Die neue Single "Lila" von Lukas Kranzelbinders Shake Stew – musikalisch und visuell ausgewöhnlich!
Monday, 2 October 2023
Shake Stew mit neuem Video "Lila"
Saturday, 30 September 2023
Folksänger Alasdair Roberts live
Blutige Mörderballaden
Der schottische Folksänger Alasdair Roberts im Konzert
Fotos: C. Wagner
cw. Die britische Tageszeitung The Guardian hat vor ein paar Wochen Shirley Collins nach dem Folksänger oder der Folksängerin befragt, die ihrer Ansicht nach mehr Aufmerksamkeit verdient hätte, woraufhin die große alte Dame des englischen Folk antwortete: „Alasdair Roberts ist mein Lieblingssänger. Er hat eine ausdrucksstarke Stimme und geht die Balladen ohne Umschweife an. Manchen Musikern ist ihre Musik wichtiger als der Erfolg, was ich bewundere.“
Gestern Abend (30. September 2023) trat Alasdair Roberts in Todmorden im Centre for Folklore, Myth & Magic auf, das tagsüber ein Café mit Bäckerei ist. Zu meiner Überraschung war das Konzert ausverkauft, doch in Todmorden existiert seit längerem eine vitale Musikszene, von Leuten, die sich für eine enorme Bandbreite von Musik interessieren, von Folk bis zur Avantgarde.
Roberts, der schwäbische Wurzeln hat (seine Mutter stammt aus Reutlingen), ist in Glasgow zuhause. Er bestritt den ersten Teil des Konzerts mit Songs aus seinem aktuellen Album „Grief in the Kitchen and Mirth in the Hall“, das er solo, also nur mit Gitarrenbegleitung, aufgenommen hat und das – wie fast alle seine Veröffentlichungen – auf dem amerikanischen Label Drag City erschienen ist.
Dabei kamen durchweg sehr ernsthafte Lieder zur Aufführung, Songs, die Roberts traditionellen Sängern aus Irland und Schottland abgelauscht hat und die aus grauer Vorzeit von blutigen Morden, Verrat und Hinterhalt berichten. Mit "My Wonderful Grey Horse" hob er an, einer Ballade, die von einem mythisch-magischen Pferd berichtet, das immer bei entscheidenen Ereignissen der Menschheitsgeschichte auftaucht, ob bei Adam und Eva im Paradies oder der Schlacht von Waterloo. Solche Lieder gehen unter die Haut, auch wenn man nicht jede Einzelheit der Geschichte gleich versteht. In der zweiten Konzerthälfte kamen dann Songs aus Roberts‘ „Backkatalog“ zur Aufführung, von denen einige vom Folksänger aus Glasgow selber stammten und die er in äußerst intensiver Manier anstimmte. Mit einer unbegleiteter Ballade als Zugabe endete das Programm.
Friday, 29 September 2023
Buchbesprechung: On Minimalism
Buchbesprechung:
Über Minimalismus
cw. Wenn es in den Black Hills von South Dakota ein Mount Rushmore National Memorial der Minimal Music geben würde, wären dort anstatt der vier Köpfe der amerikanischen Präsidenten, wohl LaMonte Young, Terry Riley, Steve Reich und Philip Glass in den Fels gemeißelt. Diese vier legten in den 1960er Jahren das Fundament für eine musikalische Revolution, die, angeregt durch die monochromen Gemälde eines Robert Rauschenberg oder Ellsworth Kelly, mit Reduktion und Repetition arbeitete. Es wurde auf Melodien und Akkordprogression verzichtet und mit Drones, Pattern und Loops einen Kontrapunkt zur klassischen Musik westlicher Provinienz gesetzt. „Musik als gradueller Prozeß“, so hat Steve Reich das Wesensmerkmal der Minimal Music umschrieben, während andere von „Trance Music“ sprachen, zu der psychedelische Drogen in der Anfangsphase ihren Teil beitrugen.
