-expressivem Powerplay bis zu lyrisch-versunkenen Balladen und enthält rasante Tempostücke genauso wie Kompositionen gemächlicherer Gangart. Der Bandleader weiß, wie man Kontraste setzt, wobei ihm mit Aruan Ortiz (Klavier), Brad Jones am Bass und Schlagzeuger Chad Taylor drei absolute Könner zur Seite stehen. 


 

Oft gehen die Musiker mit ihren Stücken bis an die Grenzen von Harmonik und Rhythmus, um sich dann ins freie Spiel der schieren Ekstase zu stürzen. Bei solcher „Fire Music“ wird Brandon Lewis‘ Horn zu einem feuerspeienden Flammenwerfer, während seine Mitmusiker sich gleichfalls in vulkanartigen Ausbrüchen ergehen. Kaum ist der Klimax erreicht, schaltet der Bandleader drei Gänge zurück und haucht in sein Instrument ganz zart und fein. 

 

Was den Hörgenuss etwas störte, war die Unausgewogenheit des Gruppenklangs: Das Schlagzeug war zu laut und überdeckte oft die Feinheiten des Pianospiels. Auch hätte wohl ein einziges Schlagzeugsolo genügt, während drei Trommelorgien dann doch eindeutig des Guten zu viel waren.  

 

Tuesday 14 November 2023

Oscar-Gewinner Volker Bertelmann im Interview

Nicht immer das volle Besteck

 

Seit Jahren spielt er als Hauschka experimentelle Klaviermusik, dann gelang ihm mit dem Soundtrack zu „Im Westen nichts Neues“ ein Volltreffer. Volker Bertelmann über seine Oscar-gekrönte Filmmusik, und wie die Filmarbeit sein Klavierspiel beeinflußt 


Volker Bertelmann 



Christoph Wagner: Wie sind Sie an die Filmmusik von „Im Westen nichts Neues“ herangegangen?

 

Volker Bertelmann: Der Regisseur Edward Berger und ich haben bereits drei Filme zusammen gemacht, insofern waren wir mit der Art wie wir zusammenarbeiten vertraut. Er hat mich angerufen: „Willst du mal nach Berlin kommen und Dir den Film anschauen? Wir sind schon recht weit.“ Wir haben uns das dann – sozusagen – im großen Kino angeschaut. Da konnte man schon sehen, welche Wucht diese Bilder haben. Danach haben wir kurz gesprochen, wobei Berger drei Wünsche äußerte: Die Bilder sollten von der Musik nicht gedoppelt, sondern zerstört werden. Ich sollte etwas machen, was ich noch nie gemacht habe, und drittens sollte die Musik die Seelenlage des jungen Soldaten Paul Bäumer widergeben. Schon auf der Heimfahrt wurde mir klar, dass ich die damalige Zeitepoche irgendwie mit den Klängen einfangen und gleichzeitig etwas Modernes schaffen muss. Ich dachte an ein analoges Instrument, das aus der damaligen Zeit stammt. 

 

Was bot sich an? 

 

VB: Ich hatte ein Harmonium, das immer schon bei uns in der Familie war. Gleich am nächsten Tag fing ich an, mich damit zu beschäftigen. Die erste Idee waren die drei Töne, die am Anfang des Films zu hören sind, die habe ich direkt am Tag danach aufgenommen, was bei einer Filmmusik recht ungewöhnlich ist. Normalerweise erarbeitet man über Wochen diverse Vorschläge, und der Regisseur wählt dann denjenigen aus, der seinen Vorstellungen am nächsten kommt. In diesem Fall war es anders. Ich hatte diese eine starke Idee. Ich habe sie gleich Edward Berger geschickt, um zu sehen, ob er ähnlich empfindet. Er hat sofort am nächsten Tag geantwortet und war total euphorisch. Er sagte, das ist genau das, was wir brauchen. Das war natürlich toll. 

 

Wie nützlich war Ihre Erfahrung als experimenteller Pianist für die Filmarbeit?

 

VB: In all den Jahren als Hauschka habe ich viel über Musik gelernt, etwa zu improvisieren, was für mich eines der grundlegenden Elemente des Musikmachens ist. Außerdem haben mir meine Erfahrungen mit der Soundmanipulation sehr geholfen, weil das Prinzip der Präparation auf fast alle Instrumente übertragbar ist. Man kann nicht nur das Klavier präparieren, sondern auch Geigen oder Schlagzeug. Bei „Im Westen nichts Neues“ gibt es präparierte Bassdrums. Da haben wir viel Müll drauf gepackt, der durch die Schläge hochflog und dann scheppernd landete. Das gab so eine Art natürliches Delay hinter dem eigentlichen Schlag. All diese Experimente sind der Ursprung meiner Freude am Musikmachen. Es ist nicht nur die Melodie, der Sound ist genauso wichtig. 

 

Im Prinzip sind Sie ein experimenteller Musiker geblieben ....

 

VB: Das sehe ich ähnlich. Man braucht Mut, geltende Grundsätze über den Haufen zu werfen. Wir haben z. B. das Orchester aufgenommen, die Aufnahmen dann aber noch einmal in den Computer gepackt und daran rumgebastelt mit verschiedenen Effekten. Davon wurde wiederum eine Partitur erstellt, die wir erneut mit dem Orchester aufgenommen haben. Dadurch eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten. 


Volker Bertelmann alias Hauschka am präparierten Klavier



 

Gibt es Vorbilder, Filmkomponisten, die Sie beeinflußt haben? 

 

VB: Der amerikanische Komponist John Williams, bekannt u.a. durch die Musik für „Der weiße Hai“ war immer jemand, den ich bewundert habe, auch wenn er eine ganz andere Art von Musik macht. 

 

... er schafft Spannung mit Streicherklängen, weil man nie weiß, wann der Hai zuschnappt ....

 

VB: Genau! Jonny Greenwood, eigentlich Gitarrist von Radiohead, ist einer aus der jüngeren Zeit, dessen Soundtrack für „There will be Blood“ ich fantastisch fand. Er hat auch diesen Ansatz des Experimentellen. Hildur Guðnadóttir ist eine andere, die sehr viel mit Klängen und Geräuschen arbeitet, die „Joker“ gemacht hat und mit der ich schon auf Tournee war. Das sind Leute, die mich inspirieren und irgendwie auf der gleichen Wellenlänge liegen. 


Hauschka: Inventions (youtube)


 

Hat sich durch die Filmarbeit die Musik verändert, die Sie als Hauschka machen?

 

Volker Bertelmann: Ich denke inzwischen nicht mehr so viel über Form nach, sondern mache die Stücke auf die Art und Weise, wie sie natürlich kommen. Es interessiert mich auch immer weniger, bestimmte Formate zu bedienen, nur um zu gefallen. Es geht vielmehr darum, Gefühl und Abstraktion zusammen zu bringen, was mir auf der neuen Platte „Philanthropy“ hoffentlich gelungen ist. Sie ist aufgeräumter und klarer. Das hat damit zu tun, dass es bei Filmmusiken wichtig ist, den Soundtrack nicht zu überladen. Manchmal reicht ein guter Baßsound schon. Es muss nicht immer das volle Besteck sein. 

 

Hauschka: Philanthropy (Drag City)


Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift Jazzthetik (www.jazzthetik.de)