KLANGVERSUNKEN
Das Tübinger Vokalensemble Ordo
Virtutum rekonstruiert Mönchsgesänge aus Klöstern der
Vor-Reformation-Zeit
cw. Die Reformation, die sich dieses Jahr zum 500. Male jährt, war ein
Epochenbruch, wie er stärker nicht hätte sein können. Die religiöse
Erneuerungsbewegung stellte die geistlich-religiöse Welt des Mittelalters
völlig auf den Kopf. Den Papst, den Vertreter Gottes auf Erden, herauszufordern
und der falschen Lehre zu bezichtigen, war eine Ungeheuerlichkeit von solchem
Ausmaß, wie wir es uns heute kaum noch vorstellen können.
In Württemberg wurde die Reformation 1537 durch Herzog Ulrich
eingeführt.
Danach wurden die Bastionen der katholischen Lehre, die Klöster, aufgehoben,
die lateinische Messe durch einen neuen Gottesdienst in der Landessprache
ersetzt, was die alten liturgische Gesänge überflüssig machte. Die Notenbücher,
in denen die Handschriften verwahrt wurden, hatten plötzlich keine Funktion
mehr, galten als „papistisch“, was sie dem Untergang weihte. Da aber das
Pergament, auf dem die Choräle notiert waren, zu wertvoll war, wurde es nicht
einfach weggeworfen, sondern als Bucheinbände wiederverwendet. Tausende
Choralhandschriften wurden zerschnitten, um fortan als Cover von Buchdeckeln
oder zur Verstärkung der Buchrücken zu dienen. So haben sie über Jahrhunderte
überlebt und blieben uns bis heute erhalten.
Der Tübinger Musikwissenschaftler Stefan Morent hat solche
Noten-Einbandblätter in den Archiven der Region aufgespürt und ihre
Funktion und Stellung im katholischen Gottesdienst des Mittelalters
rekonstruiert. Dann hat er die Choral-Fragmente mit seinem Ensemble Ordo
Virtutum einstudiert und jetzt auf einer CD im Surround-Sound vorgelegt (Titel:
Fragmentum; Label: Cornetto)
Dabei ist das sechsköpfige Vokalensemble nicht
einfach ins nächstbeste Tonstudio gegangen, sondern hat die Einspielungen mit
Hilfe des Südwestrundfunks und seiner exzellenten Tontechniker und mit der Unterstützung
und Förderung durch die Organisation 'Staatliche Schlösser & Gärten
Baden-Württemberg' an den Orten gemacht, von wo die Notenhandschriften
tatsächlich herstammen: in den ehemaligen Klöstern von Bebenhausen, Hirsau,
Alpirsbach, Maulbronn und Salem. Die uralten Gemäuer geben den auf- und
abschwellenden Gesangsmelodien eine besondere Aura, die durch den
Surround-Sound eindrucksvoll eingefangen wird. Die einstimmigen Gesänge hatten
im Gottesdienst die Funktion, die Gläubigen in eine empfängliche Stimmung zu
versetzen, um die religiösen Inhalte verinnerlichen zu können. Es ist deshalb
ein Gesang, der in seiner Ebenmäßigkeit und Ausgeglichenheit eher einer
Meditation gleicht. Versunken in die liturgischen Vokalklänge, entsteht aus den
verschollenen und jetzt wiederentdeckten Notenfragmenten eine wunderbar ruhige
Musik, die uns in ein Zeitalter zurückführt, das mehr als ein halbes
Jahrtausend zurückliegt und das von der Hektik und Unrast der Moderne noch
unberührt war.
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