Bei genauerer Inspektion läßt sich die Strömung nicht auf die vier Gründungsväter reduzieren, vielmehr handelt es sich um eine weitverzweigten Bewegung, die sich anfangs aus unterschiedlichen Quellen speiste. Neben der Musik des Mittelalters (etwa des Kanons) wirkten Einflüsse aus dem Osten (besonders Indien) sowie aus Afrika. Mit der Zeit entstand eine Vielfalt unterschiedlichster minimalistischer Individualstile, wie sie von Pauline Oliveros, John Adams, Julius Eastman, Michael Nyman, Rhys Chatham, Éliane Radigue oder Meredith Monk verkörpert wurden. Oft ging die Minimal Music mit anderen Musikstile originelle Verbindungen ein, ob mit New Age, Ambient Music oder Konzeptkunst, experimentellen oder elektronischen Klängen. Selbst die Rockmusik oder der modale Jazz atmeten gelegentlich den Geist des Minimalismus.
In der Gegenwart hat der Stil im Post-Minimalismus eine Fortentwicklung erfahren, aber auch in anderen musikalischen Gattungen Spuren hinterlassen, selbst in der aktuellen Popmusik, wo die elektronische Clubmusik die minimalistische Grundidee noch radikalisiert hat. Kerry O’Brien und William Robin legen mit „On Minimalism – Documenting a Musical Movement“ eine 450 Seiten starke Publikation vor, die die Ambition hat, die Geschichte der minimalistischen Bewegung in ihrer ganzen Breite und Vielfalt darzustellen. Das Buch ist als Materialband angelegt. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen, kompetenten Einleitung. Daran schließt sich der eigentliche Dokumentarteil an, der Interviews, Manifeste, Zeitungsartikel, Deklarationen, Programmhefttexte, Schallplattenbesprechungen oder Cover-Texte umfaßen kann. Sie erlauben dem Leser ein Eintauchen in die Debatten der Vergangenheit und fördern längst vergessene Kontroversen, Einschätzungen und kritische Einwände zu Tage. So entsteht aus der so vielfältigen wie reichhaltigen Textesammlung eine Geschichte der Minimal Music, die noch einmal deutlich macht, wie verschieden sie doch von der westlichen Kunstmusik ist.
Kerry O’Brien / William Robin: On Minimalism – Documenting a Musical Movement. University of California Press; Oakland, California 2023. 450 Seiten. Euro 34,75
Tuesday, 26 September 2023
Saturday, 23 September 2023
Kunstaktion: Christo in Heidelberg, 1969
Verpackungskünstler
Mit der Verhüllung des Berliner Reichstags machte Christo 1995 Furore – 1969 hatte er dafür in Heidelberg bereits geübt
cw. Es begann mit einem Disput. Die beiden Studenten Klaus Staeck und Jochen Goetze waren mit einer geplanten Jubiläumsausstellung des Heidelberger Kunstvereins nicht einverstanden, deren Konzeption ihnen zu brav vorkam. Sie entwarfen eine Gegenveranstaltung, die die aufgewühlten Zeit um 1968 widerspiegeln sollte und nannten sie: Intermedia 69.
Als einwöchiges Spektakel geplant, sollte das Festival den Stand aktueller Kunst präsentieren, ob Happening, Aktionstheater, Fluxus-Performances oder experimentelle Filme. „Aus der ewigen Provinz ausbrechen“, so umriß Initiator Klaus Staeck das Ziel. Die Intermedia wollte alle relevanten Avantgarde-Strömungen zu einem riesigen Gesamtkunstwerk vereinen. Sponsoren zu finden war nicht einfach. Der erste Spendenaufruf bracht nur magere 200 DM ein. Man war nahe daran, das Spektakel abzublasen. Doch als immer mehr prominente Künstler zusagten, stieg auch die finanzielle Unterstützung.
Am 16. Mai 1969 war es soweit. Klaus Staeck, später als Polit-Plakat-Künstler bekannt, hatte in den Monaten zuvor Dutzende Künstler eingeladen, ja persönlich besucht, um sie zu einer Teilnahme zu bewegen. Von Günther Uecker über Joseph Beuys bis zu Jörg Immendorf – alle machten mit. Doch der spektakulärste Coup war ihm mit Christo gelungen. Der Verpackungskünstler wollte in Heidelberg eine seiner ersten Gebäude-Verhüllungen realisieren, was, so Staeck, „zu einem der größten Abenteuer wurde, auf das ich mich je eingelassen habe.“
Christo Javacheff (1935-2020) machte in den Jahrzehnten danach durch aufsehenerregende Kunstaktionen Furore, wobei er jedes Projekt aus eigener Tasche finanzierte. Er verhüllte den Berliner Reichstag und den Arc de Triomphe sowie die Pont Neuf in Paris und verwirklichte die „Floating Piers“(=schwimmende Landestege) im nord-italienischen Iseo-See. Jede dieser Kunstaktionen zog Millionen von Zuschauern an, was Christo neben Picasso, Warhol und Banksy in den Olymp der Kunstgötter katapultierte.
1969 hatte der 33-jährige Emigrant aus Bulgarien, der damals bereits in New York lebte, schon ein paar kleinere Verhüllungsaktionen realisiert (darunter die Kunsthalle Bern), doch war ihm der Durchbruch noch nicht gelungen. Deswegen fand die Kunstaktion in Heidelberg – was Budget, Ausstattung, Vorbereitung und Durchführung betraf – auch unter amateurhaften Bedingungen statt.
„Ursprünglich wollten wir ein Studentenwohnheim verhüllen,“ erinnert sich Klaus Staeck. Als das auf Widerstand stieß, fragte man beim Heidelberger Schloß an, was nur „jähes Entsetzen“ (Klaus Staeck) auslöste. Nur das Amerikahaus zeigte sich aufgeschlossen. Mit 25 freiwilligen Helfern, zumeist Studenten, 1900 Metern weißer, reiß- und brennfester Plastikfolie, vielen Rollen Spezialklebeband, 900 Meter Draht und 450 Meter Seil wurde das Gebäude in der Heidelberger Innenstadt am Tag vor Eröffnung der Intermedia – dem 15. Mai 1969 – unter der Regie von Christo verpackt. Der Künstler war am Tag zuvor angereist.
Frühmorgens ging es los. Um 6 Uhr trafen sich die Teilnehmer zum Aufbau. Von den zwei Dutzend Studenten, die ihre Mitarbeit zugesagt hatten, waren allerdings nur fünf erschienen, weshalb eine Lehrerin mit ihrer Schulklasse einsprang. „Zunächst wurden die schweren Folienrollen aufs Dach geschleppt,“ erinnert sich Staeck. „Dort wurde unter Christos Anleitung Bahn um Bahn mühselig mit Draht aneinander geknüft.“ Dann wurde der erste Vorhang hinabgelassen. Doch schon nach ein paar Metern verfing sich die Riesenhaut an Zinnen und Vorbauten und musste „befreit“ werden, was nicht ungefährlich war, weil dabei ungeübte Laien hochoben auf dem Dach herumkletterten.
Nachdem das Problem behoben war, sausten bald Bahn um Bahn nach unten. Immer mehr Schaulustige fanden sich ein. Es wurde aufs Heftigste diskutiert, während Christo versuchte, die Folienbahnen mit Draht zusammenzuheften, um eine halbwegs glatte Oberfläche zu erzielen. Ein paar Helfer flochten ein Seil mehrmals um das Haus, um das Flattern der Folie zu unterbinden. Erst spät in der Nacht war die Verpackungsaktion abgeschlossen. Nun leuchteten die erhellten Fenster in magisch, milch-weißem Schein.
Im Unterschied zu seinen späteren Kunstaktionen, die immer makellos und formvollendet ausfielen, glich diese Verhüllung eher einem Notverband. Drei Tage blieb das Amerikahaus verpackt. „Wahrscheinlich war es Christos unvollkommenstes Werk“, rekapituliert Klaus Staeck, weshalb es auch in dessen Werkverzeichnis nicht auftaucht – mißglückt! Der Meister war mit dem Endprodukt ebenso wenig zufrieden wie die Presse. Von einem „grausigen Objekt“ war die Rede.
Doch trotz Kritik und Ablehnung hatte Heidelberg eine spektakuläre Kunstaktion erlebt, von der noch lange gesprochen wurde. Und Christo hatte eine, wenn auch negative Erfahrung gemacht, die ihn lehrte, seine Kunstaktionen sorgfältiger vorzubereiten. Sie bildete den Startschuß für eine steile Karriere, die ihn an die Spitze der internationalen Kunstszene beförderte mit avantgardistischer Kunst, die Millionen begeisterte.
Wednesday, 20 September 2023
Gallionsfigur afroamerikanischer Rootsmusic: Rhiannon Giddens
Wie politisch soll Musik sein?
Die Singer-Songwriterin Rhiannon Giddens über ihr neues Album „You’re the one“
Interview: Christoph Wagner
Purlitzer-Preis- und Grammy-Gewinnerin Rhiannon Giddens ist zu einer Gallionsfigur der amerikanischen Rootsmusic-Szene geworden. Jetzt erscheint ihr drittes Album mit Band und ausschließlich eigenen Songs
Ihr letztes Album, das sie mit einer Band einspielten, hieß “Freedom Highway“. Nach sechs Jahren legen sie nun ein neues Band-Album vor. Was ist anders?
Rhiannon Giddens: Viel! “Freedom Highway“ hatte eine Mission. Es war ein Album, das die afro-amerikanische Geschichte zum Inhalt hatte. Nur ein halbes Dutzend der Songs stammte von mir, die anderen waren Lieder aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung. Es war eine Bürgerrechts-Platte. Ich war Co-Produzentin und habe mit einer Handvoll Musikern gearbeitet. Das neue Album ist viel klangmächtiger, jeder Song stammt von mir, wobei nur ein einziges Lied dezidiert politisch ist.
Es ist also weniger politisch....
RG: Stimmt, jedoch habe ich meine Mission nicht aus den Augen verloren – im Gegenteil: Ich habe in den letzten Jahren an einer Oper gearbeitet, die sehr eng mit diesem Thema verbunden ist, habe gleichzeitig Filmdokumentationen über die Geschichte des schwarzen Banjos produziert und zwei Dokumentationen für die BBC gemacht, die um eine ähnliche Thematik kreisen. In den letzten zehn Jahre habe ich nichts anderes gemacht, als über diese Themen zu sprechen. Wieviel mehr kann man noch tun? Bei diesem Album musste ich allerdings meinem künstlerischen Kompass folgen. Es war schlicht die Platte, die ich in mir hatte.
Meine Bemerkung war nicht als Vorwurf gemeint – im Gegenteil: Ich habe heute eher das Gefühl, dass viele Künstler meinen, sich unbedingt politisch äußern zu müssen, weil die Welt in einem so verheerenden Zustand ist. Doch ist Politik die Aufgabe von Kunst?
RG: Ja und nein. Für mich besteht die Aufgabe von Kunst darin, die soziale Situation ihrer Zeit zu kommentieren, weil das Soziale eng mit dem Politischen verbunden ist. Ich erzähle mit meinen Songs Geschichten, die mit der Realität zu tun haben, in der wir leben. Diese Aufgabe ist mir im letzten Jahrzehnt zugefallen – ich habe mich nicht darum gerissen. Allerdings bringe ich solche Liedgeschichten wie niemand sonst zum Klingen. Wenn es jetzt heißt, meine neue Platte sei weniger politisch und bestehe nur aus Popsongs, dann entgegne ich: Meine Songs sind keine Popsongs! Es gibt verschiedene Arten, Menschen mit Liedern und Musik soziale Sicherheit zu vermitteln, was meiner Ansicht nach die Aufgabe von Kunst ist: für die mentale Gesundheit unserer Gesellschaft zu sorgen. Es gibt unterschiedliche Wege, das zu tun. Allerdings mußte ich meinen Aktivismus zurückschrauben, sonst wäre ich ausgebrannt. Ich benötigte eine Pause und wandte mich deshalb anderen Themen zu, kramte alte Songs heraus, die einen persönlicheren Ton anschlagen, voller Freude sind und die Dinge von einer anderen Seite aus betrachten. Ich brauchte diesen Perspektivwechsel als Künstlerin.
Jack Splash, der u.a. mit Kendrick Lamar, Solange und Alicia Keysgearbeitet hat, hat das Album produziert. Wie war die Zusammenarbeit?
RG: Ich hatte ein Dutzend Songs, die in den letzten 14 Jahren entstanden sind. Ich schreibe nicht sehr schnell, geradezu langsam. Ich arbeite an einem Lied, lege es dann zur Seite, um später – manchmal nach Monaten oder Jahren – wieder darauf zurückzukommen. Ich hatte also diese Lieder, die für mich als Album Sinn machten, und war mir bewußt, dass diese Songs einen voluminöseren Sound benötigten. Ich wollte mich künstlerisch strecken und eine Platte machen wie nie zuvor. Wir hielten nach einem Produzenten Ausschau, der mit all den verschiedenen Klängen amerikanischer Musik arbeiten kann. Jack Splash war dafür der Richtige. Wir diskutierten ausführlich und entwickelten eine gemeinsame Vision. Er brachte seine Musiker mit und ich die meinen. Auf ein paar der Lieder spielen alle zusammen. Es ging darum, gemeinsam einen Gruppensound zu finden. „You Louisiana Man“ war der erste Song, den wir aufnahmen, alle zusammen, und es war überwältigend: Cajun-Akkordeon, elektrische Bässe, Orgel und italienische Tambourin-Rhythmen – fantastisch! Jack Splash lenkte die Session. So entwickelte sich die Musik.
Rhiannon Giddens – You Louisiana Man (Youtube)
Unterschiedliche Einflüsse finden sich auf dem Album: Cajun, Tin Pan Alley, Soul, Funk, frühes Minstrel-Banjo – welche Stilbezeichnung macht da noch Sinn?
RG: Ich nenne es amerikanische Musik, weil all diese Traditionen in den USA zusammenkamen und sich hier miteinander vermischten. Die Stilbegriffe wurden der Musik von der Musikindustrie später übergestülpt. In Wirklichkeit bediente sich jede soziale Gruppe bei der Musik anderer sozialer Gruppen. Dieses Criss-Crossing, dieser Mix fasziniert mich. Die Musiker auf meiner Platte habe alle diese Stile drauf. Wir vergaßen vollkommen, dass überhaupt Stile und Gattungen existieren.
Das steht quer zur Kritik an kultureller Aneignung. Was ist ihre Auffassung?
RG: Wenn die Kultur einer marginalisierten Gruppe von weißen Geschäftemachern zum reinen Geldmachen benutzt wird und kaum etwas zurückfließt, dann ist das kulturelle Aneignung, und die findet statt. Im Gegensatz dazu war jedoch vieles, was in den USA passierte, kultureller Austausch – soziale Gruppen borgten Musik von einander. Mein Ratschlag wäre also: Mach‘ die Musik, die du willst, aber spiele sie mit Respekt, Integrität und Wissen. Das kostet allerdings viel Zeit und Arbeit.
Rhiannon Giddens: You’re the one (Nonesuch)
Das Interview erschien im Heft 9/10 der Zeitschrift JAZZTHETIK (jazzthetik.de)
Monday, 18 September 2023
Vortrag, 10. Nov 23: Roll over Beethoven – wie Musik aus den USA die Kultur im Südwesten prägte
Ich wurde gebeten, einen halbstündigen Vortrag über den Einfluss amerikanischer Musik hier in Südwestdeutschland zu halten. Titel: Roll over Beethoven – wie Musik aus den USA die Kultur im Südwesten prägte (Beginn: 13:45).
Die Vorträge sind öffentlich, jeder kann als Hörer teilnehmen. Der Eintritt ist frei.
Nach jedem Vortrag gibt es eine 15minütige Frage- und Diskussionsrunde.
Saturday, 16 September 2023
AUGEundOHR 26: kleine bulgarische Blaskapelle, ca. 1920
Diese kleine bulgarische Blaskapelle erscheint als Taschenausgabe eines größeren Blasorchesters – nur vier Musiker mit großer Trommel und Becken, Klarinette, Flügelhorn und dem großen B-Horn für die Baßstimme. Die vier jungen Burschen präsentieren sich für das Foto in ihrer besseren Alltagskleidung, nicht gerade herausgeputzt, aber doch mit Schirmmützen und weißen Hemden dem Anlaß gerecht. Die abgetragenen Schuhe weisen darauf hin, dass sie nicht gerade wohlhabend sind und mit der Musik ein Zubrot an den Wochenenden verdienen. Besonders stechen die dicken Wollsocken des Klarinettisten links ins Auge.
Tuesday, 12 September 2023
SCHEIBENGERICHT 22: Alexander Hawkins Trio
Vom Ausloten unbekannter Klangzonen
Das Alexander Hawkins Trio mit seinem Album "Carnival Celestial"
Alexander Hawkins (Foto: C.Wagner)
cw. Der englische Jazzmusiker und Komponist Alexander Hawkins ist als virtuoser Tasteninstrumentalist bekannt, der in seinem Trio nicht nur Piano, sondern auch Synthesizer spielt, dazu noch einen Sampler bedient, und das alles gleichzeitig mit größter Präzision und in souveräner Manier.
Hawkins Pianospiel besitzt eine ambidextere Qualität, was bedeutet: man könnte meinen, es würden zwei Pianisten unabhängig von einander agieren, so eigenständig und kontrapunktisch spielt die linke Hand in den tieferen Regionen, im Unterschied zur rechten in den höheren Registern. Es macht auf einmal Sinn, wenn Hawkins erzählt, dass er mit Johann Sebastian Bach seine tägliche Übungsstunden bestreitet.
Seit einiger Zeit erlebt das Pianotrio ein Comeback im Jazz, doch schwebt Hawkins anderes vor. Dem 42jährigen aus der Universitätsstadt Oxford geht es weniger um die Erneuerung einer bestimmten Jazztradition, als um das Ausloten musikalisch unbekannter Zonen, die im Grenzbereich von modernem Jazz, experimenteller Musik, Minimalismus, avanciertem Rock, musique concrète und Electronica liegen. So ist das Hawkins Trio einerseits im Jazz verwurzelt, gleichzeitig zielt die Musik darüber hinaus, und läßt sich deshalb einer aktuellen Tendenz zurechnen, die unter dem Schlagwort „Post-Jazz“ firmiert.
Der Rhythmusgruppe aus Neil Charles (Baß) und Stephen Davis (Schlagzeug) kommt eine tragende Rolle zu. Ihr Spiel ist dicht und vorwärtstreibend, wobei der Groove oft eher einem Puls gleicht, der unter dem Klangschleier von Metallbecken und Trommelfellen pocht.
Alexander Hawkins Trio Live at art.ist Wiesbaden, September 16, 2022 (Youtube)
Ein paar Stücke weiter, und die beiden schlagen ganz andere Töne an. Da wird dann ein Baßriff von Kontrabaß und Synthesizer loop-artig wiederholt und von einem staubtrockenen Drumbeat unterlegt, der dem motorischen Trommelspiel des Can-Drummer Jaki Liebezeit alle Ehre gemacht hätte.
Solche Ostinati legen die Basis für weitausgreifende Pianoimprovisationen, die sich über elektronischen Einwürfen oder knisternd-knirschenden Geräuschfeldern in ekstatische Höhen schrauben, um dann plötzlich, ganz jäh und unvermittelt einfach abzureißen, als ob jemand den Stecker der Bandmaschine gezogen hätte. Eine solche Praxis bricht mit jeder Konvention, und ist nicht die einzige Tabuverletzung, die Hawkins unternimmt, um aus Komponenten des musikalischen Baukastens der Moderne, einen hybriden Stil zu kreieren, der voller Eigenheiten und Überraschungen steckt.
Alexander Hawkins Trio: Carnival Celestial (Intakt Records)
Music Jokes 5: John Cage's Karaoke-Nacht
John Cages Komposition 4'33 ist das berühmte stumme Stück: 4 Minuten, 33 Sekunden nichts als Stille. Cage wollte damit den Konzertbesuchern die Geräusche im Konzertsaal bewußt und hörbar machen. Am 29. August 1952 wurde das Stück in der Maverick Concert Hall in Woodstock, NY durch den Pianisten David Tudor uraufgeführt. Allein durch das Aufklappen und Zuklappen des Klavierdeckels wurden die drei Sätze des Stücks angezeigt. Das Publikum reagierte konsterniert.
Saturday, 9 September 2023
AUGEundOHR 25: amerikanische Jazzbigband von 1934
JAZZBAND aus der Blütezeit der Bigband-Ära
Eine weiße amerikanische Jazzband mittlerer Größe von 1934, der Hochzeit der Bigband-Ära. Unter den zwölf, äußerst gepflegt wirkenden Musikern im Einheitsdress mit Kravatte, selbst die Schule sind die gleichen, befindet sich ganz links ein afroamerikanischer Perkussionist, der ein Paar Maracas in den Händen hält.
Die sonstige Besetzung der wohl professionellen Gruppe, die hauptsächlich bei Tanzveranstaltungen auftrat: zwei Violinisten (die auch Gitarre bzw. Banjo spielen), zwei Trompeter, ein Posaunist und drei Saxofonisten (von Sopran- bis Baritonsaxofon plus Klarinette), dazu Baß, Piano und Schlagzeug. Man beachte die Bemalung der Baßtrommel des Drummers, die wohl die Niagara-Fälle zeigt, was ein Hinweis auf die Herkunft der Gruppe sein könnte.
Tuesday, 5 September 2023
SCHEIBENGERICHT 21: Carlos Bica huldigt Beethoven
KLASSIK JAZZMÄßIG VERDREHT
Der portugiesische Bassist Carlos Bica huldigt Ludwig van Beethoven
3 1/2 von 5 Sternen
cw. Im gleichen Jahr wie Hegel und Hölderlin 1770 geboren, fielen die Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven 2020 der Pandemie zum Opfer. Das sollte jedoch kein Grund sein, sich nicht weiterhin mit dem Komponistengott zu befassen, dafür sind seine Werke viel zu epochal. Man denke nur an die späten Streichquartette, diese verstörend unorthodoxen Rätselstücke, die wie verschlungene Fantasiegespinste nahezu undurchdringlich und kaum fassbar erscheinen.
Der portugiesische Kontrabassist Carlos Bica hat eine engere Beziehung zu Beethoven. Jahre lang hat er in klassischen Orchestern dessen Musik gespielt. Diese Klänge im Hinterkopf hat der heutige Jazzmusiker nun ein Projekt ausgebrütet, das sich mit der Musik des Meisters auf kreative Weise befasst, was bedeutet: Das Quartett mit Daniel Erdmann (Saxofone), João Barradas (Akkordeon) und DJ Illvibe an den Turntables spielt keine Werke Beethovens, sondern Stücke, die überwiegend von Bica stammen, aber genau das machen, was der Albumtitel verspricht: Sie spielen mit Beethoven.
Die Kompositionen nähern sich dem Meister auf äußerst (respekt-)lose Art und Weise, nehmen die Essenz eines Werks, ob „Leonore", „Ritterballett" oder „Liebeslied", paraphrasieren, verfremden, dekonstruieren, kontrastieren und zerstückeln es und setzen es dann assoziativ und collagenhaft, mit Jazzimprovisationen, frühen Schallplatteneinblendungen, elektronischen Sounds und Folkloreklängen garniertt, wieder zusammen, wobei manchmal nicht mehr viel van Beethoven übrig bleibt. Dieser wilde Mix-Up hätte dem einstigen Pianisten und Improvisator möblicherweise sogar gefallen. Wer weiß?
Carlos Bica: Playing with Beethoven (youtube)
In „Liebeslied“, das als Schlußakkord des Albums fungiert, fängt es bedächtig mit zwei sich abwechselnden Tönen auf dem Akkordeon an, dem gesellt sich das Saxofon und die Sounds der Turntables hinzu. Die Interaktion der Instrumente steigert sich langsam zu einem mächtigen Furioso, wobei am Ende – nach dem großen Blow-Out – der Beethoven-Gassenhauer „Für Elise“ (den jeder im Ohr hat) einmal kurz – ganz ungeschützt und unbegleitet – von der Quetsche angespielt wird.
Saturday, 2 September 2023
AUGEundOHR 24: Armenischer Tar-Musiker, ca. 1890
Ein Musiker mit zwei Freunden oder Verwandten, der das armenisches Musikinstrument Tar spielt, ein Lauteninstrument aus der Rabab-Familie
Tuesday, 29 August 2023
ROBERT CRUMB zum 80sten Geburtstag
ROBERT CRUMB - Interview mit dem Cartoonisten
Will ich wirklich einer dieser Irren sein?
Über alte Folkmusik (Appenzeller Streichmusig inklusive), die Wonnen und Abgründe des Sammelns, seine Begegnung mit Janis Joplin und die Arbeit an der Schöpfungsgeschichte als Comic cw. Neben Gary Larson (“The Far Side”) und Art Spiegelman (”Maus”) gilt Robert Crumb (Jahrgang 1943) als einer der bekanntesten Cartoonisten der Gegenwart. Berühmt wurde der amerikanische Comic-Zeichner Ende der 60er Jahre mit “Fritz The Cat”, den Abenteuern des arbeitsscheuen und sex-süchtigen Katers, die 1972 als Kinohit verfilmt wurden. Mit dem bärtigen “Mr. Natural” schloß Crumb an diesen Erfolg an. Danach sorgte er mit seiner Cartoon-Version der Schöpfungsgeschichte für Beachtung. Heute ist Robert Crumb Kult und wird selbst von der Kunstwelt gefeiert. 2004 widmete ihm das Kölner Museum Ludwig eine Einzelausstellung. Außerdem war im Kunstmuseum seiner Geburtsstadt Philadelphia eine Retrospektive seines Gesamtwerks zu sehen. Letztes Jahr traf Crumb ein brutaler Schicksalsschlag, als seine Ehefrau und künstlerische Partnerin Aline Kominsky-Crumb verstarb. Am 30. August 2023 ist Robert Crumb 80. Jahre alt geworden.
Sie sind als Comic-Zeichner berühmt, aber auch als Musiker aktiv. Ist Musik ihre geheime Leidenschaft?
Sind sie in ihrer Kindheit noch solchen Hillbillybands begegnet? Robert Crumb: Wo ich in den 50er Jahren aufwuchs, gab es solche Gruppen schon lange nicht mehr - keine Spur! Wir wohnten in einer dieser modernen amerikanischen Vorstädte: Einfamilienhäuser, Garagen, Vorgärten. Damals war diese Folk-Tradition schon nicht mehr existent. Die modernen Unterhaltungsmedien hatten sie platt gemacht, ausradiert. Die kommerzielle Musik aus dem Radio und von Schallplatten dominierte alles. Da gab es für Hillbilly-Musik keinen Platz mehr.
Wie wurden sie auf den Blues aufmerksam?
Ich habe gehört, Sie unternähmen gelegentlich richtige Schellacksuchtrips durch die USA, um alte Junk-Shops zu durchwühlen. Der Sammler Chris Strachwitz hat mir berichtet, dass überall, wo er hinkommt, es heißt: “Robert Crumb war schon da!”
Hatten sie schon davor Schallplattenhüllen entworfen? Robert Crumb: Das erste Cover war für die LP “Cheap Thrills” von Janis Joplin, Big Brother & The Holding Company. Ich lebte damals in San Francisco. Die Band spielten überall, gehörte zum Grundinventar der Underground-Szene. Ich veröffentlichte meine Comics in der Underground-Presse. Dort haben die Band sie wohl gesehen und nahm mit mir Kontakt auf. Janis Joplin und Dave Getz, der Drummer, kamen mich besuchen und sagten, Columbia Records hätten ihnen einen Vorschlag fürs Cover gemacht, der ihnen nicht gefiele und ob ich nicht einen Entwurf machen könnte. Aber sie bräuchten ihn schon morgen. Ich warf etwas Speed ein, arbeitete die ganze Nacht durch. Am nächsten Morgen war das Ding fertig.
“Cheap Thrills” war acht Wochen lang Nr. 1 in den Hitparaden, das meistverkaufte Album von 1968. Das Cover war eine Sensation. Das muss Ihnen viele lukrative Aufträge eingebracht haben?
Sie traten in den 70er Jahren als Banjospieler mit der Band The Cheap Suit Serenaders an die Öffentlichkeit. Woher kam das Bedürfnis selber Musik zu machen? Robert Crumb: Gewiß nicht von meinen Eltern. Ich wollte immer schon Musik spielen, aber bekam keinerlei Ermutigung. Ich baute mir eine Ukulele aus einer Zigarren-Schachtel. Zu meinem 12. Geburtstag bekam ich dann eine Ukulele aus Plastik mit einer Spielanleitung (lacht höhnisch). Das war immerhin der Startschuß. Ich spielte für mich alleine, ziemlich isoliert, machte kaum Fortschritte, weil niemand da war, der mir etwas zeigen konnte. Erst in San Francisco 1967 traf ich ein paar Jungs, die Old Time Music mochten. Ich kaufte mir eine kleine Banjo-Ukulele auf einem Flohmarkt und wir fingen an, gemeinsam Musik zu machen. Ich spielte mit diesen Burschen schon fast zwei Jahre, als eines Tages einer sagte: “Crumb, es wird Zeit, dass du dir ein richtiges Instrument zulegst.” Er half mir ein ordentliches Banjo zu erwerben, das ich bis heute noch ab und zu spiele. Zuerst spielten wir nur so zum Spaß, dann aber auch in der Öffentlichkeit, wobei wir uns The Cheap Suit Serenaders nannten. Wir spielten populäre Musik der 1920er Jahre, ein paar Novelty-Titel, auch Ragtime-Nummern und Old Time Country Music. In manchen Stücken setzten wir eine singende Säge ein, was sehr gut ankam, wenn wir auf der Straße spielten. Die singende Säge zog Publikum an. Wir kämpften uns durch ein paar schwierige Ragtime-Nummern, auf die wir sehr stolz waren, aber kein Schwein blieb stehen. Kaum holten wir die Säge hervor, geschah das Wunder: Schlagartig bildete sich eine Zuhörermenge und es hagelte Groschen.